Apg 16,16-18
Übersetzung
Apg 16,16-18:16 Es geschah aber, als wir auf dem Weg zur Gebetsstätte waren, dass uns eine Sklavin begegnete, die einen Wahrsagegeist hatte. Sie brachte ihren Herren durch Wahrsagen großen Gewinn ein. 17 Diese lief hinter (dem) Paulus und uns her und schrie (und sagte): "Diese Menschen sind Diener des höchsten Gottes. Sie verkündigen euch einen Weg des Heils.“ 18 Dies tat sie viele Tage lang. Paulus aber wurde unwillig, wandte sich um und sprach zu dem Geist: "Ich gebiete dir im Namen Jesu Christi, aus ihr auszufahren!“ Da fuhr er im selben Augenblick aus.
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Beobachtungen: Zum ersten Mal hatten sich die Missionare an einem Sabbattag zu einer an einem Fluss vermuteten Gebetsstätte (proseuchê) begeben (vgl. 16,13), was darauf schließen lässt, dass sie unter Juden oder Gottesfürchtigen das Evangelium verkündigen wollten. In V. 16 bleibt aber offen, an was für einem Tag sie sich zur Gebetsstätte begaben. Dass es sich um die schon in V. 13 erwähnte Gebetsstätte handelte, liegt nahe. Da jedoch vom Sabbattag nicht die Rede ist, kann auch nicht ohne weiteres angenommen werden, dass die Missionare unter den zum Gottesdienst versammelten Juden oder Gottesfürchtigen das Evangelium verkündigen wollten. Möglich ist auch, dass sie selbst beten wollten oder aus einem ganz anderen Grund zur Gebetsstätte gingen.
Der Begriff "paidiskê“ kann eine junge Frau, eine (junge) Sklavin oder eine junge Prostituierte bezeichnen. Da sie "Herren“ gehörte, wird sie Sklavin gewesen sein. Die Sklavin kann verschiedenen "Herren“ gehört haben oder auch einem Besitzerehepaar. Letzteres ist wahrscheinlicher, weil sich sonst die Frage stellen würde, wie die Sklavin Besitz verschiedener "Herren“ gewesen sein kann und wie der Gewinn, den sie durch das Wahrsagen einbrachte, unter den verschiedenen "Herren“ aufgeteilt wurde.
Das Verb "manteuomai“ ("wahrsagen“) findet sich im NT nur hier. In der Septuaginta, einer griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel (= AT), wird es jedoch an verschiedenen Stellen benutzt und bezeichnet dort die heidnische Wahrsagerei oder das Prophezeien von falschen Propheten (vgl. Dtn 18,10LXX; 1 Sam 28,8LXX; 2 Kön 17,17LXX; Ez 13,6LXX; 21,28.34LXX; 22,28LXX; Mi 3,11LXX). In diesem Sinne dürfte es auch in Apg 16,16 zu deuten sein.
Wenn die Sklavin ihren "Herren“ großen Gewinn einbrachte, so ist damit zum einen ausgesagt, dass sie für das Wahrsagen Geld nahm, zum anderen, dass ihre Wahrsagerei häufig in Anspruch genommen wurde (vgl. das Imperfekt "pareichen“ = "sie brachte ein“). In der Antike wurden vor wichtigen Entscheidungen und Unternehmungen gewöhnlich Wahrsager in Anspruch genommen und Orakel befragt.
Die Fähigkeit zur Wahrsagerei verdankte die Sklavin einem Wahrsagegeist (pneuma pythôn). Genau genommen wahrsagte nicht die Sklavin, sondern der Wahrsagegeist. "Pythôn“ bedeutet als Adjektiv "wahrsagend“ und als Substantiv "Wahrsager“ oder "Bauchredner“. Da die Sklavin vom Wahrsagegeist zu unterscheiden ist, ist nicht unbedingt ausgesagt, dass die Sklavin eine Bauchrednerin war. Wie die Sklavin die Wahrsagungen äußerte, bleibt offen. Da der Geist sicherlich kein Bauchredner war, kommt diese Bedeutung hier nicht infrage. Das Substantiv "pythôn“ weist auf das Orakel in Delphi hin. Delphi galt ursprünglich als Orakel der Erdgöttin Gaia, das von der Schlange (oder: Drache) Python, einem riesigen menschenfressenden Ungeheuer, behütet wurde. Die Schlange wurde jedoch vom Gott Apollon mit einem Pfeil getötet, der danach das Orakel für sich beanspruchte. Obwohl der Begriff "pythôn“ ein Maskulinum ist, hat die Schlange weibliche Züge − ihr Todeszucken erinnert an Geburtswehen − und ist der Muttergöttin Gaia zugeordnet. Anders als ihr eindeutig männliches Gegenüber, Apollon, schadet die Schlange den Menschen. Und anders als Apollon ist die Schlange auch nicht dem Himmel, sondern der Unterwelt zugeordnet. So sind einige Parallelen zum Wahrsagegeist zu erkennen: Auch der Wahrsagegeist ist einem weiblichen Wesen, nämlich der Sklavin, zugeordnet. Auch der Wahrsagegeist schadet den Menschen, weil er ein heidnischer Geist und damit dem Christentum entgegengesetzt ist. Und auch der Wahrsagegeist ist nicht dem Himmel, sondern der Unterwelt zugeordnet, weil die Menschen von ihm nicht das ewige Leben im Himmel, sondern das Verderben zu erwarten haben.
Weiterführende Literatur: Eine postkoloniale, postfeministische Auslegung von Apg 16,6-40 bietet J. L. Staley 2004, 177-192.
Eine Erörterung von Apg 16,11-40 bietet S. C. Agouridis 1984, 5-16.
M. Veillé 1979, 271-278 legt Apg 16,16-24 aus, wobei sie das Hauptaugenmerk auf Aspekte legt, die bei der Predigtvorbereitung von Belang sind.
F. Martin 1990, 9-29 befasst sich mit der Reiseroute des Paulus und mit den Begebenheiten in Philippi. Er vertritt die These, dass die Jerusalemer Versammlung (vgl. Apg 15) auf eine schwelende Konfliktsituation eine Antwort gegeben habe, und nun in Apg 16 in Form eines Berichtes auf die Bedingungen und Wirkungen der freimütigen Evangeliumsverkündigung in einer heidnischen Gesellschaft eingegangen werde.
J. Rius-Camps 1995, 35-39 befasst sich zunächst mit der Struktur des seiner Meinung nach aus zwei Teilen (16,11-15; 16,16-40) zusammengesetzten Abschnittes 16,11-40 und danach mit den verschiedenen Schwierigkeiten, denen sich Paulus und seine Begleiter ("wir“) in der rein heidnischen Gesellschaft Philippis ausgesetzt sahen.
J. Wehnert 1989, 192-193 hält fest, dass Lukas in Apg 16,10-17 bzw. in Apg 16-18 auf einen ihm zur Verfügung stehenden Erinnerungsbericht über die paulinische Erstmission in Europa habe zurückgreifen können.
Laut D.-A. Koch 1999, 367-390 ergebe der Vergleich der beiden Seereisen in Apg 18,18-22a und 20-21, dass der Verfasser der Apg in 20-21 eine Quelle verwertet, und zwar den ersten Teil eines Rechenschaftsberichts, den ein Mitglied der in 20,4 genannten Kollektendelegation nach der Rückkehr aus Jerusalem angefertigt habe. Diese Quelle sei von vornherein im "Wir“-Stil verfasst gewesen. Dagegen gingen die Reiseroute und das "Wir“ von Apg 16,10-17; 17,1 auf Lukas selbst zurück, der so einen gemeinsamen Rahmen für die selbstständige Mission des Paulus bilde. Lukas betone dabei besonders die Lenkung des Geschehens durch den Geist.
C.-J. Thornton 1991 legt dar, dass es Lukas darauf ankomme, dass nicht missionarischer Ehrgeiz des Paulus oder eine zufällige Reiseangelegenheit das Evangelium nach Europa brachten, sondern Gott selbst habe diesen Schritt initiiert. Dafür sei Lukas Zeuge; das aber sei keine Zeugenschaft im Sinne historischer Autopsie, sondern ein Zeugnis des Glaubens, dass die miterlebte Vergangenheit von Gott geleitete Geschichte ist.
H.-J. Klauck 1994, 93-108 befasst sich mit zwei Themen, die zwar miteinander verwandt, aber dennoch voneinander verschieden seien: zum einen mit der Auseinandersetzung zwischen christlichen Predigern und Magiern und deren magischen Praktiken (vgl. Apg 13,4-12), zum anderen mit der Konfrontation der christlichen Prediger mit heidnischem Polytheismus (vgl. 14,8-20). Simon Magus aus Samaria (vgl. 8,9-23), Barjesus und die Sklavin mit dem Wahrsagegeist, die Paulus tagelang in Philippi schreiend verfolgte (vgl. 16,16-19), hätten einige Gemeinsamkeiten: die Konfrontation mit den christlichen Missionaren, der jüdische oder halbjüdische Hintergrund (gilt nicht für die Sklavin), die magische Tätigkeit, das Interesse an Geldverdienst, Erfolg und gesellschaftlichem Ansehen (im Falle der Sklavin seitens deren Besitzern) und eine gewisse Nähe zu christlichen Aspekten (der Name "Barjesus“, Simons Taufe, das Bekenntnis der Sklavin). Gemäß H.-J. Klauck stelle nicht die Magie die eigentliche Gefahr dar, denn die christlichen Prediger zeigten sich in allen Fällen überlegen. Die eigentliche Gefahr sei ein Synkretismus, der Heidentum, Judentum und Christentum vermische. Zu Magie und Heidentum in der Apg siehe auch H.-J. Klauck 1996, der sich auf S. 77-87 mit dem "Exorzismus“ in Philippi befasst.
Zur Mantik in der Frühzeit des Christentums siehe auch B. Stogiannos 1980, 99-114.
M. Lods 1980, 287-293 untersucht, wie Lukas vom Kaufen und Verkaufen im Hinblick auf Magie und Wahrsagung spricht. Dabei geht er auf Apg 8,9-24; 16,16-19; 19,13-19 und 13,6-12 ein. Allen diesen Texten sei gemeinsam, dass die Gabe der Wahrsagung als eine Gabe erscheint, die sich bezahlt macht. Im Gegensatz dazu werde die frohe Botschaft unentgeltlich gewährt. Zu 16,16-19: Die Sklavin sei aufgrund ihrer Fähigkeit zur Wahrsagerei für ihre Besitzer eine finanziell lohnende Investition gewesen.
F. E. Brenk 2000, 3-21 geht der Frage nach, was unter dem "Wahrsagegeist“ zu verstehen ist. War die Sklavin vom göttlichen Geist besessen oder war der Geist teuflisch? F. E: Brenk geht davon aus, dass die Sklavin tatsächlich von einem Geist besessen gewesen sei. Vermutlich sei sie um der Zukunftsvorhersagen Willen aufgesucht worden. Bei ihren Vorhersagen habe die Sklavin wohl mit ihrer eigenen Stimme gesprochen, diese jedoch gesenkt, um übernatürlich zu klingen. Daran habe Paulus die Besessenheit erkannt, denn allein daran, dass sie den Missionaren folgte und schrie, habe er kaum die Besessenheit erkennen können. Das Verhalten der Sklavin habe wohl einen stärker übernatürlichen Charakter gehabt als das Verhalten der in Delphi orakelnden Pythia, habe aber nicht die extremen Symptome einer teuflischen Besessenheit gezeigt. Es sei wohl irgendwo zwischen "Geistbesitz“ und den Orakeln der Pythia einzuordnen.
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Beobachtungen: Das Schreien der Sklavin wirkte unzivilisiert. Der Wahrsagegeist machte aus ihr geradezu ein Ungeheuer, was den Gedanken nahe legt, dass der Wahrsagegeist − gleich wie die Schlange Python − selbst ein Ungeheuer war.
Das Personalpronomen "hêmin“ ("uns“) muss nicht unbedingt als Dativobjekt zu "katakolouthousa“ ("nachfolgend“; "hinter … herlaufend“) verstanden werden, sondern kann auch Dativobjekt zu "ekrazen“ ("sie schrie“) sein und dann entweder aussagen, zu wem die Sklavin schrie ("uns zu“) oder auf wen sich das Geschrei bezog ("im Hinblick auf uns“). Somit kommen drei Übersetzungsmöglichkeiten infrage. Die erste ist unter grammatischen Gesichtspunkten und angesichts der Tatsache, dass die gesamte Missionarsgruppe und nicht nur Paulus allein zum Gebetsstätte ging, am wahrscheinlichsten. Sie lautet: "Diese lief hinter (dem) Paulus und uns her und schrie (und sagte): …“. Die zweite Übersetzungsmöglichkeit lautet "Diese lief hinter (dem) Paulus her und schrie uns zu (und sagte): …“ und die dritte "Diese lief hinter (dem) Paulus her und schrie im Hinblick auf uns (und sagte): …“. Für die letzteren beiden Möglichkeiten spricht, dass in V. 18 nur die Reaktion des Paulus auf das Geschrei in den Blick kommt, was den Gedanken nahe legt, dass die Sklavin in erster Linie Paulus gefolgt ist.
Mit V. 17 endet der erste Wir-Bericht. Er setzt erst wieder in 20,6, wo von einer Schiffsreise von Philippi nach Troas die Rede ist, ein. Bedeutet das, dass der Erzähler des Wir-Berichtes bis dahin in Philippi blieb, wogegen Paulus seine Reise fortsetzte?
Das Schreien der Sklavin wirkt auf den ersten Blick wie ein Bekenntnis zum Gott Israels und zu Jesus Christus: Die Missionare wurden als Diener des "höchsten Gottes“ bezeichnet, wobei Juden und Christen die Bezeichnung auf den Gott Israels bezogen haben dürften. Der von den Missionaren verkündigte "Weg des Heils“ dürfte der Glaube an Jesus Christus, die Sündenvergebung, die Auferstehung von den Toten und das ewige Leben gewesen sein. Da sich die Sklavin mit ihrem Schreien aber an Heiden wandte, die als die Adressaten der Verkündigung der Missionare erscheinen ("euch“), ist allerdings auch die Sicht der Heiden zu bedenken: Die Heiden bezeichneten verschiedene Götter und insbesondere Zeus als "höchsten Gott“, dürften diese Bezeichnung also nicht auf den Gott Israels bezogen haben. Auch dürften sie den "Weg des Heils“ nicht auf den christlichen Weg des Heils bezogen haben, denn die Sklavin sprach ja nicht von "dem Weg des Heils“, sondern von "einem Weg des Heils“. Neben dem christlichen Weg des Heils konnte es demnach noch weitere Wege des Heils geben. Insofern kann das Schreien der Sklavin nicht als Bekenntnis des Wahrsagegeistes zu dem einen wahren Gott, dem Gott Israels, und zu dem einen wahren Weg des Heils, Jesus Christus, angesehen werden.
Weiterführende Literatur: Auf S. 187-267 bringt W. Stegemann 1991, 187-267 die Gefährdung der Christen durch den Verdacht von Staatsverbrechen zur Sprache, analysiert also die Konfliktebene lukanischer Christen mit der heidnischen Obrigkeit. Dabei solle anhand von vier in der Apg geschilderten Konflikten des Paulus und anderer Christen (vgl. 19,23-40; 16,19-40; 17,6-7; 18,12-17) die rechtliche bzw. politische Dimension dieser Konflikte im Verhältnis der Christen zur heidnischen Öffentlichkeit aufgezeigt und aus der besonderen historischen Situation von Christen unter dem Prinzipat Domitians erklärt werden. In einem Vergleich mit anderen christlichen Texten werde schließlich die Gefährdung der lukanischen Christen wieder historisch eingeordnet. Zu Apg 16,(11/)19-40: Die gegen Paulus und Silas erhobenen Vorwürfe stünden in einem bemerkenswerten Kontext. In der römischen Kolonie Philippi scheine man sich als Jude, wenn überhaupt, nur heimlich aufhalten zu können (wie die "Missionare“). Obwohl die christlichen Prediger offensichtlich schon einige Tage in Philippi gewesen seien, hätten sie dort nicht nur keinen Kontakt zu Juden aufgenommen, sondern hätten am Sabbat außerhalb des Stadttores an einem Fluss, wo sie eine Gebetsstätte vermuteten, Kontakt zu ihnen gesucht. Dort hätten sie nur Frauen getroffen, von denen die einzig identifizierte Person eine "Gottesfürchtige“ sei, die in Philippi ein "Haus“ führt. Lydia müsse den christlichen Predigern ihre Gastfreundschaft geradezu aufzwingen, weil diese sie offenkundig durch ihre Anwesenheit nicht hätten gefährden wollen. Durch eine Sklavin werde dann aber doch bekannt, dass Paulus und Silas jüdische Propagandisten sind, als welche sie schließlich dem Magistrat vorgeführt werden. Nach kurzer Haft müssten sie die Stadt verlassen.
I. Levinskaya 1996, 83-105 bezweifelt, dass das Attribut "höchster“ ("hypsistos“) verbreitet von den Heiden im Hinblick auf eine Vielzahl erhabener Götter gebraucht worden sei. Diese These sei nicht auf direktem Beweismaterial gegründet, sondern auf gelehrten Deutungen, die von Synkretismus ausgingen. I. Levinskaya geht von einem jüdischen Hintergrund des Attributs aus. Die Tatsache, dass es nur eine geringe Anzahl Belege für den unabhängigen Gebrauch des Attributs seitens der Heiden gebe, lasse unwahrscheinlich erscheinen, dass der Kult des höchsten Gottes jüdische und heidnische Glaubensvorstellungen verband. Bezüglich Apg 16,16-18 legt I. Levinskaya dar, dass die Heiden, die den Ausruf hörten, wahrscheinlich verschiedene Vorstellungen von der jüdischen Religion und dem jüdischen "höchsten Gott“ gehabt hätten. Wahrscheinlich hätten sie aber nicht an einen Gott ihres eigenen heidnischen Pantheons gedacht, der gegenüber den anderen Göttern herausragte. Folglich habe Paulus den Wahrsagegeist nicht wegen des Inhaltes des Ausrufes aus der Sklavin ausgetrieben, sondern weil die christliche Mission nicht solch zweifelhafter Verbündeter bedurfte.
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Beobachtungen: Wenn die Sklavin viele Tage lang den Missionaren zur Gebetsstätte hinterher lief, dann ist daraus zu schließen, dass die Missionare diese nicht nur zum Sabbattag aufsuchten. Wiederum bleibt offen, warum sich die Missionare wiederholt zur Gebetsstätte aufmachten.
Dass nur die Reaktion des Paulus auf das Geschrei der Sklavin in den Blick kommt, macht deutlich, dass dieser als eigentlicher Kopf der Missionarsgruppe angesehen wurde. Paulus erschien als machtvoll Handelnder, denn sein Befehl wurde vom Wahrsagegeist augenblicklich befolgt. Allerdings lag die Wirkmacht des Paulus nicht in seiner eigenen Person begründet, sondern im Namen Jesu Christi. Die Austreibung des Geistes war also letztendlich auf die Macht Jesu Christi zurückzuführen. Der Wahrsagegeist sollte Recht behalten: Der Gott der Missionare und Jesu Christi war der "höchste Gott“. Erst mit dem Handeln des Paulus und letztendlich Jesu Christi wurde das mehrdeutig Verkündigte eindeutig.
Dass Paulus unwillig wurde, zeigt, dass er das Geschrei der Sklavin nicht als Bekenntnis des Wahrsagegeistes zum Gott der Missionare verstand, sondern vielmehr als mehrdeutige Äußerung eines heidnischen Geistes. Die Mehrdeutigkeit dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass Paulus die Sklavin und den Wahrsagegeist zunächst gewähren ließ. Letztendlich konnte die Mehrdeutigkeit jedoch nicht dauerhaft stehen bleiben, zumal das Geschrei nervte. So handelten Paulus und damit auch Jesus Christus schließlich und bereiteten der Mehrdeutigkeit und dem Nebeneinander des "höchsten Gottes“, des Gottes des Missionare, und des heidnischen Wahrsagegeistes ein Ende.
Weiterführende Literatur: I. Richter Reimer 1992, 162-201 befasst sich mit der wahrsagenden Sklavin in Philippi. Eine Sklavin, die religiöse Protagonistin ist, sei für Philippi keine Ausnahme gewesen. Für Philippi sei die aktive Teilnahme von Sklav(inn)en und Freigelassenen am religiösen Leben auch inschriftlich belegt. So habe es Kultkollegien gegeben, die z.B. auch den beliebtesten altrömischen Sklavengott Silvanus verehrten und sich aus Gleichgestellten zusammensetzen konnten. Apg 16,16-24 zeichne jedoch ein anderes Bild. Die wahrsagende Sklavin sei von ihren Herren als Besitzstück und Werkzeug, das dem Lebensvollzug seines Besitzers dient, angesehen worden. Beim Austreibungsakt sei nicht von vornherein von einer "Befreiung“ der Sklavin zu sprechen. Da ihr die für die Herren gewinnbringende mantische Fähigkeit entzogen war, habe sie sicherlich für ihre Besitzer den wirtschaftlichen Reiz und damit auch ihre Hochachtung verloren. Es sei bekannt, dass Sklavinnen, die z. B. künstlerische Fähigkeiten besaßen, stets Gnade vor den Augen der Herren fanden; ihnen sei eine bessere Behandlung zugekommen als anderen auf diesen Gebieten nicht begabten Sklavinnen.
Laut F. Avemarie 2003, 550-576 enthülle sich der Sinn des Exorzismus erst, wenn man nach V. 18 weiterliest. Die Austreibung sei der Lackmusstreifen, der die Reaktionen derer offenbart, die das Evangelium ablehnen. Herren, für die die Wahrheit ein Geschäft ist und ihr Kriterium der Profit, könnten jene ganz andere Botschaft nur als Durchkreuzung ihrer Interessen und damit als Kampfansage an ihre staatsbürgerliche Identität wahrnehmen. Wer dagegen weiter sehe und mit der Erzählung den Missionaren in ihren nächtlichen Kerker folge, werde gezeigt bekommen, was sie eigentlich ist: Botschaft vom Heil, das allein der eine, wahre Herr gewährt.
Literaturübersicht
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Agouridis, Savas C.; Hê apelasê tou Paulou kai tôn synodôn tou apo tous Philippous (Prax. 16,11.40), DBM NS 3 (1984), 5-16
Avemarie, Friedrich; Warum treibt Paulus einen Dämon aus, der die Wahrheit sagt? Geschichte und Bedeutung des Exorzismus zu Philippi (Act 16,16-18), in: A. Lange u. a. [Hrsg.], Die Dämonen − Demons: die Dämonologie der israelitisch-jüdischen und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt,, Tübingen 2003, 550-576
Brenk, Frederick E.; The Exorcism at Philippoi in Acts 16.11-40. Divine Possession or Diabolic Inspiration?, FN 25-26 (2000), 3-21
Klauck, Hans-Josef; With Paul in Paphos and Lystra. Magic and paganism in the Acts of the Apostle, Neotest 28/1 (1994), 93-108
Klauck, Hans-Josef; Magie und Heidentum in der Apostelgeschichte des Lukas (SBS 167), Stuttgart 1996
Koch, Dietrich-Alex; Kollektenbericht, "Wir“-Bericht und Itinerar. Neue (?) Überlegungen zu einem alten Problem, NTS 45/3 (1999), 367-390
Levinskaya, Irina; The Book of Acts in Its Diaspora Setting (The Book of Acts in Its First Century Setting 5), Grand Rapids, Michigan − Carlisle 1996
Lods, Marc; Argent et magie dans le livre des Actes, PosLuth 28/4 (1980), 287-293
Martin, François; Le geôlier et la marchande de pourpre: Actes des Apôtres 16:6-40 (Première partie), SémBib 59 (1990), 9-29
Richter Reimer, Ivoni; Frauen in der Apostelgeschichte des Lukas: eine feministisch- theologische Exegese, Gütersloh 1992
Rius-Camps, Josep; Pablo y el grupo «nosotros» en Filipos: dos proyectos de evangelización en conflicto (Hch 16,11-40), Laurentianum 36/1-2 (1995), 35-59
Staley, Jeffrey L.; Changing Woman: Toward a Postcolonial Postfeminist Interpretation of Acts 16.6-40, in: A.-J. Levine [ed.], A Feminist Companion to the Acts of the Apostles (Feminist Companion to the New Testament and Early Christian Writings 9), London − New York 2004, 177-192
Stegemann, Wolfgang; Zwischen Synagoge und Obrigkeit: Zur historischen Situation der lukanischen Christen (FRLANT 152), Göttingen 1991
Stogiannos, Basil P.; «Pneuma pythôna» (Pr 16,16), Hê synantêsê tou archegonou christianismou me tê mantikê, DBM NS 1/2 (1980), 99-114
Thornton, Claus-Jürgen; Der Zeuge des Zeugen: Lukas als Historiker der Paulusreisen (WUNT 56), Tübingen 1991
Veillé, Monique, Actes 16,16-24, ETR 54 (1979), 271-278
Wehnert, Jürgen; Die Wir-Passagen der Apostelgeschichte: ein lukanisches Stilmittel aus jüdischer Tradition (Göttinger Theologische Arbeiten 40), Göttingen 1989