Apg 22,30
Übersetzung
Apg 22,30:30 Da er aber mit Gewissheit erfahren wollte, weshalb er von den Juden angeklagt wurde, nahm er ihm am folgenden Tag [die Fesseln] ab und befahl den Hohenpriestern und dem ganzen Hohen Rat sich zu versammeln. Und er führte (den) Paulus hinunter und stellte ihn vor sie.
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Beobachtungen: Schon bei der Festnahme des Paulus hatte der Tribun in Erfahrung bringen wollen, wer Paulus sei und was er getan habe (vgl. 21,33). Weil er wegen des von den aufgebrachten Juden verursachten Lärms den Sachverhalt nicht hatte klären können, hatte er befohlen, Paulus in die Kaserne abzuführen. An den in die Kaserne, die Burg Antonia, führenden Stufen war Paulus vom Tribun jedoch gestattet worden, eine Verteidigungsrede an die Juden zu halten (vgl. 21,39-40). Aus dieser Verteidigungsrede ließen sich nun zwar Anklagepunkte der Juden erschließen, jedoch blieben Unsicherheiten, weil erstens die Anklagepunkte nicht klar benannt worden waren, zweitens nur die Sicht des Paulus zur Sprache gekommen war und drittens sich die Verteidigungsrede nicht an den Tribun, sondern an die Juden gerichtet hatte. Der heidnische Tribun dürfte also angesichts dieses Streites unter Juden alle Mühe gehabt haben, den wahren Sachverhalt und die Anklagepunkte der Paulus angreifenden Juden zu verstehen. Angesichts der durch die Verteidigungsrede angeheizten Empörung der Juden (vgl. 22,22-24) und des nicht durchführbaren gewaltsamen Verhörs des Paulus (vgl. 22,25-29) dürfte sich der Tribun dazu gedrängt gesehen haben, mit Gewissheit in Erfahrung zu bringen, weshalb Paulus von den Juden angeklagt wurde. Die Anklagepunkte ließen sich am besten von den höchsten jüdischen Instanzen, den Hohepriestern und dem Hohen Rat, in Erfahrung bringen.
Die deutsche Übersetzung lässt offen, wer jeweils mit "er“ gemeint ist. Dies geht jedoch aus dem Zusammenhang hervor: Der Tribun (= "er“) wollte mit Gewissheit erfahren, weshalb Paulus (= "er“) von den Juden angeklagt wurde. Der Tribun (= "er“) nahm Paulus (= "ihm“) am folgenden Tag die Fesseln ab. Der Tribun (= "er“) führte Paulus hinunter.
Wovon der Tribun Paulus löste oder was er ihm abnahm, wird nicht gesagt. Da gemäß 21,33 Paulus mit zwei Ketten gefesselt worden war, ist − sofern Paulus die ganze Zeit über gefesselt geblieben ist - anzunehmen, dass ihm nun diese aus zwei Ketten bestehenden Fesseln abgenommen wurden.
Obwohl gemäß V. 29 die Fesselung des römischen Bürgers Paulus widerrechtlich war, nahm der Tribun dem Paulus erst am folgenden Tag die Fesseln ab. Mit der Befreiung von den Fesseln war Paulus jedoch kein freier Mann, sondern er wurde vom Tribun vor die Hohenpriester und vor den Hohen Rat geführt, vor denen er sich nun zu verantworten hatte. Dass er weiterhin als Gefangener betrachtet wurde, legt auch 23,18 nahe. Dies lässt annehmen, dass nur die Fesselung eines römischen Bürgers verboten war, nicht aber dessen Festnahme. Allerdings wirft eine solche Unterscheidung die Frage auf, wie der Tribun Paulus ohne Fesselung hätte festnehmen können, ohne dass diesem die Möglichkeit der Flucht gegeben worden wäre. Hätte sich der Tribun darauf verlassen müssen, dass Paulus bei einem Fluchtversuch von den Soldaten eingeholt und überwältigt worden wäre?
Die aktiven Verben lassen annehmen, dass der Tribun selbst Paulus die Fesseln abnahm und den Hohepriestern und dem ganzen Hohen Rat befahl, sich zu versammeln; dass er auch selbst Paulus hinunterführte und ihn vor die Hohepriester und den ganzen Hohen Rat stellte. Möglich ist aber auch, dass der Tribun diese Handlungen als Befehlshaber nur veranlassen ließ. Dann wäre die Übersetzung wie folgt: "Da er aber mit Gewissheit erfahren wollte, weshalb er von den Juden angeklagt wurde, ließ er ihm am folgenden Tag [die Fesseln] abnehmen und befahl den Hohepriestern und dem ganzen Hohen Rat, sich zu versammeln. Und er ließ (den) Paulus hinunterführen und ihn vor sie treten.“
V. 30 geht von einer Mehrzahl Hohepriester aus. Tatsächlich war jedoch zur Zeit der geschilderten Ereignisse nur Hananias (vgl. 23,2 u. a.; Amtszeit: 47-58/59 n. Chr.) Hohepriester. Möglicherweise bezieht hier der Verfasser der Apg Personen ein, die zwar genau genommen keine Hohenpriester waren, aber zu dessen engem Verwandtenkreis, zum Tempelpersonal oder zu den Ältesten gehörten (vgl. 4,1.6.23; 5,17.21.24.27). Nicht auszuschließen ist auch, dass der Verfasser der Apg nicht wusste, dass es nur einen Hohenpriester gab.
Der Verfasser der Apg geht davon aus, dass den Lesern der Apg das Gremium "Hoher Rat“ bekannt ist und fügt deshalb keine Informationen zu dessen Aufgaben und Zusammensetzung hinzu. Es geht aus dem Text nur so viel hervor, dass es sich um das höchste jüdische Entscheidungsgremium handelte.
Dass der Tribun den Paulus hinunterführte, lässt sich damit erklären, dass sich der Tribun und seine Soldaten sowie Paulus erhöht aufgehalten hatten. So hatte das gewaltsame Verhör des Paulus vermutlich in der Kaserne, der Burg Antonia, stattfinden sollen, die über das Tempelgelände mit dem Vorhof der Heiden aufragte.
Da abgesehen vom Hinunterführen kein nennenswerter Ortswechsel erwähnt wird, ist davon auszugehen, dass der Tribun, seine Soldaten und Paulus in der Nähe des Eingangs der Burg Antonia und damit auf dem Tempelgelände − konkret: auf dem Vorhof der Heiden −blieben. Dies dürfte auch der vom Tribun vorgesehene Ort der Versammlung der Hohenpriester und des Hohen Rates gewesen sein. Da der Verfasser dem Ort der Versammlung wohl keine besondere Bedeutung beimaß, ist aber auch möglich, dass die Versammlung an einem anderen Ort erfolgen sollte. Dann hätten zwar der Tribun, seine Soldaten und Paulus den Ort gewechselt, doch wäre dieser Ortswechsel mangels Bedeutung nicht erwähnt worden.
Es stellt sich die Frage, ob der Tribun überhaupt das Recht hatte, die Hohenpriester und den Hohen Rat zusammen zu rufen. Sofern dies nicht der Fall war, ist davon auszugehen, dass der Verfasser der Apg sich die Freiheit genommen hat, mittels des fiktiven Befehls des Tribuns der Erzählung einen flüssigen Fortgang von einer Szene zur nächsten zu verschaffen. Da sich weder der Hohepriester noch die Mitglieder des Hohen Rats dem Befahl des Tribuns widersetzten, ist anzunehmen, dass sie gegen die Versammlung keine ernsthaften Bedenken vorzubringen hatten und vielleicht froh waren, die Gelegenheit zu haben, Paulus zu verhören und/oder an den Pranger zu stellen.
Weiterführende Literatur: É. Delebecque 1984, 217-225 vertritt die Ansicht, dass nicht nur die kurze Fassung von 22,22-30, sondern auch die längere, westliche Textvariante von Lukas verfasst worden sei. Die längere, westliche Textvariante sei von Lukas später verfasst worden und arbeite den kürzeren Text weiter aus, orientiere sich jedoch eng an diesem.
Zu erleichterten Bedingungen der Gefangenschaft des Paulus siehe B. Rapske 1994, 145-149. Zu 22,30: Das Verb "elysen“ ("er löste“) sei mindestens als weitere Lockerung der Haftbedingungen des Paulus zu verstehen. Tatsächlich weise 22,30-23,10 darauf hin, dass Paulus für kurze Zeit aus römischer Haft völlig frei war. Zwar sei Paulus wieder Gefangener geworden (vgl. 23,18), jedoch seien 26,29; 28,16.20 nicht so zu deuten, dass Paulus wieder gefesselt wurde. Paulus sei in der Burg Antonia von Fesseln frei geblieben und habe sogar ein gewisses Ansehen genossen.
Laut H. W. Tajra 1989, 90 sei das Lösen der Fesseln so zu verstehen, dass Paulus nicht mehr an zwei Soldaten gefesselt war.
Literaturübersicht
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Delebecque, Édouard; L’art du conte et la faute du tribun Lysias selon les deux versions des Actes (22,22-30), LTP 40/2 (1984), 217-225
Rapske, Brian; The Book of Acts and Paul in Roman Custody (The Book of Acts in Its First Century Setting 3), Grand Rapids, Michigan - Carlisle 1994
Tajra, Harry William.; The Trial of Paul: A Juridical Exegesis of the Second Half of the Acts of the Apostles (WUNT II/35), Tübingen 1989