Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Der Brief des Paulus an die Philipper

Phil 3,12-16

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Phil 3,12-16



Übersetzung


Phil 3,12-16:12 Nicht, dass ich [es] schon erlangt hätte oder schon vollkommen wäre. Ich jage aber danach, [es] zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin. 13 Geschwister, ich bilde mir (selbst) nicht ein, dass ich [es schon] ergriffen hätte. Eins aber [tue ich]: Was hinter mir ist, vergesse ich, nach dem aber, was vor mir ist, strecke ich mich aus 14 und jage auf [das] Ziel zu, hin zu dem Siegespreis der Berufung (des) Gottes nach oben in Christus Jesus. 15 So viele nun vollkommen sind, lasst uns darauf bedacht sein! Und wenn ihr über etwas anders denkt, wird euch (der) Gott auch darin Offenbarung zuteil werden lassen. 16 Doch: Was wir erreicht haben, an dem lasst uns ausrichten!



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V. 12


Beobachtungen: In 3,4b-6 hat Paulus über seine Vergangenheit als untadeliger, gesetzestreuer Pharisäer geschrieben. In 3,7-11 kam er auf seinen radikalen Wandel der Sicht der Dinge zu sprechen: Jude ist Paulus weiterhin, allerdings legt er seine Heilshoffnung nicht mehr auf das genaue Befolgen sämtlicher in der Tora (= fünf Bücher Mose) niedergeschriebener Satzungen und Gebote, sondern auf Jesus Christus. Ihn will er erkennen, an seinem Leiden Anteil haben und schließlich zur Auferstehung von den Toten gelangen. So konsequent, wie Paulus sein Leben als Pharisäer gelebt hat, lebt er nun sein Leben als Christusgläubiger. Angesichts der Konsequenz kann man nun auf den Gedanken kommen, dass Paulus vollkommen ist und schon erlangt hat, was er anstrebt. In 3,12-16 macht der Apostel deutlich, dass eine solche Schlussfolgerung irrig ist. Er ist demnach ein nach dem Heil Strebender, hat dieses jedoch noch nicht erlangt.


Paulus hat weder ergriffen, noch ist er vollkommen. Paulus schreibt nicht, was er erlangt haben könnte. Könnte er vollständige Erkenntnis erlangt haben? Oder die auf dem Christusglauben basierende Gerechtigkeit? Oder Jesus Christus selbst? Könnte er schon auferstanden sein? Die verschiedenen Möglichkeiten schließen einander nicht aus, so dass auch mehrere oder gar alle zugleich zutreffend sein können.

Das Verb „teleioô“ bedeutet „vollenden“. Paulus ist also noch nicht vollendet. Ist damit gemeint, dass er noch nicht vollkommen ist? Oder ist „nur“ ausgesagt, dass er noch nicht das Ziel erreicht hat? Letzteres ist wahrscheinlicher, weil Paulus nicht zu verlangen scheint, dass ein Christ für seine Rechtfertigung vor Gott vollkommen sein muss.


Das doppelte „schon“ („êdê“) macht deutlich, dass Paulus von der Gegenwart spricht, in der er noch nicht ergriffen hat oder vollkommen ist. In der Zukunft kann Paulus durchaus ergreifen oder vollkommen sein.


Das Verb „diôkô“ („jagen nach“) enthält drei wesentliche Aspekte: Erstens das klare Ziel, das verfolgt wird, zweitens den unbedingten Willen, das Ziel zu erreichen, drittens die Kraftanstrengung, die für die Erreichung des Ziels erforderlich ist und den unbedingten Willen voraussetzt.


Das Verb „katalambanô“ („ergreifen“) weist auf die erstrebte Veränderung hin: Das, was bisher noch nicht erlangt ist, wird ergriffen. Dabei entspricht das Ergreifen dem Ergriffensein von Jesus Christus (= Christus Jesus) und liegt in diesem wohl begründet. Dabei bleibt offen, wie Jesus Christus konkret ergriffen hat. Ist an das „Damaskuserlebnis“ zu denken, bei dem Jesus Christus den Pharisäer Paulus zum Christusglauben berufen hat (vgl. Apg 9,1-18; 22,6-16)?


Weiterführende Literatur: J. B. Polhill 1980, 359-372 legt Phil 3 den Themen- und Versgruppen folgend aus. Dabei setzt er literarische Einheitlichkeit des Philipperbriefes voraus.


Mit der Bedeutung und Funktion von 3,2-21 befasst sich D. A. DeSilva 1994, 27-54. Ergebnis: 3,2-21 bilde mit dem Rest des Philipperbriefes eine literarische Einheit. Es gehe Paulus in dem Abschnitt nicht in erster Linie um seine Widersacher, sondern darum, was man aus dem falschen Verständnis von Christi Tod und Erhöhung seitens der Widersacher lernen kann.


A. Standhartinger 2008, 417-435 hält das Fragment Phil 3,2-21; 4,8-9 für ein Weisheit enthaltendes Testament, das von Paulus in einer Situation höchster Lebensgefahr - möglicherweise der Situation von 2 Kor 1,8-9 - geschrieben und aus dem Gefängnis geschmuggelt worden sei. Es sei sein - noch früher - Abschiedsbrief an eine ihm nahe stehende Gemeinde, in dem er ihnen seine christologisch reflektierte Biographie präsentiere.


D. J. Doughty 1995, 102-122 vertritt die Ansicht, dass sich 3,2-21 weder auf eine konkrete geschichtliche Situation noch auf konkrete Widersacher des Apostels bezögen. Der Abschnitt habe deutero-paulinischen Charakter, die Lehren des Apostels erschienen verallgemeinert: Die Widersacher könnten alle Widersacher der Gemeinde sein. 3,2-21 spiegele das Selbstverständnis einer von der umgebenden Welt grundsätzlich unterschiedenen Gemeinde wider.


Mit der rhetorischen Strategie in 3,3-17 befasst sich F. W. Weidmann 1997, 245-257. Dabei setzt er sich u. a. mit der These von R. T. Fortna 1990, 220-234 auseinander, dass der Philipperbrief ich-zentrierter als alle anderen paulinischen Briefe sei, denn der Heidenapostel entfalte darin seine Theologie aus der Situation des eigenen drohenden Todes und des eigenen Standes vor Gott und der Welt heraus.


Zur Christologie im Philipperbrief und insbesondere in Phil 3 siehe J. Reumann 1991, 131-140.


E. L. Babinsky 1995, 70-72 meint, dass uns die V. 7-15 daran erinnerten, dass wir wegen der Bedeutung Christi für uns zu Christus gehörten. Wegen Christi Anspruch auf uns seien wir dazu befreit, das schwierige und abenteuerliche Unternehmen auf uns zu nehmen, zu erkennen und wie Christus zu werden, so dass wir für das Leben der Welt gemeinsam zum Leib Christi werden. Wir hätten einen pendelnden Lebensrhythmus mit Gott, in Gott.


J. Thomas 1983, 340-349 sieht in Phil 3 die Suche des Menschen Paulus nach sich selbst, nach seiner wahren Menschlichkeit und Identität.


Nach einer kurzen Sichtung der wichtigsten Forschungsparadigmen der Ritualforschung stellt C. Strecker 2008, 460-472 die wegweisenden Theorien Victor Turners über rituelle Schwellenphasen und die darüber hinausreichenden Erscheinungsformen permanenter Liminalität vor. Dass sich Turners Einsichten und Modelle in der Paulusexegese fruchtbar anwenden lassen, wird exemplarisch an Phil 3 vorgeführt.


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V. 13


Beobachtungen: „Brüder“ meint nicht „leibliche Brüder“, sondern Glaubensbrüder. Dabei sind wohl die Glaubensschwestern eingeschlossen, die jedoch von der männerzentrierten Sprache, die gemischtgeschlechtliche Gruppen als reine Männergruppen erscheinen lässt, unterschlagen werden.


Paulus legt seine eigene Sicht der Dinge dar. Dabei fällt der dreifache Bezug auf sich selbst auf: Er betont das „Ich“ („egô“), bildet das Verb in der ersten Person Singular („ou logizomai“ = „ich bilde mir nicht ein“) und spricht ausdrücklich nur von sich selbst („emauton“ = „ich selbst“). Das betonte „Ich“ unterstreicht wohl, dass Paulus nur aussagt, was er von sich selbst denkt, nicht aber, was andere von ihm denken. Wenn er nur von sich selbst spricht, dann bedeutet das, dass er nichts über andere Menschen aussagt, seien es Christen oder Nichtchristen. Es ist also durchaus möglich, dass Paulus anderen Menschen zugesteht, schon ergriffen zu haben oder vollkommen zu sein. Es kann aber auch sein, dass sich Paulus von der Selbsteinschätzung anderer Menschen abgrenzt, die davon ausgehen – negativ ausgedrückt: sich einbilden -, schon ergriffen zu haben oder vollkommen zu sein.


Emautos“ („ich selbst“) kann sich auf „einbilden“ oder auf „ergreifen“ beziehen. In ersterem Fall wäre „ich bilde mir (selbst) nicht ein, dass ich [es schon] ergriffen hätte“, in letzterem „ich bilde mir nicht ein, dass ich selbst [es schon] ergriffen hätte“ zu übersetzen. Ersterer Bezug ist wahrscheinlicher, weil letzterer voraussetzen würde, dass Paulus im Folgenden Gottes Handeln (statt des eigenen) hervorhebt, was jedoch nicht der Fall ist.


Das Vergessen und Ausstrecken ist auf dem Hintergrund des Bildes vom Läufer, der einen Wettlauf zu gewinnen sucht, zu verstehen (vgl. 1 Kor 9,24-27) und im Zusammenhang mit V. 14 zu lesen. Der Wettläufer schaut nicht nach hinten, sondern nur nach vorne, damit er nicht Zeit verliert oder gar strauchelt. Er ist nur auf das Ziel fixiert, lässt sich von langsameren Mitläufern nicht aufhalten und drosselt angesichts der zurückgelegten Strecke auch nicht das Tempo. Auf das Leben des Apostels bezogen bedeutet das, dass dieser nicht auf seine Vergangenheit zurückblickt, sondern nur auf die vor ihm liegende Zukunft, die die Gegenwart prägt, schaut. Genau genommen ist dabei nicht nur das Dasein als gesetzestreuer Pharisäer vergangen, sondern auch die bisher verstrichene Zeit als Christusgläubiger. Das Vergessen und das Ausstrecken soll also wohl die Fixierung auf das vor dem Apostel Liegende betonen. Statt den Blick auf weniger vorbildliches Verhalten anderer Christen (= zurückliegende Mitläufer) oder auf das bisher durch den Christusglauben schon Erreichte (= zurückgelegte Strecke) zu werfen, strebt Paulus mit aller Kraft das zukünftige Heil an. Möglich ist auch die Deutung, dass Paulus die Zeit als gesetzestreuer Pharisäer zu vergessen und sich ganz dem Christusglauben und dem daraus resultierenden, in der Zukunft zu erwartenden Heil zu widmen sucht. Wegen der sprachlichen Ungenauigkeit ist die Richtigkeit dieser alternativen Deutung aber zweifelhaft.


Weiterführende Literatur: R. Metzner 2000, 565-583 geht davon aus, dass Paulus in seiner Jugend, auf seinen Reisen, aus Gesprächen mit den Menschen vor Ort und auch aus eigener Anschauung der Wettkämpfe eine relativ genaue und detaillierte Kenntnis des Sports erhalten habe, so dass die Wettkampfmetaphorik in 1 Kor 9,24-27 und Phil 3,12-16 nicht allein durch Kontakte mit etwa stoischen Wanderphilosophen, die das Bild mit ihren Reden auf den Straßen und Gassen benutzten, zu erklären sei. Paulus benutze den Wettkampf als Sprachform der Verkündigung. Der Apostel habe sich der Anziehungskraft des Sports in der hellenistischen Welt nicht entzogen. Der Wettkampf sei ihm zum kongenialen Ausdruck seiner Verkündigungstätigkeit geworden. Seitdem er von Christus in seinem bis dahin verkehrten Lauf „eingeholt“ worden ist (vgl. Phil 3,12), sei er „im Eifer Gottes“ (vgl. 2 Kor 11,2) bemüht gewesen, das Evangelium für die Gemeinden zur Geltung zu bringen. Eifer, Training und Kampf für das Evangelium hätten seine apostolische Existenz geprägt. Dieser kämpferischen Aktivität sei die Sprache des Wettkampfes die geeignete Sprache geworden.


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V. 14


Beobachtungen: Paulus benutzt hier für das Angestrebte den im NT einzigartigen Begriff „skopos“. Dieses Ziel, das im Blick behalten („skopeô“ = „betrachten“) wird, ist beim Wettlauf die Ziellinie.


Demjenigen, der erfolgreich die Ziellinie durchläuft, winkt ein „Siegpreis“ („brabeion“, vgl. 1 Kor 9,24). Dabei ist unklar, ob ihn nur der Sieger erhält oder auch weitere Läufer. Gemäß 1 Kor 9,24 erhält ihn nur der Sieger, doch ist kaum anzunehmen, dass nur ein einziger Christ oder nur eine sehr begrenzte Zahl Christen einen Siegpreis erlangt und der Rest leer ausgeht. Wahrscheinlicher ist, dass Paulus betonen will, dass es nicht nur auf das Laufen an sich ankommt, sondern auf das möglichst schnelle Laufen. Dass nicht nur ein Christ als Sieger einen Preis („Kranz der Gerechtigkeit“) bekommt, setzt zumindest 2 Tim 4,8 voraus.


Worum handelt es sich bei dem „Siegpreis“? Die Antwort kann verschieden ausfallen und hängt von der Deutung des folgenden Genitivs „tês anô klêseôs tou theou“ („der Berufung (des) Gottes nach oben“) ab. Versteht man den Genitiv als genitivus subiectivus, dann handelt es sich um den Siegpreis, der uns bei der Berufung zum Christsein von Gott verheißen ist. Dabei kann „anô“ als Ort verstanden werden, von wo die Berufung zum Christsein kommt (vgl. den Gebrauch von „anô“ in Gal 4,26; Kol 3,1): die Berufung kommt von oben, von Gott. Alternativ kann man „anô“ so deuten, dass der Aufstieg zu Gott bzw. zu Jesus Christus verheißen ist. Bezieht man die Berufung konkret auf den Wettlauf, dann kann sie als Aufforderung verstanden werden, („nach oben“) auf die Ehrentribüne zu steigen und den Siegeskranz zu empfangen. Die „Berufung“ kann aber auch die Nennung des Namens des Siegers (und seines Vaters und seines Heimatlandes) bei der Siegerehrung sein. Liest man den Genitiv als genitivus epexegeticus, dann ist die „Berufung“ selbst der Siegpreis. Dann kommen aber weder die Christwerdung noch die Besteigung der Ehrentribüne noch die Nennung des Namens als „Berufung“ infrage, weil all dies nicht der Siegpreis an sich ist, sondern „nur“ mit der Verleihung des Siegpreises in Verbindung steht. „Berufung“ wäre dann der Ruf Gottes, auf den der Aufstieg des Berufenen nach oben zu Gott bzw. Jesus Christus erfolgt.


Wie ist „en Christô Iêsou“ zu verstehen? Die Präposition „en“ kann lokal oder instrumental verstanden werden, also mit „in“ oder mit „durch“ übersetzt werden. Hier ist wohl der lokalen Bedeutung der Vorzug zu geben, womit die Übersetzung „in Christus Jesus“ lautet. Doch worauf ist „in Christus Jesus“ zu beziehen, auf „ich jage nach“, auf die „Berufung“ oder auf „Gott“? Ersterer Bezug definiert das Jagen als spezifisch christlich. Bei dem zweiten Bezug kann an eine Berufung zum Christsein von Gott her gedacht sein, die vom christlichen Heilsgeschehen (Tod und Auferstehung) geprägt ist. Es ist aber auch möglich, dass eine Berufung „nach oben“ im Blick ist und das Oben als Sein „in Christus“ konkretisiert wird. Bezieht man – der dritten Bezugsmöglichkeit folgend - „in Christus Jesus“ auf „Gott“, dann verbindet man Gott untrennbar mit Jesus Christus. Gott wird dann als ein Gott definiert, der „in Christus Jesus“ ist. Gottes Wille und Handeln wäre vom christlichen Heilsgeschehen geprägt. Eine solche Deutung würde allerdings Verwunderung darüber aufkommen lassen, dass der Vater Gott seinem Sohn Jesus Christus geradezu untergeordnet zu sein scheint.


Weiterführende Literatur:


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V. 15


Beobachtungen: Der griechische Begriff „teleioi“ („Vollkommene“) kann Vollkommene im Sinne von Tadel- oder Makellose bedeuten, aber auch Menschen bezeichnen, die zwar nicht tadel- oder makellos sind, aber das oder – persönlicher ausgedrückt – ihr Ziel erreicht haben. Letztere Bedeutung würde derjenigen entsprechen, die vermutlich dem Verb „teleioô“ („vollenden“) in V. 12 zugrunde liegt, was für sie spricht. Schließlich kann „teleioi“ aber auch gereifte Menschen bezeichnen, also Erwachsene. Erwachsene sind nach antiker Vorstellung insofern vollendet/vollkommen, als sie im Gegensatz zu Kindern zur kritischen Bewertung von Sachverhalten und zur Erkenntnis befähigt sind, was Voraussetzung für durchdachte Entscheidungen ist. Eine solche Deutung lässt sich allerdings nicht mit V. 12 in Einklang bringen, wo der eindeutig erwachsene Paulus sich als „nicht vollkommen“ bezeichnet.

Welche Menschengruppe hat Paulus bei den „Vollkommenen“ im Blick? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es sich um eine tatsächlich existierende Menschengruppe handelt, die sich aus „so vielen“ („hosoi“) zusammensetzt. Diese Menschengruppe muss jedoch nicht unbedingt tatsächlich vollkommen sein, sondern sie kann auch von anderen Menschen für vollkommen gehalten werden oder sich selbst für vollkommen halten. Geht man davon aus, dass V. 15 das gleiche Verständnis von Vollkommenheit zugrunde liegt wie V. 12, dann handelt es sich vermutlich um Menschen, die ihr Ziel erreicht haben, oder um Menschen, denen nachgesagt wird, sie hätten das bzw. ihr Ziel erreicht oder um Menschen, die von sich selbst meinen (negativ: sich einbilden), sie hätten das bzw. ihr Ziel erreicht. Ob Paulus davon ausgeht, dass es tatsächlich eine solche „vollkommene“ Menschengruppe gibt, ist fraglich. Misst man diese Menschengruppe an dem gleichen Maßstab, an dem Paulus sich selbst misst, dann ist dies eher unwahrscheinlich. In Belangen christlichen Lebens stellt sich der Apostel zwar anderen Christen als Vorbild dar und schreibt von dieser Warte aus auch seine Briefe, doch führt ihn dieses Selbstbewusstsein nicht dazu, sich in 3,12-16 als „vollkommen“ darzustellen. Vielmehr erscheint er hier als ein Strebender, der zwar noch nicht „vollkommen“ ist, aber nach der „Vollkommenheit“ strebt. Wenn das Vorbild der Christen in der Nachfolge Christi nicht „vollkommen“ ist, dann sind es die anderen Christen erst recht nicht. Weil „Vollkommenheit“ nach christlichem Verständnis ohne Christusglauben nicht denkbar ist, können Nichtchristen solchem Verständnis gemäß nicht „vollkommen“ sein. Folglich gibt in dieser Weltzeit keine „Vollkommenheit“, sondern nur das Streben nach ihr. Ihre Verwirklichung erfolgt erst am Ende der Tage mit der Wiederkunft Christi und dem Weltgericht. „Vollkommenheit“, die sich an einem christlichen Maßstab orientiert, kann aus Sicht des Apostels nur eingebildet sein. Eine solche Einbildung könnte Paulus seinen Kontrahenten vorwerfen, die auch von Heidenchristen die Beschneidung fordern. Auch ist möglich, dass Paulus die Vermutung von anderen Menschen im Blick hat, er selbst könne „vollkommen“ sein. Weil sich die Formulierung „so viele“ („hosoi“) aber auf eine Mehrzahl Menschen bezieht, müssen neben Paulus noch weitere Menschen eingeschlossen sein, wobei deren Zahl unbestimmt ist. Weil nicht ersichtlich ist, welche Christen es neben Paulus gibt, denen andere Christen „Vollkommenheit“ nachsagen könnten, ist wahrscheinlicher, dass „Vollkommene“ eine Fremdbezeichnung aller Christen seitens der Nichtchristen ist. Gegen diese Deutung spricht jedoch, dass es Paulus in der Auseinandersetzung mit den Irrlehrern 3,2-4,1 nicht darum geht, was Nichtchristen über die Christen sagen, sondern darum, was für das Erlangen von Gerechtigkeit erforderlich ist. Für die Klärung dieser Frage sind Aussagen von Nichtchristen über Christen nicht relevant. Schließlich bleibt noch als Deutungsmöglichkeit, dass Paulus im Gegensatz zu V. 12 in V. 15 nicht von einem christlichen Verständnis von „Vollkommenheit“ ausgeht, sondern von einem nichtchristlichen. Dass Paulus selbst Nichtchristen als „Vollkommene“ ansieht, ist angesichts der großen Bedeutung, die er dem Christusglauben im Hinblick auf die Gerechtigkeit beimisst, unwahrscheinlich. Aber es ist durchaus möglich, dass er eine Selbstbezeichnung der Nichtchristen aufgreift. Dabei bleibt offen, welche Religionsangehörigen sich als „Vollkommene“ ansehen mögen. Am ehesten ist daran zu denken, dass Paulus fromme Juden im Blick hat, die sämtliche Satzungen und Gebote ihres Religionsgesetzes, der Tora (= Weisung) zu befolgen und so das Ziel der Gerechtigkeit zu erlangen suchen. Grundsätzlich ist bei einer Aufnahme einer Fremdbezeichnung, gleich ob sie von Christen oder Nichtchristen stammt, anzunehmen, dass sie mit einem kritischen oder ironischen Unterton erfolgt. Es ist kaum anzunehmen, dass Paulus seinen christlichen Kontrahenten oder Nichtchristen „Vollkommenheit“ zugesteht und somit die Bedeutung rechter christlicher Lehre oder des Christusereignisses leugnet.


Unklar ist, worauf sich das Demonstrativpronomen „touto“ („darauf“) bezieht, das angibt, worauf die Adressaten und Paulus bedacht sein sollen. Es kann sich auf Vorausgehendes oder auf Nachfolgendes beziehen. Geht man von einem Bezug zu Vorausgehendem aus, dann ist am ehesten an einen Bezug zu einer vorausgehenden Kernaussage oder zu einer unmittelbar vorausgehenden Aussage zu denken. Kern der vorausgehenden Aussagen des gesamten Abschnittes „Auseinandersetzung mit den Irrlehrern“ (3,2-4,1), zu dem auch 3,12-16 gehört, ist die Betonung des Apostels, dass das Christusvertrauen für die Gerechtigkeit vor Gott bzw. Jesus Christus maßgeblich ist (vgl. 3,7-11). Wenn die Adressaten dies bedenken sollen, dann bedeutet das, dass sie sich nicht auf die Beschneidung und somit typisch jüdische Praktiken einlassen, sondern auf Christus vertrauen sollen. Geht man davon aus, dass „touto“ nicht auf eine Kernaussage verweist, die sich außerhalb von 3,12-16 befindet, dann ist nach der Kernaussage von 3,12-16 zu suchen. Als solche ist die Aussage auszumachen, dass Paulus nicht „vollkommen“ ist, aber nach dem Ziel, dem „Siegpreis“, strebt. Wenn die Adressaten darauf bedacht sein sollen, dann stellt dies eine Aufforderung an die vermutlich ebenso „unvollkommenen“ Adressaten dar, sich den Apostel zum Vorbild zu nehmen und gleichermaßen nach dem Ziel zu streben. Nimmt man an, dass sich „touto“ auf die unmittelbar vorausgehende Aussage bezieht, dann wäre ausgesagt, dass die Adressaten darauf bedacht sein sollen, dass „So viele nun vollkommen sind“. Aber wieso sollte Paulus eine Aussage unterstreichen, die vermutlich nicht seine eigene Theologie oder Ethik wiedergibt, sondern eine Selbsteinschätzung seiner christlichen Kontrahenten oder von Nichtchristen darstellt? Es ist kaum anzunehmen, dass Paulus der Selbsteinschätzung seiner Kontrahenten oder Nichtchristen besonderes Gewicht gibt, zumal er sie kritisch beurteilt. Vielmehr dürfte es dem Apostel darum gehen, seine eigene Theologie oder Ethik herauszustellen. Geht man davon aus, dass sich „touto“ auf eine nachfolgende Aussage bezieht, dann kann es sich nur um eine unmittelbar nachfolgende handeln. Infrage käme nur die Deutung, dass die Adressaten darauf bedacht sein sollen, dass sie zwar über „etwas“ anders denken können, ihnen dann aber Gott auch darin Offenbarung zuteil werden lassen wird. Gegen diese Deutung spricht jedoch, dass das zu Bedenkende mit „kai“ („und/auch“) eingeleitet würde, was überflüssig wäre.


Paulus geht nicht davon aus, dass alle Adressaten des Briefes seinen Ausführungen sogleich beipflichten, sondern lässt die Möglichkeit offen, dass sie über etwas anders denken und ihnen diesbezüglich eine göttliche Offenbarung zuteil wird. Ob diese Offenbarung die Adressaten bestätigen oder widerlegen wird, schreibt der Apostel nicht. Die Deutung wird dadurch erschwert, dass auch offen bleibt, was genau mit „über etwas“ gemeint ist. Bestätigung dürften die Adressaten nur dann erfahren, wenn das, worin sie mit der Meinung des Apostels nicht übereinstimmen, nicht zu dem eben Eingeschärften gehört. Es ist kaum anzunehmen, dass Paulus, das, was er vorher eingeschärft hat, plötzlich wieder der Beliebigkeit preisgibt. Folglich muss sich entweder „darauf“ („touto“) auf andere Aussagen beziehen als „etwas“ („ti“) oder Paulus muss davon ausgehen, dass die Adressaten, die im Hinblick auf eine Kernaussage eine andere Meinung vertreten, von Gott zurechtgewiesen werden. Dass Paulus davon ausgeht, dass seine anders denkenden Adressaten Recht haben und von Gott mittels einer Offenbarung in ihrer Ansicht bestärkt werden könnten, ist ausgeschlossen. Andernfalls würde Paulus Zweifel an der Richtigkeit des von ihm verkündigten Evangeliums wecken und den Erfolg seiner eigenen Verkündigungstätigkeit gefährden.

Es ist davon auszugehen, dass sich „darin“ („touto“) auf „etwas“ („ti“) bezieht. Die Offenbarung dürfte den Adressaten also bezüglich der abweichenden Meinung im Hinblick auf eine konkrete Glaubensfrage zuteil werden. Dass sich „darin“ auf die gesamte vorhergehende Möglichkeit „Und wenn ihr über etwas anders denkt“ bezieht, also das abweichende Denken an sich offenbart wird, ist unwahrscheinlich

Fraglich ist, warum Paulus „auch darin“ („kai touto“) schreibt. Ist den Philippern schon mindestens eine andere Offenbarung in anderen Glaubensfragen zuteil geworden? Oder behaupten sie von sich, sie hätten Offenbarungen erhalten? Dann wäre möglich, dass Paulus ironisch auf diese Behauptung anspielt, wobei jedoch der Zusammenhang nicht auf Ironie hinweist. Vielmehr scheint Paulus tatsächlich davon auszugehen, dass den Adressaten Offenbarungen zuteil werden bzw. zuteil werden können. Die Adressaten brauchen nicht blindlings den Aussagen zu folgen, sondern der Apostel setzt eigenes Urteilsvermögen seitens der Glaubensgenossen voraus. Wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt, wird Gott selbst offenbaren, was richtig ist.


Weiterführende Literatur:


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V. 16


Beobachtungen: Die Aussagen des Apostels sind auf dem Hintergrund zu verstehen, dass die Adressaten schon Christen sind und es somit mindestens in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen Paulus und den Adressaten gibt. Inwieweit diese auch der paulinischen Theologie folgen, ist zwar unklar, doch lässt der im Großen und Ganzen in freundlichem Ton geschriebene Philipperbrief keine ernsthaften Differenzen in Glaubensfragen erkennen. Wenn das von Paulus verkündigte Evangelium zur Rechtfertigung der Menschen vor Gott bzw. Jesus Christus führt und die Adressaten mindestens in einem bestimmten Maße dem Evangelium folgen, dann haben sie im Hinblick auf die Rechtfertigung durchaus schon etwas erreicht. Sie haben bei ihrem Wettlauf also schon eine bestimmte Strecke erfolgreich zurückgelegt. Mag es auch in bestimmten Glaubensfragen Meinungsverschiedenheiten geben, so darf jedoch der Kern des Glaubens nicht gefährdet werden. Eine solche Gefährdung sieht Paulus im Wirken der Irrlehrer gegeben, weshalb er dazu ermahnt, dem Glauben weiter zu folgen, an ihm festzuhalten.

Das Verb „stoichein“ bedeutet „schreiten“, „wandeln“, „folgen“ oder „ausrichten“. Es geht also darum, sich an dem von Paulus verkündigten Evangelium auszurichten, ihm zu folgen und im rechten Glauben zu verbleiben. Beim Schreiten kann auch an das Schreiten in einer Schlachtformation gedacht sein. Dann wäre das Leben als ein Kampf im Glauben verstanden, in dem es zu verbleiben gilt. Verwunderlich wäre die Verwendung eines militärischen Begriffs im Anschluss an das Bild vom Wettlauf insofern nicht, als Paulus geistliche Existenz sowohl als militärischen Kampf als auch als sportlichen Wettkampf versteht. In jedem Fall gilt es zu siegen.


Weiterführende Literatur:



Literaturübersicht


Babinsky, Ellen L. Philippians 3:7-15, Interp. 49 (1995), 70-72

DeSilva, David A.; No Confidence in the Flesh: The Meaning and Function of Philippians 3,2-21, TrinJ 15/1 (1994), 27-54

Doughty, Darrell J.; Citizens of Heaven: Philippians 3.2-21, NTS 41/1 (1995), 102-122

Fortna, Robert T.; Philippians: Paul’s Most Egocentric Letter, in: R. T. Fortna, B. R. Gaventa [eds.], The Conversation Continues: Studies in Paul and John, FS J. L. Martyn, Nashville, Tennessee 1990, 220-234

Metzner, Rainer; Paulus und der Wettkampf: Die Rolle des Sports in Leben und Verkündigung des Apostels (1 Kor 9.24-7; Phil 3.12-16), NTS 46/4 (2000), 565-583

Polhill, John B.; Twin Obstacles in the Christian Path. Philippians 3, RExp 77/3 (1980), 359- 372

Reumann, John; Christology in Philippians, Especially Chapter 3, in: C. Breytenbach; H. Paulsen [Hrsg.], Anfänge der Christologie, Fs. F. Hahn, Göttingen 1991, 131-140

Standhartinger, Angela; “Join in imitating me” (Philippians 3.17): Towards an Interpretation of Philippians 3, NTS 54/3 (2008), 417-435

Strecker, Christian; Leben als liminale Existenz. Kulturanthropologische Betrachtungen zum frühchristlichen Existenzverständnis am Beispiel von Phil 3, EvTh 68/6 (2008), 460- 472

Thomas, Joseph; Un homme en quête de lui-même. Lecture de Philippiens 3, Chr 119 (1983), 340-349

Weidmann, Frederick W.; An (Un)Accomplished Model: Paul and the Rhetorical Strategy of Philippians 3:3-17, in: V. Wiles et al. [eds.], Putting Body and Soul together, FS R. Scroggs, Valley Forge 1997, 245-257


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