Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Römerbrief

Brief des Paulus an die Römer

Röm 9,22-29

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Röm 9,22-29



Übersetzung


Röm 9,22-29:22 Wenn aber (der) Gott in dem Willen, [seinen] Zorn zu erweisen und seine Macht kundzutun, mit großer Geduld zum Untergang bestimmte Zorngefäße ertrug, 23 [dann] auch damit er den Reichtum seiner Herrlichkeit kundtue über Barmherzigkeitsgefäße, die er zuvor zur Herrlichkeit bereitet hat. 24 Welche er auch berufen hat - uns, nicht nur aus [den] Juden, sondern auch aus [den] Heiden, 25 wie er auch im [Buche] Hosea sagt: „Ich werde das Nicht-mein-Volk ‘mein Volk’ rufen, und die Nicht-Geliebte ‘Geliebte’. 26 Und es wird geschehen: An dem Ort, an dem ihnen gesagt wurde ‘Ihr seid nicht mein Volk’, dort werden sie ‘Kinder des lebendigen Gottes’ gerufen werden.“ 27 Jesaja aber ruft über Israel aus: „[Auch] wenn die Zahl der Kinder Israels wie der Sand am Meer ist, wird [doch nur] der Rest gerettet werden. 28 Ein Wort nämlich wird [der] Herr, vollendend und verkürzend, auf der Erde ausführen.“ 29 Und wie Jesaja vorhergesagt hat: „Wenn nicht [der] Herr Zebaoth für uns Samen übrig gelassen hätte, wären wir wie Sodom geworden und hätten Gomorra geglichen.“



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V. 22


Beobachtungen: In V. 19-21 hat Paulus Gott mit einem Töpfer und die Menschen mit Tongefäßen verglichen. Er hat herausgestellt, dass der Töpfer aus gänzlich freier Entscheidung heraus Tongefäße für einen edlen oder auch Tongefäße für einen unedlen Zweck machen kann, ohne sich dafür gegenüber den Tongefäßen rechtfertigen zu müssen. Diese völlig freie Entscheidung ist die göttliche Vorausbestimmung des Menschen, wobei es sich bei den Tongefäßen für einen edlen Zweck um die Gläubigen und bei den Tongefäßen für einen unedlen Zweck um die Ungläubigen handelt.

9,22-29 gehört zu dem Thema „Israel und das Heil in Jesus Christus“, das den Abschnitt 9,1-11,36 umfasst. Paulus kommt auf dieses Thema aufgrund des beklagenswerten Zustands zu sprechen, dass die Israeliten zwar das von Gott erwählte Volk sind, aber nicht Jesus Christus, den in den heiligen Schriften (= hebräische Bibel; AT) verheißenen Messias anerkennen. Aufgrund dieser Verwerfung des Messias glauben sie auch nicht an das mit dessen Kreuzigung und Auferweckung von den Toten verbundene Heil. Folglich haben sie auch nicht am Heil Anteil, das ihnen eigentlich von der Bestimmung als „Kinder Gottes“ zukommen sollte.


Drastischer als die Formulierung „Gefäße für einen unedlen Zweck“ ist der Ausdruck „Zorngefäße“. Vermutlich handelt es sich dabei um Gefäße, die dazu bestimmt sind, Gottes Zorn zu spüren zu bekommen. Auf jeden Fall sind sie für den Untergang bestimmt. Die Zorngefäße werden den Barmherzigkeitsgefäßen gegenübergestellt (vgl. V. 23). Folglich kann es sich nicht um alle Menschen handeln, sondern nur um eine Teilgruppe, die nicht an Gottes Barmherzigkeit Anteil hat. Warum Gott so zornig ist, legt Paulus nicht dar.


Der griechische Begriff „apôleia“ („Verderben/Untergang“) dürfte über den leiblichen Tod hinausgehend auch den existenziellen Tod meinen. Dieser Tod dürfte ewig sein und den gesamten Menschen mit Leib und Seele umfassen. Dass der Untergang in irgendeiner Form eingeschränkt ist, lässt sich nicht erkennen.


Aus V. 22 ist eine Spannung herauszulesen: Einerseits ist Gott willens, seinen Zorn zu erweisen und seine Macht kundzutun, andererseits ertrug er die zum Untergang bestimmten Zorngefäße mit großer Geduld.

Unklar ist, ob Gott alle Zorngefäße mit großer Geduld ertrug oder nur einen Teil. Paulus schreibt nämlich „Zorngefäße“, nicht jedoch „alle Zorngefäße“ oder „die Zorngefäße“. Es ist also nicht betont, dass die Gesamtheit der Zorngefäße gemeint ist.

Desweiteren ist unklar, was mit dem Ertragen gemeint ist. Bei der Verbform „ênenken“ („er hat ertragen“) handelt es sich um einen Aorist. Es ist also anzunehmen, dass es sich um ein einmaliges, in der Vergangenheit abgeschlossenes Geschehen handelt. Ein solches einmaliges, in der Vergangenheit abgeschlossenes Geschehen ist der stellvertretende Kreuzestod und die folgende Auferweckung Jesu Christi. Allerdings führt dieses Geschehen zur Rettung vor dem Untergang, was der Bestimmung der Zorngefäße zuwiderlaufen würde. Wenn die Bestimmung auch tatsächlich erfüllt werden soll, kann das Ertragen nur zeitlich begrenzt sein. Ein solch zeitlich begrenztes Ertragen würde dem Umgang mit dem Pharao entsprechen, den Paulus nur wenige Zeilen zuvor (vgl. Röm 9,17) angesprochen hat. Das Herz des Pharaos war verhärtet, weshalb er sich dem Gott JHWH und seinem Heilshandeln am Volk Israel entgegenstellte. Zunächst wurde er nicht von Gott dahingerafft, sondern verschont. Dabei wurde jedoch sein Land Ägypten von Plagen heimgesucht und schließlich kam der Pharao mit seinem Heer bei der Verfolgung der Israeliten doch noch um (vgl. Ex 7,14-15,21). Das Ergehen der Zorngefäße könnte also demjenigen des Pharaos gleichen: Zunächst werden sie noch von Gott verschont, doch dann tut Gott seine ganze Macht kund und lässt sie seinen Zorn spüren. Die Zorngefäße wären dann also gemacht, um letztendlich zerschlagen zu werden. Eine solche Deutung würde jedoch das Ertragen als eine lange Zeitdauer erscheinen lassen, die gegenwärtig noch anhält. Im Hinblick auf diese wäre eigentlich statt eines Aorists eher ein Imperfekt oder ein Präsens zu erwarten. Allerdings ist zu bedenken, dass auch ein lange anhaltender Zustand als historische Einheit gesehen werden kann (komplexiver Aorist). Auch kann sich der Aorist auf ein Ereignis, das für den Schreibenden von besonderer Bedeutung ist (konstatierender Aorist), oder auf eine auf die Gegenwart wirkende Erfahrung beziehen (gnomischer Aorist, v. a. bei Lebensweisheiten benutzt). Schließlich bleibt noch die Möglichkeit, dass sich das Ertragen auf ein anderes historisches Ereignis als die Kreuzigung und Auferweckung Jesu bezieht. Doch um welches Ereignis sollte es sich handeln?


Das Partizip „katêrtismena“ („sie haben sich bestimmt“ oder „sie sind bestimmt“) kann ein Medium oder auch ein Passiv sein. In ersterem Fall hätten sich die Zorngefäße selbst zum Untergang bestimmt, was ihre eigene Schuld deutlich lassen würde; in letzterem Fall wären sie von Gott zum Untergang bestimmt worden. Die Deutung als Passiv ist zu bevorzugen, weil sie sich besser in den Zusammenhang 9,6-21 einfügt, wo Paulus die göttliche Vorherbestimmung der Menschen thematisiert hat.


Weiterführende Literatur: Bei der Frage nach Israel und Kirche in Röm 9 bestehe laut M. Rese 1988, 208-217 das Hauptproblem darin, überhaupt zu erkennen, was Paulus in diesem Kapitel sagt, nicht aber darin, welche Rolle die Aussagen von Röm 9 in irgendwelchen Diskussionen spielen. Deshalb werde er im Folgenden zunächst ausführlicher auf Schwierigkeiten in Gedankenführung und Ausdruck von Röm 9 eingehen, dann kurz nach dem Aufbau und dem Thema von Röm 9 fragen und schließlich einiges zu jenen Aussagen in Röm 9 sagen, die Israel und der Kirche gelten. Grundsätzlich zu Israel und der Kirche: Über Israel sage Paulus in Röm 9 viel, über die Kirche, genauer die Christen, wenig, über das Verhältnis beider zueinander nichts. Aus den Aussagen folge: Was immer noch im Folgenden über Israel und Kirche ausgesagt werden mag, nach den Aussagen in Röm 9 könne dabei die Tatsache nicht außer acht gelassen werden, dass auch das ungläubige Israel immer noch von Gott berufen bleibt.


W. R. Stegner 1984, 37-52 vertritt die Meinung, dass es sich bei dem Abschnitt Röm 9,6-29 aufgrund von Form und Inhalt um einen Midrasch handele.


Mit den rhetorischen Spannungsmomenten in Röm 9-11 befasst sich C. H. Cosgrove 1996, 271-287, der sein Augenmerk insbesondere den rhetorischen Fragen widmet. Dabei kommt er auch auf 9,22ff. zu sprechen, wobei er den hypothetischen Charakter („was wenn…?“) der Verse unterstreicht. Mittels einer provokanten Frage wolle Paulus die Zuhörer zum Nachdenken anregen.


Das Verhältnis zwischen talmudischen und patristischen Studien, die sich zwar mehr oder weniger mit der gleichen Zeitspanne befassten, darüber hinaus jedoch gegenwärtig wenig gemeinsam hätten, und die Auslegung von Röm 9 seitens der griechischen Kirchenväter hat M. Parmentier 1989, 139-154 zum Thema.


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V. 23


Beobachtungen: V. 23 schließt holprig an V. 22 an, weil ein beide Verse verbindendes Tätigkeitswort fehlt. Vermutlich ist zu Beginn von V. 23 gedanklich „dann tat er dies“ zu ergänzen. Der Vers enthält demnach den Grund für das in V. 22 dargelegte Verhalten Gottes.


Gott erweist nicht nur seinen Zorn und tut seine Macht kund, sondern er tut auch den Reichtum seiner Herrlichkeit kund. So wie Gott die Zorngefäße zum Untergang bestimmt hat, so hat er die Barmherzigkeitsgefäße zur Herrlichkeit bereitet. Der Begriff „Herrlichkeit“ („doxa“) ist der Gegenbegriff zu „Untergang/Verderben“ („apôleia“). Er enthält die Aspekte des ewigen Lebens und der Nähe zu Gott, an dessen Ewigkeit und Ruhm die Barmherzigkeitsgefäße Anteil haben werden. Das ewige Leben setzt die Sündenvergebung aufgrund des stellvertretenden Kreuzestodes und die Überwindung des Todes aufgrund der Auferweckung Jesu von den Toten voraus.


Die Barmherzigkeitsgefäße dürften Gefäße sein, denen Barmherzigkeit zuteil wird. Es handelt sich also um eine Menschengruppe, die nicht wie die Zorngefäße den Untergang zu erwarten hat, sondern die Herrlichkeit. Der Begriff „Barmherzigkeit“ macht jedoch deutlich, dass die Herrlichkeit nicht verdient ist, sondern von Gott barmherzig gewährt wird. Ohne Gottes Barmherzigkeit hätten ausnahmslos alle Menschen den Untergang zu erwarten.


Die Vorausbestimmung ist der erste Schritt eines Heilsschemas, das Paulus in Röm 8,30 dargelegt hat: Vorausbestimmung, Berufung, Rechtfertigung, Verherrlichung. Die Herrlichkeit ist das Ergebnis des letzten Schrittes, der Verherrlichung.


Es stellt sich die Frage, inwiefern das Ertragen der Zorngefäße dem Kundtun des Reichtums der Herrlichkeit Gottes förderlich ist. Meint Paulus, dass durch die Verzögerung des Untergangs der nicht christusgläubigen Israeliten die Zahl der Menschen, die zum christlichen Glauben berufen und somit auch gerechtfertigt und letztendlich verherrlicht werden, steigt? Die Gleichung könnte lauten: Je mehr Menschen gerettet und verherrlicht werden, desto mehr tut Gott den Reichtum seiner Herrlichkeit über Barmherzigkeitsgefäße kund.


Weiterführende Literatur: A. T. Hanson 1981, 433-443 vertritt die Ansicht, dass der griechische Begriff „skeuê“ in V. 22-23 nicht nur – der Mehrheit der Übersetzungen entsprechend – mit „Gefäß“ wiedergegeben werden könne, sondern auch mit „Instrument“. Als „Instrumente“ würden die „Gefäße“ dazu gebraucht, Gottes Zorn und Gottes Barmherzigkeit kundzutun. Der Begriff „skeuê“ sei also doppeldeutig.


M. Theobald 2009, 135-177 beginnt mit der Frage nach der Einheitlichkeit des Gottesbildes in Röm 9-11, geht dann auf die „autobiographischen“ Passagen in Röm 9-11 als Orientierungsmarken der Argumentation ein, und schließt mit einem Hinweis auf das zentrale Leitmotiv vom „sich erbarmenden Gott“. Das ungeschuldete Erbarmen, welches Paulus in seiner Berufung erfahren hat, das erhoffe er nun auch für sein eigenes Volk.


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V. 24


Beobachtungen: V. 24 nennt den zweiten Schritt des Heilsschemas, die Berufung. Die zur Herrlichkeit Vorausbestimmten sind auch berufen, wobei sicherlich an die Berufung zum Glauben an das mit Jesus Christus verbundene Heilsgeschehen, den Kreuzestod und die Auferstehung, gedacht ist. Das Heilsgeschehen gilt zwar allen Menschen, doch sind nicht alle Menschen von Gott dazu berufen, an das Heilsgeschehen zu glauben. Folglich werden auch nicht alle Menschen gerechtfertigt und haben somit Anteil am Heil.


Aus V. 24 geht - in Verbindung mit V. 23 - hervor, dass es sich bei den Barmherzigkeitsgefäßen um Christen handelt, bei den Zorngefäßen um Nichtchristen. Die Christen, zu denen auch Paulus und die Adressaten des Briefes gehören, setzen sich aus Heiden- und Judenchristen zusammen.


Weiterführende Literatur: Zur Prädestination und Auswahl aus Gnade (Röm 9,6-29; 11,1-6) siehe D. Zeller 1990, 172-174.


T. R. Schreiner 1993, 25-40 geht der Schlüssigkeit von zwei Einwänden gegen die calvinistische Annahme, dass Gott nicht nur den christlichen Glauben von Menschen vorhersehe, sondern Menschen sogar zum Glauben vorherbestimme, nach. Die beiden Einwände lauten: a) Röm 9 handele nicht von der Errettung, sondern von der historischen Bestimmung Israels und von dessen Rolle in der irdischen Geschichte. b) Selbst wenn Röm 9 von der Errettung handeln würde, dann nicht von der Errettung von Individuen, sondern von Gruppen. T. R. Schreiner hält beide Einwände für nicht stichhaltig: Ersterer Einwand widerspreche der Tatsache, dass der gesamte Zusammenhang Röm 9-11 von der Errettung Israels handele. Letzterer Einwand übersehe, dass die Errettung von Individuen und die Errettung von Gruppen nicht von einander zu trennen sind.


Mit der Auslegung von 9,21-29 befasst sich H. Hübner 1984, 49-59. Entscheidend sei, dass in V. 24 im Rahmen von Röm 9-11 zum ersten Mal die Heidenchristen genannt werden. Es komme also nun jene Gruppe in den Blick der Argumentation, deren Existenz als Majorität in der Kirche die Minorität der Judenchristen innerhalb von Judentum und Kirche als ein so bedrängendes Problem erscheinen lässt. Gott habe also die vielen Heidenchristen berufen – mögen sie innerhalb des Heidentums natürlich auch eine Minorität ausmachen – und nicht die Majorität der Juden. Die unbestreitbare Tatsache, dass die Judenchristen nur diese Minorität innerhalb der Kirche darstellen, sei somit Werk des berufenden Gottes. Wahrscheinlich sei dies auch für Paulus, der hier theologisiere, ein schmerzlicher Sachverhalt.


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V. 25/26


Beobachtungen: Dass sich die Barmherzigkeitsgefäße aus Heiden- und Judenchristen zusammensetzen, ist aus zweierlei Gründen erstaunlich: Erstens ist nach jüdischem Verständnis das gesamte Volk Israel vorrangiger Empfänger des Heils. Der Gedanke, dass das Heil nur einem Teil des Volkes zukommen könnte, ist daher anstößig. Zweitens kommt das von dem Gott Israels gewährte Heil aus jüdischer Sicht ausschließlich - oder doch zumindest vorrangig - den Angehörigen des Gottesvolkes zugute, nicht jedoch den Angehörigen der Fremdvölker. Daher erregt auch der Gedanke, dass Heiden, die zum christlichen Glauben gekommen sind, (neben den Judenchristen) zu den vorrangigen Heilsempfängern des Gottes Israels gehören sollten, Anstoß. Aufgrund der Anstößigkeit seiner Behauptungen muss Paulus deren Richtigkeit mittels Zitaten aus den Schriften, die den Juden heilig sind (= hebräische Bibel; AT), belegen. Das tut er im Folgenden, wobei sich die V. 25-26 auf die Ausweitung des Heils auf die zum Christentum bekehrten ehemaligen Heiden beziehen, die V. 27-29 auf die Einschränkung des Heils auf nur einen Teil des Volkes Israel, nämlich den christusgläubigen.


Paulus kennzeichnet seine Schriftzitate deutlich. Das erste, das genau genommen aus zwei Zitaten zusammengesetzt ist, stammt aus dem Buch Hosea. Zitiert werden Hos 2,25 und 2,1LXX. Das Zitat von 2,25 weicht stark von der Septuaginta, der für Paulus maßgeblichen griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, ab, das Zitat von 2,1 folgt dagegen der Septuaginta im Wortlaut.


Die beiden zusammengefügten Hosea-Zitate werden durch das Verb „kaleô“ („rufen/nennen“) verbunden. Paulus hat dieses Verb aber nur im Hinblick auf 2,1 aus der Septuaginta übernommen, nicht im Hinblick auf 2,25, wo die Septuaginta das Verb „legô“ („sagen“) bietet. Paulus scheint also der Benennung eine große Rolle beizumessen, weil aus ihr das Verhältnis zwischen Gott und dem Volk Israel bzw. zu den Fremdvölkern deutlich wird.

Der Zusammenhang der beiden Zitate aus dem Buch Hosea ist wie folgt: Das Volk Israel ist seinem Gott JHWH untreu geworden und hat sich anderen Göttern zugewandt. Das Volk Israel, das als Gottesvolk aus der Sicht Gottes „mein Volk“ ist, ist zu „Nicht-mein-Volk“ geworden. Mit der verheißenen erneuten Hinwendung zu JHWH wird es wieder „mein Volk“ werden. Der Prophet Hosea stellt diese Abwendung Israels von seinem Gott JHWH bildlich als Ehekrise dar. Israel ist der Ehemann und Israel die Ehefrau. Die Ehefrau geht fremd und wird von Hosea als „Hure“ angeprangert, der gegenüber Gottes Liebe erloschen ist. Die Krise wird jedoch nicht dauerhaft sein, die Ehefrau und der Ehemann werden in Zukunft wieder zueinanderfinden.

Paulus deutet die prophetische Ankündigung auf das Verhältnis Gottes zu seinem Volk Israel und zu den Fremdvölkern, den Heiden. Die Israeliten sind eigentlich Gottesvolk und damit „mein Volk“. Alle anderen Völker sind nicht erwählt und damit aus Sicht Gottes „Nicht-mein-Volk“. Paulus sieht das Gottesvolk nicht an ein bestimmtes Volk gebunden, sondern an den Vierschritt Vorausbestimmung - Berufung - Rechtfertigung - Verherrlichung, der den Weg zum Glauben an das mit Jesus Christus verbundene Heilsgeschehen und das daraus resultierende Heil beschreibt. Das Verb „kaleô“ bezieht sich auf den zweiten Schritt, ist also nicht nur als „nennen“ zu deuten, sondern auch als „rufen“ oder „berufen“. Wenn die zum Glauben gekommenen Heiden von nun an „mein Volk“ genannt werden, dann werden sie in den Heilsstand gerufen bzw. berufen. Im Bild der Ehe ausgedrückt heißt das: Sie, die bisher nicht Gottes „Geliebte“ waren, werden zu seiner „Geliebten“. Das Volk Israel dagegen, das sich dem Glauben an den verheißenen Messias Jesus Christus verweigert, verliert seinen besonderen Heilsstatus.


Paulus verweist auf einen ganz konkreten Ort: „an dem Ort ..., dort...“ („en tô topô ... ou...“). Unklar ist jedoch, welcher Ort gemeint ist. Es kann die ganze Erde als Ort, an dem die Menschen samt den Israeliten leben, gemeint sein, aber auch ein bestimmter Ort auf der Erde. Am ehesten wäre an das Land Israel/Juda oder an die Stadt Jerusalem mit dem Tempel, dem Zentrum der israelitischen Frömmigkeit, zu denken. Gegen diese Annahme spricht jedoch, dass es sich bei den Angeredeten - gemäß dem Zusammenhang des Römerbriefes - um Heiden handelt, die zum Christentum übergetreten sind. Da Heiden zu Israel/Juda oder Jerusalem keinerlei Beziehung haben, wird ihnen sicherlich auch nicht dort „Ihr seid nicht mein Volk“ gesagt worden sein. Es müsste sich schon um einen Ort handeln, an dem die inzwischen zu Christen gewordenen Heiden wohnhaft waren bzw. sind. Es wäre am ehesten an Rom zu denken. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Paulus zitiert hat, ohne der Formulierung „an dem Ort..., dort...“ besondere Bedeutung beizumessen. Ohne besonderen lokalen Bezug kann sie auch einfach als „anstatt“ gedeutet werden.


Bei dem Substantiv „hyioi“ handelt es sich um eine maskuline Form, die genau genommen mit „Söhne“ zu übersetzen ist. Hier sind jedoch vermutlich auch die „Töchter“ eingeschlossen, was für die Übersetzung „Töchter und Söhne“ oder „Kinder“ spricht. Dass die „Töchter“ unkenntlich bleiben, liegt an der männerzentrierten Sprache, die gemischtgeschlechtliche Gruppen als reine Männergruppen erscheinen lässt.

Die Formulierung „Kinder des lebendigen Gottes“ verweist darauf, dass Gott nicht nur ewiges Leben ist, sondern auch Leben bzw. ewiges Leben schafft. Die „Kinder“ haben aufgrund ihrer besonderen Beziehung zu dem „lebendigen Gott“ Anteil am Leben bzw. ewigen Leben.


Weiterführende Literatur: Laut C. Burchard 1985, 53 bemerkten viele bei Röm 11,2 „en Êlia“, dass das „im Eliaabschnitt (der Königsbücher)“ bedeute oder so ähnlich. Philo und die Rabbinen zitierten manchmal Abschnitte aus biblischen Büchern auch mit „in“ und einem Stichwort, Griechen ihren Homer. Verwandt sei vielleicht Mk 12,26par. „epi tou (tês) batou“ „bei dem Dornbusch“. Merkwürdigerweise habe C. Burchard bisher niemanden gefunden, der sich fragt, ob man Röm 9,25 „en tô Hôsêe“ nicht analog verstehen sollte; immerhin benutze Paulus „en“ mit einem Zitatnachweis sonst nicht mehr. Vielmehr lese man öfter, das hieße „im (Buch des) Hosea“ oder „bei Hosea“, was zumindest für unbefangene Leser dasselbe sei. Sprachlich gehe das. Aber hat Paulus ein Hoseabuch gekannt? Vermutlich doch nur das Zwölfprophetenbuch mit dem Hoseateil am Anfang (auch wenn er es nie als solches nenne, anders Apg 7,42, und auch sonst keinen kleinen Propheten mit Namen. Also drücke er wohl mit „en tô Hôsêe“ eben dieses aus.


G. Baldanza 1997, 237-248 geht der Frage nach, was Paulus dazu bewegt, Hosea zu zitieren. Ergebnis: Die metaphorische Hochzeit drücke in besonderem Maße den Vollzug der Einheit des Volkes in Christus aus und werfe Licht auf das Verhältnis tiefer und inniger Gemeinschaft von Christus und seiner Kirche. Tatsächlich sei die Metapher im Alten und im Neuen Testament begründet. Von ihr könne daher die theologische Reflexion über die Ekklesiologie bei der Erläuterung des Wesens und der Sendung der Kirche nicht absehen.


W. E. Glenny 1995, 42-59 führt die drei Deutungen von V.25-26 seitens der Dispensationalisten auf: a) In V. 25-26 werde ein atl. Prinzip auf die Kirche im NT angewendet. V. 25-26 und die zitierten Verse des Hoseabuches seien als Analogie zu verstehen. b) Die V. 25-26 seien auf das ethnisch-nationale Israel zu beziehen und als direkte Erfüllung der atl. Prophezeiung zu verstehen. c) Die V. 25-26 sprächen von einer anfänglichen oder teilweisen Erfüllung der Prophezeiung des Propheten Hosea, was die letztendliche, vollständige Erfüllung in der Zukunft nicht ausschließe (typologisch-prophetischer Ansatz). W. E. Glenny begründet, warum er letztere Deutung für richtig hält.


J. P. Tanner 2005, 95-110 geht den Fragen nach, was die Übernahme von Versen aus Hos 1-2 in Röm 9 zum Verständnis von Israel beiträgt und was es bedeutet „Volk Gottes“ zu sein. Ergebnis: Die Israel im AT verheißenen Segnungen beträfen das „wahre Israel“ des Glaubens, den gläubigen „Rest“, nicht jedoch das ethnische Israel in seinem Unglauben. Paulus ziehe die Hoseaverse nicht nur zum Zwecke der Analogie oder Anwendung eines Prinzips heran, sondern beziehe sie auf die Einbeziehung von Heidenchristen in das Volk Gottes, zu dem auch der „Rest“ Israels, die Judenchristen, gehörten. Die im NT geschilderten Ereignisse erlaubten es, die Bedeutung der Hoseaverse in ihrer ganzen Fülle zu erkennen.


Mit der Funktion der Schriftzitate in Röm 9,19-29 befasst sich B. Kowalski 2009, 713-732. Es könne die These aufgestellt werden, dass die Häufigkeit und Dichte der atl. Zitate im Römerbrief sich dadurch erklären lassen könnte, dass Paulus an eine ihm unbekannte, nicht von ihm gegründete Gemeinde schreibt. Es scheine fast, als ob die primären Adressaten (= die römische Gemeinde) zugunsten der atl. Schriften als Dialogpartner in den Hintergrund treten. Schriftzitate kämen verstärkt dann zum Einsatz, wenn Paulus sich veranlasst sieht, seine eigene Position theologisch zu klären. Zudem sei die Schriftverwendung immer dann besonders dicht, wenn Paulus sich in Widerspruch zur bisherigen jüdischen Schriftauslegung begibt (im Kontext des Gesetzes und der Erwählung Israels).


J.-N. Aletti 2002, 153-174 befasst sich mit der paulinischen Ekklesiologie. Er skizziert zunächst die Wandlung der Ekklesiologie von den paulinischen Briefen über die deuteropaulinischen Briefe bis hin zu den tritopaulinischen Briefen, wie sie gemeinhin angenommen werde: Demnach basiere die paulinische Ekklesiologie auf der Vorstellung des „Gottesvolkes“, und zwar wegen der Notwendigkeit, die Christen – insbesondere die Heidenchristen – in einen Bezug zu den Verheißungen und dem Bund und damit in einen Bezug zum Volk Israel zu setzen. In den Deuteropaulinen (Kolosser- und Epheserbrief) seien dagegen die Metaphern vom Kopf und vom Leib bestimmend. Hier sei eine drastische Christologisierung der paulinischen Ekklesiologie festzustellen. In den Pastoralbriefen – so werde angenommen – basiere das christologische Modell auf der Vorstellung des „Hauses Gottes“, die vom „Haus“ im sozialen Sinn entlehnt sei. J.-N. Aletti macht anhand von 2 Kor 6,16b-18 und Röm 9,24-26 deutlich, dass die „Gottesvolk“-Vorstellung für die paulinische Ekklesiologie nicht so grundlegend sei, wie gewöhnlich angenommen. So hänge in ersterem Text die Adoptionsvorstellung nicht von der „Gottesvolk“-Vorstellung ab. In letzterem Text würden die Christen zwar mit dem Titel „Gottesvolk“ versehen, doch habe die „Gottesvolk“-Vorstellung keine entscheidende argumentative Funktion.


Gemäß G. Baldanza 2002, 411-429 drücke die Ehemetapher in 7,1-6 explizit aus, dass die Christen dem Gesetz sterben, und implizit, dass das Gesetz nicht aufgehoben ist. Weil sie auch in 9,23-26 benutzt wird, fragt G. Baldanza, ob es zwischen 7,1-6 und 9,23-26 einen Bezug gibt. Ergebnis: Die Ehemetapher sei nicht auf die gegenwärtige Beziehung zu Christus begrenzt. Das nicht bekehrte Volk Israel sei weiterhin die erwählte Braut Gottes, doch sei es dazu berufen, einem neuen Bräutigam zu gehören, nämlich Christus.


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V. 27


Beobachtungen: Auch das von Paulus deutlich gekennzeichnete erste Jesaja-Zitat beruht auf mehreren Schriftstellen, nämlich Jes 10,22-23 (verbunden mit Hos 2,1LXX) und 28,22. Es besagt, dass nicht dem ganzen Volk Israel Heil zukommen wird, sondern nur einem „Rest“ (Jes 10,22LXX: „kataleimma“; Röm 9,27: „hypoleimma“). Dass es einen „Rest“ gibt, bedeutet aber auch, dass nicht das ganze von nun an „Nicht-mein-Volk“ genannte Volk Israel zum Untergang bestimmt ist. Dem „Rest“, also den Israeliten, die an den Messias Jesus Christus glauben („Judenchristen“), wird Rettung und Herrlichkeit zukommen. In Jes 10,22LXX ist dagegen mit dem „Rest“ der Teil des Volkes Israel gemeint, der die Bedrohung durch die Assyrer übersteht.


Das Zitat bezeichnet Paulus als „Rufen“ Jesajas. Das griechische Verb „krazô“ („rufen/schreien“) ist ein Schallwort, das dem Krächzen des Raben („krah“) nachgebildet ist. Es meint also weniger das Rufen mit klare, lauter Stimme als vielmehr um eine urwüchsige Äußerung von existenziellem Charakter.


Die Bezeichnung „Kinder Israel“ kennzeichnet die Israeliten als Nachkommen Israels, d. h. Jakobs. Kinder Israels im eigentlichen Sinn sind die Israeliten jedoch nicht.

Wenn die Zahl der „Kinder Israels“ wie Sand am Meer ist, so ist damit die große Zahl gemeint. Wie die Sandkörner am Meer sind die Israeliten unzählbar. Es wird aber nur ein Teil der Vielzahl Israeliten gerettet werden.


Weiterführende Literatur: Auch wenn Paulus grundsätzlich die als „Septuaginta“ bezeichnete griechische Übersetzung der Schrift voraussetze, habe es doch laut D.-A. Koch 1986, 57-101 immer Schwierigkeiten bereitet, sämtliche Zitate von dieser Übersetzung herzuleiten. Mehrere Jesaja-Zitate und die beiden Hiob-Zitate des Paulus seien nicht der Septuaginta entnommen; sie stünden dem masoretischen Text wesentlich näher und zeigten zum Teil auch deutliche Übereinstimmungen mit den (späteren!) Übersetzungen von Aquila, Symmachus und Theodotion. Dies weise zugleich darauf hin, dass Paulus hier nicht eigenständig auf den hebräischen Wortlaut der Schrift zurückgreift, sondern an diesen Stellen eine dem hebräischen Text angenäherte Vorlage verwendet. D.-A. Koch geht auf die einzelnen Zitate ein und widmet sich auf S. 82-83 auch dem Zitat von Jes 10,22-23 in Röm 9,27-28.


H. Hübner 1984, 58-60 legt mit Blick auf V. 26-29 bezüglich der Frage, ob Paulus die Zitate als formale Schriftzitate mit formaler Schriftautorität zitiert, dar, dass eine differenzierte Antwort gegeben werden müsse: Unbestreitbar sei Paulus von der Schriftgemäßheit seiner Argumentation überzeugt und verweise deshalb in 9,13.17.25 ausdrücklich auf die Schrift bzw. das Geschrieben-Sein. Sein Grundanliegen sei aber dies: Er berufe sich auf Gott, der autoritativ, nämlich Erwählung setzend gesprochen habe. Konstitutiv für die Zitate sei, dass in ihnen an entscheidenden Stellen Gott in der Ich-Form spricht, wie wir dies in solcher Massierung im ganzen übrigen NT nicht mehr fänden. Wo aber dieses Ich nicht direkt ausgesprochen ist, da sei zumindest von Gottes Aktivität, z. T. im bezeichnenden passivum divinum, die Rede.


Der Zielpunkt, auf den in Röm 9,26-29 alle theologischen Überlegungen des Paulus hinlaufen, sei nach E. Seitz 2001, 56-82 die Glaubensgewissheit, dass die Christen der gegenwärtigen Gemeinden durch den Glauben an Christus vor Gott gerechtfertigt und des ewigen Heils teilhaftig sind. Und dann beweise Paulus dieses präsentische Faktum in den V. 25-29 mit atl. Zitaten als Erfüllung prophetischer Worte, mehr noch, als Abschluss und Ziel eines langen heilsgeschichtlichen Prozesses. Zu dieser Funktion der atl. Stellen scheine aber die Jesajaprophezeiung V. 27-28 als Gerichtswort über Israel im Widerspruch zu stehen: das sei die fast einhellige Meinung der Forschung. E. Seitz bezweifelt diese angebliche Inkonsequenz von Paulus‘ atl. Zeugnissen. Er sieht das Schwergewicht der Zitate nicht auf dem Gericht über Israel, sondern auf der Erwählung der Judenchristen: Die Progression des Textablaufs, die Kohärenz und zusätzlich die chiastische Verklammerung machten es evident, dass auch in V. 27-29, wie in V. 25-26 für die Heidenchristen, die Prophezeiungen des Jesaja als Schriftbeweise für die Erwählung der Judenchristen stehen müssen. Die Berufung/Erwählung der Judenchristen sei als Erfüllung von Gottes Verheißung an Israel zu verstehen.


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V. 28


Beobachtungen: Die Formulierung „logon poieô“ ist als „ein Wort in die Tat umsetzen“ zu verstehen. V. 28 bekräftigt also die tatsächliche Umsetzung der vorhergehenden Aussage, dass aus der Vielzahl Israeliten nur ein „Rest“ gerettet wird. Diese Aussage ist vermutlich mit „ein Wort“ gemeint.


Fraglich ist, was das Objekt der beiden Partizipien „syntelôn“ („vollendend“) und „syntemnôn“ („verkürzend“) ist. Zunächst ist an das unmittelbar vorausgehende „ein Wort“ als Objekt zu denken. Dann würde „ein Wort“ vollendet und verkürzt. Doch was bedeutet dann „verkürzen“? Die nahe liegendste Möglichkeit ist, dass „ein Wort“ nur teilweise in die Tat umgesetzt wird. Diese Möglichkeit scheidet jedoch aus, weil ausdrücklich gesagt ist, dass „ein Wort“ vollendet wird, und zwar voll und ganz. Die gänzliche Vollendung geht aus der verstärkenden Vorsilbe „syn-“ hervor („teleô“ = „vollenden“; „synteleô“ = „voll und ganz vollenden“). Die gänzliche Vollendung und die nur teilweise Durchführung widersprechen einander. Folglich ist nicht wahrscheinlich, dass „ein Wort“ das Objekt ist. Wahrscheinlicher ist, dass das Objekt in V. 28 nicht genannt ist. Dann wäre an die „Zeitdauer“ und die in V. 27 genannte „Rettung der Kinder Israels“ zu denken. In ersterem Fall würde die Zeitdauer bis zur Rettung vollendet und verkürzt. Weil die Verkürzung mit einer Verringerung der Zahl der geretteten „Kinder Israels“ einhergeht, könnte „syntelôn kai syntemnôn“ mit „einen kurzen Prozess machen“ übersetzt werden. In letzterem Fall würde die Rettung der „Kinder Israels“ vollendet, die Zahl der Geretteten jedoch verkürzt, d. h. vermindert.


Weiterführende Literatur:


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V. 29


Beobachtungen: Paulus schließt seine Zitatreihe mit einer Vorhersage des Propheten Jesaja ab. Dabei zitiert er wörtlich Jes 1,9LXX.


Sodom und Gomorra sind zwei kanaanäische Städte, die vom Gott JHWH wegen der Schlechtigkeit ihrer Einwohner vernichtet wurden (vgl. Gen 18,16-19,29). Die beiden Städte stehen also für Vernichtung aufgrund von Schlechtigkeit. Jes 1,9 ist auf dem Hintergrund der existenziellen Bedrohung der Israeliten durch die Assyrer zu verstehen, die Jesaja in der Schlechtigkeit eines Großteils der Israeliten begründet sah. Die Assyrer hatten 722 v. Chr. Samaria eingenommen, was das Ende des Nordreiches bedeutete. Die Oberschicht des Nordreiches wurde deportiert. In der Folgezeit wurde von den Assyrern das Südreich Juda erobert und 701 v. Chr. dessen Hauptstadt Jerusalem belagert, jedoch nicht eingenommen. Aufgrund der nicht vollständigen Vernichtung des Nord- und Südreiches kann Jesaja davon sprechen, dass der „Herr Zebaoth“, also der Gott JHWH, „Samen“ übrig gelassen hat. Das Volk Israel besteht also weiter, allerdings geläutert. Es hätte auch anderes ausgehen können, wenn Gott gewollt hätte.

Ähnlich sieht Paulus die Lage der Juden zu seinen Lebzeiten. Nur ein kleiner Teil der Israeliten wird gerettet werden - aber immerhin, das Verderben hätte auch alle Israeliten treffen können, wenn Gott nicht einige Israeliten für die Verherrlichung bestimmt und sie zum Glauben an den Messias Jesus Christus geführt hätte.

„Für uns“ bezieht sich in Jes 1,9 ausschließlich auf die Israeliten. Auch gemäß Röm 9,29 dürfte es sich bei dem übrig gelassenen „Samen“ zunächst einmal um Israeliten handeln, allerdings nur um die christusgläubigen. Auch Paulus gehört zu diesen, denn er ist ein gebürtiger Jude, der zum christlichen Glauben gekommen ist. Unklar ist, ob die Wir-Gruppe auf Judenchristen begrenzt ist oder ob auch die Heidenchristen als Teil des mit Christus verbundenen Gottesvolkes eingeschlossen sind.


Weiterführende Literatur: S. K. Davis 2002, der sich auf S. 117-151 konkret mit Röm 9,(25)30-10,13 befasst, vertritt folgende These: Wenn Paulus negativ über die Tora schrieb, dann habe er nicht die Tora an sich im Blick gehabt, sondern eine ganz bestimmte Art der Vorstellung von Tora, wie sie in einer Vielzahl jüdischer Texte begegne. Es handele sich um die Vorstellung der „ewigen Tora“, die auch „kosmische Tora“ oder „ontologische Tora“ genannt werden könne. Die „ewige Tora“ sei nicht nur ein Offenbarungsbuch, eine Buchsammlung oder eine Sammlung von Gesetzen, sondern vielmehr Gottes kosmische Kraft, ein Wesen, das als Mittler zwischen Gott und der Menschheit diene. Die ewige Tora sei das Wort oder die Weisheit, durch das bzw. die Gott die Welt geschaffen hat und auch das Werkzeug des Jüngsten Gerichts. Paulus widersetze sich dieser Tora-Vorstellung, nicht jedoch der Tora an sich, die er als gottgegeben und gut ansehe. Paulus habe einige Aspekte der frühen jüdischen Tora-Theologie abgelehnt und auf Christus diejenigen Funktionen und Titel übertragen, die er bezüglich der Tora zurückgewiesen habe.


Eine positivere Sicht der Dinge in 9,27-29 als gewöhnlich bietet J. P. Heil 2002, 703-720. Er wolle das Fortschreiten von der vom „Rest“ Israels repräsentierten Hoffnung (V. 27) zu der von dem „Samen“ repräsentierten Hoffnung (V. 29) aufzeigen.



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