Apg 22,6-11
Übersetzung
Apg 22,6-11:6 "Als ich aber unterwegs war und mich Damaskus näherte, geschah es, dass mich gegen Mittag plötzlich vom Himmel her ein helles Licht umstrahlte. 7 (Und) Ich stürzte zu (dem) Boden und hörte eine Stimme, die zu mir sprach: "Saul, Saul, was verfolgst du mich?' 8 Ich aber antwortete: "Wer bist du, Herr?' Und er sprach zu mir: "Ich bin Jesus, der Nazoräer, den du verfolgst.' 9 Die bei mir waren, sahen zwar das Licht, aber die Stimme dessen, der mit mir redete, hörten sie nicht. 10 Da sagte ich: "Was soll ich tun, Herr?' Der Herr aber sprach zu mir: "Steh auf und geh nach Damaskus! (Und) Dort wird mit dir über alles geredet werden, was dir zu tun bestimmt ist.' 11 Da ich aber wegen des Glanzes jenes Lichtes nicht mehr sehen konnte, wurde ich von denen, die bei mir waren, an der Hand geführt und kam [so] nach Damaskus.“
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Beobachtungen: 22,6-11 stellt den zweiten Teil der Rede des Paulus vor der aufgebrachten, jedoch aufgrund der Rede still gewordenen Menge Juden dar. In 22,1-5 war Paulus (= Saulus) auf seine Vergangenheit als Christenverfolger eingegangen. Dabei hatte er erzählt, dass er von dem Hohenpriester und dem Ältestenrat Briefe an die "Brüder“ − gemeint sind die Juden in Damaskus - erhalten habe und nach Damaskus gereist sei, um auch Christen, die sich dort aufhielten, gefesselt nach Jerusalem zu führen, damit sie bestraft würden. Nun berichtete Paulus, was er auf dem Weg nach Damaskus erlebt hatte, wie er selbst vom Christenverfolger zum Christ geworden war. Es handelt sich um einen Bericht der Ereignisse, wie sie dem Leser der Apg − in etwas anderen Worten und teils inhaltlich abweichend − von 9,3-9 bekannt sind.
22,6 entspricht sprachlich und inhaltlich weit gehend 9,3, wobei sich allerdings zwei Zusätze finden: Zum einen wird in 22,6 ausgesagt, um welche Tageszeit das Licht erstrahlte, nämlich "gegen Mittag“, zum anderen wird herausgestellt, dass das Licht hell/gleißend war. Letzterer Zusatz fehlt in der ursprünglichen Textfassung des Codex Bezae Cantabrigiensis.
Dass sich die Zeitangabe "gegen Mittag“ nur in 22,6 (vgl. 26,13: "mitten am Tag“), nicht aber in 9,3 findet, lässt nach dem Grund für die Einfügung und nach der Bedeutung fragen. 9,3 ist ein Bestandteil der Erzählung der Ereignisse nur für die Leser und Hörer der Apg, 22,6 findet sich dagegen in einer Rede des Paulus an eine jüdische Menschenmenge. Dies legt nahe, dass die Zufügung im Hinblick auf die jüdischen Zuhörer erfolgt ist. Als Grund für die Zufügung ist am ehesten daran zu denken, dass die Angabe für die jüdischen Zuhörer von besonderem Interesse war. Da Paulus darum bemüht war, sein Berufungserlebnis möglichst eindrücklich und überzeugend zu schildern, könnte die Zufügung dazu gedient haben, die Glaubwürdigkeit des Berichtes zu erhöhen. Allerdings scheint auf den ersten Blick die Zufügung das Gegenteil zu erreichen: Gegen Mittag kann nämlich die strahlende Sonne geblendet haben, zumal die Sonnenstrahlen von einem Gegenstand reflektiert worden sein können. In der Dämmerung oder in der Nacht hätte eine solche Täuschung ausgeschlossen werden können. Die Zeitangabe im Sinne der Stärkung der Glaubwürdigkeit zu verstehen, ist nicht so nahe liegend, aber auch möglich: Wenn Paulus gegen Mittag vom hellen Licht geblendet wurde, dann muss es wirklich sehr hell gewesen sein, denn sonst hätte er es im sowieso hellen Tageslicht des Mittags nicht wahrgenommen. In der Dunkelheit hätte Paulus vielleicht schon ein nicht sonderlich helles Licht als sehr hell wahrgenommen. Bei einer nächtlichen Erscheinung hätte man auch argwöhnen können, dass es sich um eine Erscheinung im Traum handelte. Allerdings hätte dieser Argwohn ausgeblendet, dass sich Paulus Damaskus näherte, er also in Bewegung war und genau genommen nicht geschlafen und geträumt haben kann. Bei diesen Überlegungen ist aber darauf hinzuweisen, dass nicht sicher ist, dass der Zeitangabe überhaupt besondere Relevanz zukommt. Vielleicht diente die Zeitangabe Paulus nur zur etwas anschaulicheren Schilderung des Geschehens. Immerhin konnte er sich als derjenige, dem die Erscheinung zuteil wurde, besonders gut in das vergangene Geschehen hineinversetzen.
Weiterführende Literatur: S. R. Bechtler 1987, 53-77 untersucht exegetisch die lukanischen Berichte von der Berufung und Beauftragung des Paulus innerhalb der Erzählung Lk-Apg, um deren Funktion innerhalb dieser Erzählung und deren Bedeutung und Wichtigkeit für Lukas aufzudecken.
R. D. Witherup 1992, 67-86 sieht das dreimalige Eingehen auf Paulus' Bekehrung/Berufung als ein offensichtliches Beispiel der Wiederholung im NT an. Diese Wiederholung sei eine Erzähltechnik und nicht mit verschiedenen Quellen oder mittels eines Vergleichs mit paulinischen Schriften zu erklären.
J. Schäfer 2010, 199-222 gibt zunächst einen Forschungsüberblick zur Frage nach den Dionysosmysterien in der Apg und geht dann auf das Drama "Die Bakchen“ von Euripides ein, das eng mit Dionysos verbunden sei und zahlreiche Parallelen zur Apg aufweise. In einem dritten Schritt vergleicht J. Schäfer die Berufungs- und Befreiungserzählungen in der Apg textanalytisch mit dem Euripidesdrama und zeigt, dass die Deutlichkeit der lexikalischen, inhaltlich-kontextuellen und motivischen Parallelen je nach Erzählkontext variiere. Dem Verfasser der Apg, der sich selbst als antiker Historiker verstehe, dienten die Anspielungen auf die Dionysosmysterien als Hilfsmittel für die Darstellung des Glaubens an Jesus Christus in der hellenistisch geprägten Kultur. Den antiken Lesern würden Assoziations-, Identifikations- und Anknüpfungsmöglichkeiten für den neuen Christusglauben geboten. Zu 22,1-21: Paulus werde wie in 9,1-19 als ein Streiter gegen Gott dargestellt; ebenso erscheine der König Pentheus als ein Streiter gegen (den) Gott (Dionysos). Die göttliche Lichterscheinung erinnere an den göttlichen Blitz, mit dem Dionysos das Haus des Pentheus in Flammen setze und der damit gegen Pentheus, den Verfolger des neuen Kultes, gerichtet sei. In 22,1-21 sei gegenüber 9,1-19 eine deutliche Steigerung in der Darstellungsweise der Lichterscheinung erkennbar.
M. Diefenbach 2006, 409-418 geht der Frage nach, was "Jesus erschien Paulus“ bedeutet. Er stellt eine Steigerung der Darstellung des so genannten Damaskusereignisses in der Apg fest. Obwohl der Verfasser der Apg aus einer ganz anderen zeitlichen und theologischen Perspektive auf Paulus zurückblicke, komme er ihm in vielem überraschend nahe. Obwohl die Damaskuserscheinung für diesen Verfasser keine Ostererscheinung sei, überrage sie doch in unvergleichlicher Weise alles, was in der Apg sonst noch an Visionen und Offenbarungen erzählt wird. Obwohl Paulus nach der Auffassung des Verfassers der Apg kein Apostel sei, würden die Größe seiner Berufung und die Vorbildlichkeit seines missionarischen Wirkens so meisterhaft geschildert, dass er als "Zeuge“ am Ende doch fast auf derselben Stufe wie die Apostel stehe. Die Missionstätigkeit des Paulus sei nach Apg 26 eine von Gott selbst gewollte, so auch der Standpunkt des Paulus im Galaterbrief.
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Beobachtungen: Die ursprüngliche Textfassung des Codex Bezae Cantabrigiensis bietet "epeson“ ("ich fiel“) statt "epesa“, ersetzt also die schwache Aoristendung (-sa) durch eine starke (-son).
Die Wortwahl in 22,7 entspricht weit gehend derjenigen in 9,4. Der einzige nennenswerte Unterschied ist, dass in 22,7 "gê“ ("Erde“) durch "edaphos“ ("Boden“) ersetzt ist, was den Aussagegehalt jedoch nicht ändert.
Weiterführende Literatur: D. Marguerat 1995, 127-155 geht den Fragen "Warum drei Berichte von Paulus' Bekehrung (Apg 9; 22; 26) und warum solch große Unterschiede zwischen den Berichten?“ unter erzählkritischen Gesichtspunkten nach. Fazit: Der Bericht variiere, je nachdem, wer berichtet − der Erzähler oder Paulus − und welches die Aussageabsicht ist. Wichtig sei auch die Frage nach der Funktion innerhalb der Gesamtkomposition der Apg. Apg 9,1-30 stelle Saulus' (= Paulus') Bekehrung als machtvolles Werk Christi dar. Apg 22 stelle das Judesein des Paulus heraus und Apg 26 mache deutlich, wie die Bekehrung unter den Heiden legitimiert wird.
Auch B. R. Gaventa 1986, 52-95 geht davon aus, dass die Unterschiede zwischen den drei Bekehrungsberichten mit den verschiedenen narrativen Kontexten zu erklären seien. Grundlage sei jedoch ein und dieselbe Tradition. Apg 9 stelle Paulus als Feind der Kirche, der Christ werde, dar. In Apg 22 stelle sich Paulus nach seiner Festnahme in einer ersten Verteidigungsrede als loyaler Jude dar, der vom "Gott der Väter“ aufgefordert worden sei, allen Völkern Zeugnis abzulegen. In der letzten Verteidigungsrede Apg 26 schließlich stelle sich Paulus als Opfer innerjüdischer Auseinandersetzungen dar.
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Beobachtungen: 22,8 entspricht sprachlich und inhaltlich weit gehend 9,5. Als kleine Änderungen sind zu nennen: In 22,8 findet sich "apekrithên“ ("ich antwortete“) statt "eipen“ ("er sprach“). In 22,8 wird durch das Personalpronomen "egô“ der Wechsel der sprechenden Person betont. Das Reden des "Herrn“ − aus V. 8. geht eindeutig hervor, dass Jesus gemeint ist - wird verdeutlicht, indem sich in 22,8 statt "ho de“ ("er aber [sprach]“) "eipen te…“ ("und er sprach…“) findet, wobei der Zusatz "pros me“ ("zu mir“) klarstellt, dass der "Herr“ zu Paulus redete.
Die Bezeichnung Jesu als "Nazoräer“ ("Nazôraios“) ist unklar. Am ehesten ist daran zu denken, dass die Bezeichnung besagt, dass Jesus aus der Stadt Nazareth stammt, also im Sinne von "aus Nazareth“ zu deuten ist. Dann wäre sie gleichbedeutend mit "Nazarênos“. Diese gleiche Bedeutung ist allerdings keineswegs sicher, zumal der Artikel "ho“ überflüssig wäre. Möglich sind auch Ableitungen aus dem Hebräischen oder Aramäischen, nämlich von "nazir“ ("Nasiräer“), von "nēṣär“ ("[messianischer] Spross“) oder von "nazir“ ("Fürst“).
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: In 22,9 heißt es bezüglich der Begleiter der Paulus "die bei mir waren“, in 9,7 "die Männer aber, die mit ihm reisten“. Ein nennenswerter Bedeutungsunterschied zwischen beiden Formulierungen liegt nicht vor.
Die Wahrnehmung der Reisebegleiter unterscheidet sich in den Schilderungen 9,7 und 22,9 erheblich. So heißt es in 22,9, dass die Reisebegleiter das Licht sahen. In 9,7 kommt dagegen das Licht nicht zu Sprache. Da es nur heißt, dass sie "niemanden“, also keine Person, sahen, können sie durchaus das Licht gesehen haben. Allerdings wird dies nicht ausdrücklich gesagt.
Bezüglich der Stimme scheint jedoch ein Widerspruch vorzuliegen: Gemäß 9,7 hörten die Reisebegleiter des Paulus die Stimme, gemäß 22,9 hörten sie die Stimme nicht. In beiden Versen handelt es sich um das gleiche Substantiv, nämlich "phôs“ ("Stimme“). Der Widerspruch kann also nicht so gelöst werden, dass auf unterschiedliche Substative von ähnlicher, aber eben nicht gleicher Bedeutung hinwiesen wird. Allerdings fällt auf, dass das Substantiv in 9,7 mit einem Genitiv verbunden ist, in 22,9 dagegen mit einem Akkusativ. Möglicherweise weist der Gebrauch eines unterschiedlichen Kasus darauf hin, dass es sich um jeweils eine ganz spezifische Art des Hörens handelte. In 9,7 könnte der Genitiv so zu deuten sein, dass die Reisebegleiter des Paulus die Stimme an sich hörten. Dann hätten sie gewusst, dass jemand spricht, wobei offen bliebe, ob sie auch verstanden, was gesprochen wurde. Die Antwort könnte 22,9 geben: Die Reisebegleiter hörten die Stimme nicht, d. h. sie verstanden nicht, was gesprochen wurde. Der Akkusativ würde also den Inhalt des von der Stimme Geredeten meinen, der Genitiv die Stimme an sich.
Dass das Licht, das die Begleiter des Paulus sahen, hell/gleißend war, wird nicht ausdrücklich gesagt. Geht man davon aus, dass das Licht dem Paulus und seinen Begleitern nicht unterschiedlich hell schien, bleiben nur zwei Möglichkeiten, den fehlenden Hinweis auf die Helligkeit des Lichtes zu erklären: entweder nahmen die Begleiter des Paulus das Licht nicht so hell wahr wie Paulus oder der Verfasser der Apg hielt einen erneuten Hinweis auf die Helligkeit des Lichtes nicht mehr für nötig, weil diese schon aus 22,6 hervorgegangen ist. Für die Annahme, dass die Wahrnehmung der Begleiter des Paulus eine andere als diejenige des Paulus war, spricht, dass den Reisebegleitern die Erscheinung nicht gegolten hatte. Als Christenverfolger waren sie nicht in Erscheinung getreten und sie hatten für die Geschichte des Christentums keine Rolle gespielt. Sie hatten im Rahmen der Erzählung der Apg keine andere Aufgabe, als den Hauptakteur Paulus zu begleiten und ihn nach dessen Erblindung an der Hand zu nehmen und nach Damaskus hinein zu geleiten.
Einige Textzeugen, darunter der Codex Bezae Cantabrigiensis, fügen ein, dass die Begleiter des Paulus Angst bekamen, als sie das Licht sahen.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Gemäß 22,10 wurde Paulus erst auf dessen Frage hin "Was soll ich tun, Herr?“ vom "Herrn“ gesagt, was er tun sollte. In 9,5-6 folgt dagegen unmittelbar auf die Klärung der Identität des sprechenden "Herrn“ eine Handlungsaufforderung an Paulus. Die zusätzliche Frage in 22,10 lässt Paulus etwas aktiver erscheinen.
Obwohl Paulus nicht wusste, wer das ihn umstrahlende Licht war oder von wem es ausging, redete er seinen Gesprächspartner mit "Herr“ an. Dabei kann "Herr“ als respektvolle Anrede eines unbekannten Wesens, als Bezeichnung für einen Höhergestellten (Mensch von besonderem Ansehen, Engel, Gott) oder als christologischer Titel verstanden werden. Auf jeden Fall führte die Erscheinung zu Demutsbekundungen: erst das Hinfallen, dann die Anrede "Herr“. Wird "Herr“ als christologischer Titel verstanden, so kann man schlussfolgern, dass sich Paulus unbewusst schon vor dem Erscheinungserlebnis zu Jesus Christus hingewandt hatte. Diese Hinwendung fand in einer Situation, in der Paulus spontan und unkontrolliert reagierte, ihren Ausdruck. In der Aussage "Der Herr aber sprach zu mir“ ist "Herr“ wohl als christologischer Titel zu verstehen, denn sie stammt vom bereits berufenen und christusgläubigen Paulus. Aus dem unterschiedlichen Gebrauch der Anrede geht ein Bewusstseinswandel hervor.
Die Handlungsaufforderung des "Herrn“ an Paulus gemäß 22,10 entspricht inhaltlich derjenigen in 9,6, unterscheidet sich jedoch in der Wortwahl. So wird u. a. die Stadt, in die Paulus hineingehen soll, ausdrücklich genannt: Damaskus. In 22,10 folgt auf "soi lalêthêsetai“ ("es wird zu dir geredet werden“) "peri pantôn…“ ("über alles“), wogegen es in 9,6 nur "lalêthêsetai soi“ ("es wird zu dir geredet werden“) heißt. Dies lässt auch eine nicht wortgleiche Übersetzung des Verbs "lalêthêsetai“ angemessen erscheinen: in 9,6 "es wird … gesagt werden“ (statt: "es wird zu…geredet werden“), in 22,10 "es wird zu … geredet werden“.
Es bleibt offen, von wem bestimmt worden ist. Zu denken ist zunächst an den Hohenpriester und an den Ältestenrat, von denen Paulus gemäß 22,5 die "Briefe“ an die "Brüder“ in Damaskus erhalten hatte. Vom Hohenpriester und vom Ältestenrat kann Paulus bestimmt worden sein, was er zu tun hat. Bedenkt man allerdings, dass Paulus aufgrund der Blindheit sein ursprünglich geplantes Vorhaben, die Christenverfolgung in Damaskus, nicht mehr in die Tat umsetzen konnte, so ist von dieser Deutung Abstand zu nehmen. Angesichts der Tatsache, dass die Blindheit auf das Wirken Jesu zurückging, ist davon auszugehen, dass es Jesus (oder Gott) war, der bestimmt hat, was zu tun ist. Es galt also nun vermutlich, einen Heilsplan Jesu (oder Gottes) umzusetzen.
Die Umsetzung des Heilsplans sollte zur Berufung des Paulus werden, weshalb man das "Damaskuserlebnis“ auch als Berufung verstehen kann. Diese Berufung beinhaltete den Glauben an Jesus Christus. Die Berufung brachte jedoch nicht das Ende der jüdischen Identität des Paulus mit sich. Die jüdische Identität blieb, jedoch in gewandelter Form. Dies ist zu bedenken, wenn man von einer "Bekehrung“ spricht. Paulus wurde durch die Bekehrung ein Christ, ohne seine jüdische Identität zu verlieren. Er wurde ein christusgläubiger (= messiasgläubiger) Jude.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Paulus erwähnte weder, dass er sich vom Boden aufrichtete, noch, dass sich seine Augen öffneten. Das mag damit zusammenhängen, dass Paulus weder das Aufrichten noch das Öffnen der Augen für erwähnenswert hielt. In der Erzählung 9,8 dagegen stellte das Aufrichten und das Öffnen der Augen jeweils ein eigenes Element im dramatischen Ablauf der Dinge dar.
Entgegen 9,8 heißt es in 22,11 nicht, dass Paulus "nichts“ ("ouden“) sehen konnte, sondern dass er "nicht“ ("ouk“) sehen konnte (vgl. 9,9). Die leicht unterschiedliche Wortwahl bringt jedoch keinen Bedeutungsunterschied mit sich. Ebenfalls unerheblich ist, dass in 22,11 das Verb "blepô“ ("sehen“) durch "anablepô“ ("wieder sehen“) ersetzt ist und die Übersetzung von 22,11 genau genommen "Da ich … nicht mehr sehen konnte, …“ statt "Da ich … nicht sehen konnte, …“ lauten muss, sofern man nicht annimmt, dass es sich um ein verstärkendes "ana-ʽʽ handelt. Das Imperfekt "ouk eneblepon“ weist darauf hin, dass die Blindheit eine längere Zeit währte. Diese Beobachtungen gelten nicht für den Codex Vaticanus, der − am Wortlaut von 9,8 ausgerichtet − "ouden eblepon“ ("ich sah nichts“) bietet, und nur teilweise für den Codex Laudianus und einige wenige Minuskeln, die "ouk eblepon“ ("ich sah nicht“) bieten.
In 22,11 wird ausdrücklich der "Glanz“ ("doxa“) als Grund dafür genannt, dass Paulus nicht sehen konnte. Der Glanz hatte die (vorübergehende) Blindheit verursacht. Dabei ist "Glanz“ nicht im Sinne von "Schimmer“ zu verstehen, sondern im Sinne von "gleißend helles Licht“. Vermutlich verweist die Formulierung "Glanz jenes Lichtes“ auch auf die göttliche Herkunft des Lichtes hin.
Zwar findet sich sowohl in 9,8 als auch in 22,11 das Verb "cheiragôgeô“ ("an der Hand führen“) findet, doch scheint ein leichter Bedeutungsunterschied vorzuliegen: In 9,8 folgt auf das Verb ein ähnliches Verb, nämlich "eisagô“ ("hineinführen“). Das Führen wird also durch das folgende Verb ausgedrückt. Insofern ist das Verb "cheiragôgeô“ in 9,8 wohl nicht im Sinne von "an der Hand führen“ zu verstehen, sondern im Sinne von "an der Hand nehmen“. In 22,11 dagegen folgt auf das Verb "cheiragôgeô“ das Verb "erchomai“ ("kommen“), das sich auf den Abschluss des Führens bezieht, aber nicht auf das Führen an sich. Folglich dürfte in diesem Vers das Verb "cheiragôgeô“ "an der Hand führen“ bedeuten und entsprechend zu übersetzen sein. Paulus wurde so lange an der Hand geführt, bis er Damaskus erreicht hatte. Dabei ist "nach Damaskus“ wohl nicht im Sinne von "an das Eingangstor von Damaskus“ zu verstehen, sondern "nach Damaskus hinein“. Innerhalb von Damaskus wird Paulus sicherlich nicht von seinen Begleitern verlassen worden sein, sondern diese werden ihn bis zu dem Haus geführt haben, das sein eigentliches Ziel war.
Auch das Verb "erchomai“ ("kommen“) lässt Paulus in einem Mindestmaß aktiv erscheinen: Paulus wurde zwar an der Hand geführt, ging jedoch selbst. Das Gehen des Paulus kommt in 9,8 nicht in den Blick.
Weiterführende Literatur: D. Hamm 1990, 63-72 legt dar, dass die Erblindung und das Wiedererlangen des Augenlichts in der Apg symbolische Bedeutung haben. In Apg 9 erfahre Paulus die Erblindung als eine Strafe Gottes und das Wiedererlangen des Augenlichts als göttliche Heilung. In Apg 22 werde derselbe Verlust und dasselbe Wiedererlangen des Augenlichts nur sehr zurückhaltend und dabei mehrdeutig berichtet. Und in Apg 26 schließlich wandele sich die Erblindung und das Wiederlangen des Augenlichts von einer konkreten Erfahrung des Paulus hin zu einer Metapher, die die endzeitliche Mission von Israel, Jesus und Paulus beschreibe.
Literaturübersicht
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Bechtler, Steven Richard; The Meaning of Paul’s Call and Commissioning in Luke’s Story: An Exegetical Story of Acts 9, 22, and 26, SBT 15/1 (1987), 53-77
Diefenbach, Manfred; Das "Sehen des Herrn“ vor Damaskus: Semantischer Zugang zu Apg 9, 22 und 26, NTS 52/3 (2006), 409-418
Gaventa, Beverly Roberts; From Darkness to Light: Aspects of Conversion in the New Testament (Overtures to Biblical Theology 20), Philadelphia, Pennsylvania 1986
Hamm, Dennis; Paul’s Blindness and Its Healing: Clues to Symbolic Intent (Acts 9; 22 and 26), Bib. 71/1 (1990), 63-72
Marguerat, Daniel; Saul’s Conversion (Acts 9,22,26) and the Multiplication of Narrative in Acts, in: C. M. Tuckett [ed.], Luke’s Literary Achievement (JSNTS 116), Sheffield 1995, 127-155
Schäfer, Jan; Zur Funktion der Dionysosmysterien in der Apostelgeschichte. Eine intertextuelle Betrachtung der Berufungs- und Befreiungserzählungen in der Apostelgeschichte und der Bakchen des Euripides, ThZ 66/3 (2010), 199-222
Witherup, Ronald D.; Functional Redundancy in the Acts of the Apostles: A Case Study, JNTS 48 (1992), 67-86