Apg 20,36-38
Übersetzung
Apg 20,36-38:36 (Und) Nachdem er dies gesagt hatte, kniete er nieder und betete mit ihnen allen. 37 Da brachen alle in lautes Weinen aus, fielen (dem) Paulus um den Hals und küssten ihn, 38 am meisten betrübt über das Wort, das er gesagt hatte, sie würden sein Angesicht nicht mehr sehen. Dann begleiteten sie ihn zum Schiff.
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Beobachtungen: Der Abschnitt 20,36-38 folgt auf die Abschiedsrede des Paulus an die Gemeindeältesten von Ephesus (20,18-35). Er handelt von der endgültigen Verabschiedung der Gemeindeältesten von Paulus.
Das Niederknien kann als typische Gebetshaltung angesehen werden, aber auch den besonders feierlichen Charakter des Augenblicks unterstreichen. Im Zusammenhang mit einem bewegenden Moment des endgültigen Abschieds taucht das Niederknien auch in Lk 22,41 auf, wo Jesus nach dem letzten Abendmahl mit seinen Jüngern auf den Ölberg ging und dort niederkniete. Ist das Verhalten des Paulus also im Lichte des Verhaltens Jesu zu sehen?
Fraglich ist, ob sich "… mit ihnen allen“ ("syn pasin autois“) auf "kniete er nieder“ oder auf "betete“ bezieht. In ersterem Fall wäre "… kniete er mit ihnen allen nieder und betete“ zu übersetzen, in letzterem Fall "… kniete er nieder und betete mit ihnen allen.“ In ersterem Fall hätten eindeutig auch alle Gemeindeältesten niedergekniet, in letzterem Fall könnten sie auch in einer anderen Körperhaltung gebetet haben. In ersterem Fall bliebe offen, ob Paulus allein oder mit allen Gemeindeältesten betete. Das Niederknien auch der Gemeindeältesten ließe allerdings annehmen, dass auch die Gemeindeältesten beteten. In letzterem Fall hätten eindeutig auch die Gemeindeältesten gebetet. Geht man davon aus, dass das Gebet auf Knien die typische Gebetshaltung darstellte, ist davon auszugehen, dass auch die Gemeindeältesten niederknieten.
Weiterführende Literatur: Eine rhetorische Analyse der Miletrede bietet D. F. Watson 1991, 184-208, die die Rede für ein epideiktisches Enkomion (= eine lobende Darstellung eines Menschen) hält und folgendermaßen gliedert: geschichtliche Einleitung (V. 17-18a), Exordium (V. 18b-24), Probatio (V. 25-31), Peroratio (V. 32-35), erzählerische Zusammenfassung (V. 36-38).
Eine Strukturanalyse von Apg 20,17-38 mehr unter pragmatisch-semantischen als unter syntaktischen Gesichtspunkten bietet J. S. Petöfi 1981, 359-378.
Mit dem Vermächtnis des Paulus an die Gemeinde und ihre Ältesten (Apg 20,17-38) befasst sich R. Neuberth 2001, 237-326, wobei er zunächst eine synchrone und danach eine diachrone Analyse bietet.
Zu den Parallelen zwischen der Apg und Homers Ilias siehe D. R. MacDonald 2003, der auf S. 67-102 auf die Parallelen zwischen der Abschiedsrede des Paulus vor den ephesischen Gemeindeältesten (Apg 20,17-38) und der Abschiedsrede Priams vor seiner Frau Andromache (Ilias 6) zu sprechen kommt. Die beste Erklärung für die Parallelen sei Nachahmung. D. Zoroddu 2009, 563-603 knüpft an die Untersuchung von D. R. MacDonald an, geht jedoch über den Aspekt der Nachahmung hinaus, indem sie sich traditionsgeschichtlichen Aspekten widmet. Die Anspielungen auf Homers Ilias seien nicht nur als literarischer Kniff zu verstehen, sondern hätten auch theologische Bedeutung: Fortsetzung und Erfüllung.
H. K. Kim, C. J. H. Venter 1999, 509-524 vertreten mit Blick auf Apg 20,17-38 die These, dass südafrikanische Christen, denen das Wort Gottes zuteil wurde, in ihrem zerrütteten Land zu gesellschaftlicher und politischer Stabilität beitragen könnten.
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Beobachtungen: "Hikanos“ kann sowohl "laut“ als auch "heftig“ oder "lang andauernd“ bedeuten. Das Weinen kann also laut, heftig oder lang andauernd gewesen sein. Möglich ist auch, dass es zugleich laut, heftig und lang andauernd war.
Bei dem Umarmen und dem Küssen handelte es sich um gefühlsbetonte Handlungen angesichts des bevorstehenden endgültigen Abschieds. Sie drückten vermutlich Achtung und Zuneigung aus, hatten aber wohl keinen erotischen Charakter. Welche Stellen geküsst wurden, bleibt zwar offen, doch lassen die Umarmungen an das Küssen von Stellen im Kopfbereich wie Wangen, Stirn oder Schultern denken. Das Imperfekt (katephiloun) zeigt, dass die Gemeindeältesten Paulus nicht nur jeweils einen Abschiedskuss gaben, sondern jeweils mehrere. Es handelte sich um eine wiederholte, einen längeren Zeitraum einnehmende Handlung.
Weiterführende Literatur: A. Lindemann 2009, 175-205 bietet eine Auslegung der Miletrede und fragt nach dem in ihr erkennbaren Paulusbild. Während von Petrus, der einfach aus der erzählten Handlung verschwinde, kein abschließendes Petrusbild gezeichnet werde, vollziehe sich der Abschied des Paulus von seiner Rolle als aktiv handelnder Missionar zumindest in Asien mit einer langen, programmatischen Rede, verbunden mit einer eindringlich geschilderten Reaktion seiner Zuhörer.
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Beobachtungen: Grund für das Weinen, die Umarmungen und die Küsse waren Gefühlswallungen. Diese mögen angesichts der rührenden Worte zur Sorge für die "Schwachen“ aufgekommen sein. Insbesondere aber waren sie dadurch bewirkt, dass Paulus hatte erkennen lassen, dass sie ihn nicht wieder sehen würden (vgl. V. 25), der gegebene Augenblick also der endgültige Abschied war. Dieser endgültige Abschied betrübte die Gemeindeältesten in hohem Maße.
Das Verb "propempô“ bedeutet hier vermutlich "begleiten“, und zwar im Sinne von "fortgeleiten“. Allerdings kann hier auch die Bedeutung "[zur Reise] ausstatten“ mitschwingen. Dann hätten die Gemeindeältesten Paulus nicht nur zum Schiff begleitet, sondern auch für die weite Seereise mit Nahrungsmitteln und/oder Gebrauchsgegenständen ausgestattet. Die Ausstattung zur Reise könnte als erster Schritt der Umsetzung des (angeblichen) Ausspruchs Jesu gedeutet werden.
Die Präposition "eis“ kann "zu“ oder "auf“ bedeuten. Dementsprechend kann Paulus von den Gemeindeältesten zum Schiff oder auf das Schiff begleitet worden sein, d. h. die Gemeindeältesten können sich von Paulus am Ufer oder Anlegesteg oder auch auf dem Schiff endgültig verabschiedet haben.
Weiterführende Literatur:
Literaturübersicht
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Kim, H. K.; Venter, C. J. H.; Equipping the Congregation by Means of Preaching: Paul’s Sermon at Miletus (Acts 20:17-38) − Perspectives for the South African Context, IDS 33/4 (1999), 509-524
Lindemann, Andreas; Paulus und die Rede in Milet (Apg 20,17-38), in: D. Marguerat [ed.], Reception of Paulinism in Acts. Réception du paulinisme dans les Actes des apôtres (BETL 229), Leuven 2009, 175-205
MacDonald, Dennis R.; Does the New Testament Imitate Homer? Four cases from the Acts of the Apostles, London 2003
Neuberth, Ralph; Demokratie im Volk Gottes? Untersuchungen zur Apostelgeschichte (SBB 46), Stuttgart 2001
Petöfi, Janos S.; La struttura della comunicazione in Atti 20,17-38, RivBib 29/3-4 (1981), 359-378
Prado, José Luiz G.; Versão Atual dos Atos dos Apóstolos, Estudos Bíblicos 3 (1984), 40-45
Watson, Duane F.; Paul’s Speech to the Ephesian Elders (Acts 20:17-38): Epideictic Rhetoric of Farewell, in: D. F. Watson [ed.], Persuasive Artistry (JSNTS 50), Sheffield 1991, 13-24
Zoroddu, Donatella; Does the New Testament imitate Homer?, Athenaeum (Pavia), 97 (2009), 563-603