Apg 27,9-12
Übersetzung
Apg 27,9-12:9 Da aber viel Zeit vergangen und die Seefahrt bereits unsicher war, weil auch schon das Fasten verstrichen war, warnte (der) Paulus 10 und sagte zu ihnen: "Ihr Männer, ich sehe, dass die Weiterfahrt mit Unheil und großem Schaden nicht nur für die Ladung und das Schiff, sondern auch für unser Leben verbunden sein wird.“ 11 Der Hauptmann aber traute dem Steuermann und dem Schiffseigner mehr als dem von Paulus Gesagten. 12 Da der Hafen zum Überwintern ungeeignet war, fasste die Mehrheit den Beschluss, von dort abzufahren, um wenn irgend möglich nach Phönix zu gelangen, einem Hafen von Kreta, der gegen Südwest und Nordwest offen liegt, und [dort] zu überwintern.
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Beobachtungen: Nachdem das Segelschiff mit dem Hauptmann und den Gefangenen samt Begleitern in "Gute/Schöne Häfen“ ("Kaloi limenes“) eingelaufen war, stellte sich die Frage, ob man die Fahrt fortsetzen sollte. Warum sich diese Frage überhaupt stellte, wo doch eigentlich das Reiseziel, Rom, klar war, wird zwar nicht dargelegt, lässt sich jedoch erschließen.
Alle drei genannten Gründe für die Warnung des Paulus vor einer Weiterfahrt verbindet eines: Sie weisen allesamt auf die bereits weit vorangeschrittene Zeit hin, was bedeutet, dass die beste Reisezeit bereits verstrichen war und nun die Reisezeit immer schlechter wurde.
Es wird nicht gesagt, von welchem Zeitpunkt an viel Zeit verstrichen war. Ist an die Abfahrt von Cäsarea oder an die Abfahrt von Myra gedacht?
Das Adjektiv "episphalês“ ist mit "unsicher“ oder "gefährlich“ zu übersetzen. Da die bisherige Fahrt weniger von Gefahren als vielmehr von Mühen und langsamem Vorankommen wegen des ungünstigen Windes geprägt war (vgl. 27,1-8), ist hier die Übersetzung "unsicher“ vorzuziehen. "Unsicher“ dürfte zum einen die Ungewissheit beinhalten, ob man angesichts des schlechten Windes das Ziel überhaupt erreichen würde, zum anderen aber auch die Mühen und Gefahren. Die Gefahren rückten allerdings erst mit der Warnung des Paulus in den Mittelpunkt.
Der Verfasser der Apg konkretisiert "das Fasten“ nicht. Er dürfte also angenommen haben, dass die Leser der Apg wussten, welches Fasten gemeint war. Aus der Tatsache, dass dem Fasten hier nur mit Blick auf die bereits verstrichene beste Reisezeit Bedeutung zukommt, ist zu schließen, dass das Verstreichen des Fastens zugleich das Verstreichen der besten Reisezeit bedeutete.
Die Verschlechterung der Reisezeit weist darauf hin, dass bereits der Herbst angebrochen war. Nach dem 15. September galt die Schifffahrt über das offene Mittelmeer als gefährlich und zwischen dem 1. November und 10. März riskierte man möglichst keine Überfahrt mehr. In dieser Zeit galt das Meer als "geschlossen“ ("mare clausum“). "Das Fasten“ muss also im Herbst, entweder im September oder im Oktober, gelegen haben. Unklar ist, ob man an ein heidnisches, jüdisches oder christliches Fasten zu denken hat. Da die Apg zuvörderst aus jüdischer Sicht geschrieben ist und in ihr das Christentum in einem engen Zusammenhang mit dem Judentum gesehen wird, ist an ein jüdisches Fasten zu denken. In die Monate September und Oktober fiel der Versöhnungstag (Jom Kippur) am 10. Tischri, der ein Tag der Ruhe, des Fastens, des Gebets und der Umkehr war. Dem Versöhnungstag ging das Gedenken an die Ermordung des von den Babyloniern eingesetzten Statthalters Gedalja voraus. An diesem Gedenktag, dem 3. Tischri, wurde ebenfalls gefastet. An welchen dieser beiden Fastentage gedacht ist, lässt sich nicht sicher sagen, doch spricht für den Versöhnungstag dessen besondere Bedeutung.
Weiterführende Literatur: M.-É. Boismard, A. Lamouille 1987, 48-58 legen dar, dass die Apg in vier Redaktionsschritten (Apg I-IV) entstanden sei. Dabei sei Apg II auf Grundlage von Apg I entstanden, sei jedoch an den geänderten kirchlichen Rahmenbedingungen und neuen Anforderungen der Gemeinden ausgerichtet worden. Apg III habe Apg I und II miteinander verschmolzen und so bewahrt, allerdings einige Passagen überarbeitet und darüber hinaus auch neue eingefügt. Apg IV wiederum gründe auf Apg III, habe jedoch Unebenheiten geglättet und Ungereimtheiten beseitigt. Der westliche Text gebe Apg III wieder, der alexandrinische Text Apg IV. Diese These versuchen M.-É. Boismard, A. Lamouille anhand von Apg 27,1-13 zu belegen.
Zum "mare clausum“ siehe P. Pomey 1997, 25-26. Es habe sich nicht um ein formales Verbot, sondern um eine auf Erfahrung beruhende, unverbindliche Regel gehandelt.
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Beobachtungen: "Anêr“ ist gewöhnlich mit "Mann“ zu übersetzen, allerdings ist auch die Übersetzung "Mensch“ möglich. Die Anrede "andres“ ist folglich mit "ihr Männer“ zu übersetzen, wobei allerdings auch die Übersetzung "ihr Menschen“ möglich ist. Die Übersetzung "Menschen“ ist aber nur dann sinnvoll, wenn sich unter den Angeredeten mindestens eine Frau befand. Darauf gibt es jedoch keinen Hinweis.
Die Erwähnung der "Ladung“ ("phortion“) beweist, dass das Schiff kein reines Passagierschiff war, sondern auch oder in erster Linie Waren transportierte. Am ehesten ist daran zu denken, dass es sich bei der Ladung um Getreide aus Ägypten handelte, denn das Schiff kam aus der "Getreidekammer“ Alexandria und fuhr nach Italien (vgl. Apg 27,6).
Das Substantiv "hybris“ bedeutet gewöhnlich "Übermut“, "Zügellosigkeit“ oder "Gewalttätigkeit“. In 27,10 liegt allerdings die abweichende Bedeutung "Unheil“ vor, wobei allerdings die üblichen Bedeutungen indirekt ebenfalls zu bedenken sind: Das Unheil dürfte von den übermütigen, zügellosen oder gewalttätigen Wellen gedroht haben, die wiederum von dem übermütigen, zügellosen oder gewalttätigen Wind verursacht wurden.
Paulus wird als ein Mann dargestellt, dem eine gewisse Vorhersehungskraft zu eigen war. Sie kann angesichts der bekannten Wetterverhältnisse schlicht und einfach als Vorsicht und gesunder Menschenverstand gedeutet werden. Allerdings kann sie auch darauf zurückgeführt werden, dass Paulus im Dienste Gottes unterwegs war. Die Gottesnähe bewirkte bestimmte ungewöhnliche Fähigkeiten wie die Vorhersehungskraft.
Weiterführende Literatur: Möge Apg 27 auch detaillierte Orts- und Zeitangaben umfassen, die auf einen exakten Reisebericht schließen lassen könnten, möge dem erzählten Geschehen auch ein historischer Kern (vielleicht einige Notizen aus paulinischen Kreisen stammend) − eine ausführlicher Augenzeugenbericht liege kaum vor − zugrunde liegen, so sei der Duktus des gesamten, als Einheit gesehenen Kapitels laut R. Kratz 1997, 320-350 doch in erster Linie auf symbolisch-theologische (Be-)Deutung hin angelegt. Ein historischer Bericht lasse sich als Quelle unter Herauslösung der der lukanischen Redaktion zugeschriebenen Paulusszenen nicht herausarbeiten. Es sei aber nicht ausgeschlossen, dass Lukas als Endredaktor auf reichhaltiges Quellenmaterial zurückgegriffen hat. Seesturm- und Schiffbruchdarstellungen seien in antiker Literatur und mündlicher Tradition in reichem Angebot zuhanden, geradezu zur literarischen Gattung geworden. Veranlassung der lukanischen Darstellung müsse eine Notiz (in welchem Umfang auch immer) über die Gefangenschaftsreise des Paulus nach Rom, und damit über das gefährliche Mittelmeer gewesen sein. Zum Verständnis von Apg 27: Es gehe um die Rettung des christlichen Missionars durch Gott. Diesem seinem Verkündiger, der nicht zugrunde gehen könne, sondern in Rom vor den Kaiser treten müsse, um das Evangelium Christi ungehindert in der damaligen Weltmetropole verkündigen zu können, habe Gott auch das Leben der Mitfahrenden geschenkt. Paulus sei gleichsam der zweite − ins Positive verkehrte − Jona, der nicht vor seinem Gott davonlaufe, nicht von den Heiden beschämt werden müsse, sondern in vorbildlicher Weise zu seinem Gott stehe, ihn gläubig bekenne und dadurch den Reisegefährten Mut einflöße, ihre Rettung, ihr Heil herbeiführe.
Auch S. M. Praeder 1984, 683-706 sieht eine Beziehung zwischen Apg 27,1-28,16 und der antiken Literatur mit ihren Reiseberichten, Vorhersagen von Sturm und Schiffbruch und Sturmszenen sowie ihrer Sorge um Sicherheit auf Seereisen. Das den gesamten Abschnitt durchziehende gemeinsame theologische Thema sei die Sendung des in Jesus Christus und seiner Kirche gegründeten göttlichen Heils zu den Heiden.
C. H. Talbert, J. H. Hayes 1995, 321-326 befassen sich mit folgenden Fragen: Welcher theologische Inhalt hat sich den Lesern der Sturmberichte Lk 8,22-25 und Apg 27 erschlossen? Wie fügen sich diese beiden Sturmberichte in das lukanische Gesamtwerk ein? Ergebnis (zu Apg 27): Der Schiffbruch und der Angriff der Schlange seien keine Strafe Gottes gewesen. Die Rettung des Paulus sei nicht auf dessen Leistung, sondern auf den Plan Gottes zurückzuführen. Gott erweise Paulus als Gerechten, nicht als Sünder. Dem entspreche, dass in 23,12-26,32 auch Menschen die Unschuld des Paulus bekräftigten. Diese Aspekte fügten sich nahtlos in den weiteren literarischen und theologischen Horizont des lukanischen Gesamtwerkes ein.
C. K. Barrett 1987, 51-64 setzt sich kritisch mit der Meinung auseinander, dass Paulus wie die anderen Apostel ein "Gottesmann“ gewesen und als Nachfolger seines Meisters Jesus mit der gleichen göttlichen Kraft versehen und von dem gleichen göttlichen Geist wie dieser geleitet gewesen sei. Laut C. K. Barrett werde zwar verschiedentlich suggeriert, dass Paulus ein "Gottesmann“ sei, tatsächlich sei er es jedoch nicht. So sei beispielsweise die Vorhersage V. 10 menschlicher Erfahrung entsprungen und widerspreche der Vorhersage von V. 22, wonach keiner von den Schiffbrüchigen umkommen werde, nur das Schiff. Letztere Vorhersage basiere auf der Erscheinung des Engels Gottes.
J.-N. Aletti 1996, 375-392 sieht in der Erzählung vom Schiffbruch Apg 27 eine Analogie zur Szene am Fuße des Kreuzes Jesu Lk 23. In beiden Erzählungen werde in einem Augenblick die Unschuld bekräftigt, in der sich das Gegenteil nahe lege. Parallele zwischen Apg 27,10 und Lk 22,37-38 zum Ernst der Lage.
Aus der Herkunft des Schiffes aus Alexandria (vgl. 27,6) und aus der Erwähnung des Begriffes "sitos“ (vgl. 27,38) werde laut C. Reynier 2006, 76-80 gewöhnlich geschlossen, dass das Schiff Getreide geladen habe. Diese Schlussfolgerung sei jedoch falsch. Staatliche, militärisch bewachte Getreideflotten seien von Alexandria nicht aufgebrochen. Private Schiffe hätten zwar Getreide geladen, aber ab einer bestimmten Schiffgröße seien auch andere Güter transportiert worden. "Sitos“ bezeichne nicht nur Getreide, sondern auch andere Nahrung wie insbesondere Brot im Gegensatz zum Fleisch.
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Beobachtungen: Dass der Hauptmann mehr dem Steuermann und dem Kapitän als dem von Paulus Gesagten traute, wird als ein Fehler dargestellt. Allerdings ist zu bedenken, dass Paulus ein Gefangener war. Dass der Hauptmann eher einem Gefangenen - und ihm somit Untergebenen - hätte trauen sollen als den für das Schiff und die Seereise Zuständigen, ist nicht realitätsnah. Allerdings ging es dem Verfasser der Apg wohl auch kaum um eine historisch korrekte und damit realitätsnahe Schilderung der Begebenheiten, sondern um die Vermittlung eines bestimmten Paulusbildes. So wollte er Paulus als einen trotz seiner Gefangenschaft selbstbewussten und in einem gewissen Rahmen durchaus angesehenen Mann darstellen. Als ein solcher Mann konnte er durchaus warnen und darauf setzen, dass man auf ihn hören würde.
Der "kybernêtês“ war der Steuermann. Dabei stellt sich die Frage, ob der Kapitän gemeint ist oder ein anderer Steuermann. Falls es neben dem Kapitän einen weiteren Steuermann oder mehrere weitere Steuermänner gab, stellt sich die Frage, ob dem Kapitän die oberste Befehlsgewalt zukam oder einem anderen Steuermann.
Wer der "nauklêros“ war, lässt sich nicht sicher ausmachen. Wahrscheinlich handelte es sich um den Schiffseigner. Dieser mag mit auf dem Schiff gereist sein, kann aber ebenso an Land geblieben sein und nur dort sein Wort erhoben haben. Wie auch immer: Er hatte großes Interesse daran, dass das Schiff unversehrt am Zielort ankam.
Weiterführende Literatur: B. Rapske 1994, 372-379 setzt sich kritisch mit der These von W. M. Ramsay auseinander, wonach es sich bei dem alexandrinischen Schiff um ein staatliches Schiff gehandelt habe, über das der Hauptmann die höchste Befehlsgewalt gehabt habe. Laut B. Rapske sei eher von einem privat geführten Schiff auszugehen.
Laut C. Reynier 2006, 80-82.90 habe es sich bei dem "kybernêtês“ um den Steuermann gehandelt, der oftmals voreilig als Kapitän identifiziert werde. Die Aufgaben des Steuermanns, nämlich die Bedienung der Steuerrades, das Halten des Kurses und die Beobachtung des Himmels bei Tag und Nacht hätten nicht von einer Person allein bewältigt werden können, sondern es habe sowohl eines Steuermanns als auch eines Kapitäns bedurft. Im Konfliktfall oder bei extremen Witterungsbedingungen habe der Steuermann die oberste Befehlsgewalt innegehabt. Dass gemäß V. 11 letztendlich ein Mehrheitsbeschluss bezüglich der Weiterfahrt gefasst wurde, sei angesichts dieser Tatsache erstaunlich.
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Beobachtungen: Zwischen V. 10-11 und V. 12 besteht eine Spannung. In V. 10-11 erscheint ein Überwintern in "Gute/Schöne Häfen“ ("Kaloi limenes“) als richtig, in V. 12 als falsch. Gemäß V. 10-11 war Paulus im Recht, gemäß V. 12 war er im Unrecht. Gemäß V. 10-11 erscheinen der Hauptmann, Steuermann und der Kapitän/Schiffseigner als leichtsinnig und verantwortungslos, in V. 12 als wissend und verantwortungsbewusst. Wie lässt sich diese Spannung erklären? Es ist gut möglich, dass zwischen V. 10-11 und V. 12 ein literarischer Bruch vorliegt. Dann wären die V. 10-12 nicht als ein ursprünglich zusammenhängender, vielleicht auf einer Quelle oder Tradition fußender oder auf die Feder des Verfassers der Apg zurückgehender Text anzusehen. Der literarische Bruch mag den Verfasser der Apg insofern nicht gestört haben, weil ihm zwei Dinge wichtig waren: Zum einen wurde die Reise ohne Überwinterung fortgesetzt. Sollten der Hauptmann, der Steuermann und Kapitän/Schiffseigner nicht als gänzlich leichtsinnig und verantwortungslos erscheinen, bedurfte es eines guten Grundes für die unverzügliche Fortsetzung der Reise trotz der Warnung des Paulus. Einen solchen guten Grund stellte die Tatsache dar, dass "Gute/Schöne Häfen“ zum Überwintern ungeeignet war. Zum anderen hätte das Fehlen eines guten Grundes für die Weiterfahrt das Wort des Paulus als völlig unbedeutend erscheinen lassen. Das wäre jedoch der Absicht des Verfassers der Apg zuwidergelaufen, Paulus trotz dessen Gefangenschaft als einen Mann von einem gewissen Ansehen darzustellen, dessen Wort Gewicht hatte.
Zusätzlich zu diesen Beobachtungen ist zu bedenken, dass der Beschluss der Weiterfahrt ohne Überwinterung in "Gute/Schöne Häfen“ nicht nur von dem Hauptmann, dem Steuermann und dem Kapitän/Schiffseigner gefasst wurde, sondern von "der Mehrheit“. Dabei wird jedoch nicht ausdrücklich gesagt, von welcher Gruppe es die Mehrheit war. Die fehlende genauere Bestimmung der Gruppe lässt daran denken, dass es sich um die Schiffsbesatzung handelte. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob es die gesamte Schiffsbesatzung − Hauptmann und evtl. weiteres militärisches Personal, Steuermann, Kapitän/Schiffseigner und evtl. Matrosen, Gefangene und Begleitpersonen − war, oder nur ein Teil davon.
Warum "Gute/Schöne Häfen“ ("Kaloi limenes“) zum Überwintern ungeeignet war, bleibt offen. Überhaupt verwundert die fehlende Eignung, hatte er doch eben noch vor den ungünstigen, vermutlich aus westlichen Richtungen wehenden Herbstwinden Schutz geboten. Drehten die Winde im Winter? Oder hatte die fehlende Eignung nichts mit den Winden zu tun?
"Hoi pleiones“ ist wörtlich mit "die meisten“ zu übersetzen. Demnach hätten sich die meisten für eine Weiterfahrt ohne Überwinterung in "Gute/Schöne Häfen“ ausgesprochen. Diese mehrheitliche Meinung kann aus der Diskussion erschlossen worden sein. Es kann aber auch eine formale Abstimmung gegeben haben. Dann hätten die meisten für eine Weiterfahrt ohne Überwinterung gestimmt. Wie auch immer: Die Mehrheit hat sich durchgesetzt, die Minderheit musste sich der Mehrheit beugen.
Die Formulierung "wenn irgend möglich“ ("ei pôs dynainto“) macht deutlich, dass sich auch die Mehrheit, die die unverzügliche Weiterfahrt befürwortete, durchaus der zu erwartenden Schwierigkeiten und Gefahren bewusst war. Unklar ist, in welchem Maße dieses Bewusstsein durch die Warnung des Paulus bewirkt worden war.
Die genaue Lage des Hafens Phönix ist unbekannt. Geht man − V. 12 entsprechend − von einer Lage an der Küste der Insel Kreta aus, lag der Hafen Phönix vielleicht an einer Landzunge (Kap Muros) etwa 80 Kilometer westlich von "Gute/Schöne Häfen“ ("Kaloi limenes“) und etwa 55 Kilometer östlich der Westspitze von Kreta. Dabei ist sowohl an die Bucht Lutro an der Ostseite der Landzunge als auch an die Bucht von Phineka an der Westseite zu denken.
Gemäß V. 12 blickte der Hafen Phönix nach Südwesten (lips) und nach Nordwesten (chôros), was vermutlich bedeutet, dass er nach Westen hin geöffnet war. Demnach lag er auf der Westseite der Landzunge, nicht auf der Ostseite. Damit hätten jedoch die Winde von Westen her − "lips“ kann auch Südwestwind und "chôros“ auch Nordwestwind bedeuten −, die an der Südküste Kretas (mindestens im Herbst) vermutlich vorherrschten (vgl. Apg 27,7-8), ungehindert in den Hafen hineinblasen können. Schutz vor diesen Winden konnte ein Hafen jedoch nur bieten, wenn er nach Westen hin geschlossen war. Folglich müsste V. 12 im Sinne von "einem Hafen von Kreta, der Schutz vor dem Südwest- und Nordwestwind bot“ gedeutet werden. Der altgriechische Wortlaut gibt jedoch eine solche Deutung nicht her. Wenn der nach Westen geöffnete Hafen im Winter Schutz bot, dann ist daraus zu schließen, dass der Wind in dieser Jahreszeit vornehmlich aus östlichen Richtungen, vielleicht auch aus nördlichen oder südlichen wehte.
Angesichts der Tatsache, dass − zumindest im Herbst − die Südküste Kretas vor ungünstigen Winden besser geschützt war als die Nordküste (vgl. Apg 27,7), und der Tatsache, dass das Segelschiff von "Gute/Schöne Häfen“ ("Kaloi limenes“) nach Phönix nicht über das offene Meer zu fahren brauchte, sondern sich an der Küste Kretas halten konnte, erscheint die drohende Gefahr als etwas übertrieben dargestellt. Oder sollte sich die Lage für die Schifffahrt binnen kurzer Zeit an der Südküste Kretas so gravierend verschlechtern?
Weiterführende Literatur: Einen Forschungsüberblick über die Frage, wie die Wir-Stücke zu erklären sind, bietet J. Börstinghaus 2010, 282-304. Grundsätzlich habe man fünf Möglichkeiten erwogen, die Wir-Stücke zu erklären: a) Der traditionelle Ansatz: Man nehme an, dass der Verfasser durch das Wir anzeige, welchen Geschehnissen er als Augenzeuge und somit historischer Paulusbegleiter selbst beigewohnt hat. b) Der quellenkritische Ansatz: Man nehme an, dass der Verfasser eine Quelle, die bestimmte Phasen der Paulusreisen schilderte und im sog. "Wir-Stil“ verfasst war, ganz oder auszugsweise bzw. gekürzt zitiert und die 1. Pers. Pl. übernommen habe. c) Der Anspruch des Verfassers: Man nehme an, dass der Verfasser durch die Wir-Passagen einen (unberechtigten) Anspruch auf Augenzeugenschaft oder zumindest auf Erfahrung als Seereisender im östlichen Mittelmeerraum erhebe. d) Die literarische Erklärung: Man nehme an, dass Wir-Passagen ein literarisches Stilmittel seien, das auch sonst belegbar ist; der Verfasser habe sich dieses Stilmittel zunutze gemacht. e) Die theologische Erklärung: Man nehme an, dass der Verfasser die Wir-Passagen mit einer (im weiteren Sinne) theologischen Aussageabsicht eingesetzt habe. J. Börstinghaus sehe derzeit keine in jeder Hinsicht schlüssige und befriedigende Lösung für das Wir-Problem und versuche daher auf S. 304-345, wenigstens für das Wir-Stück 27,1-28,16, einen neuen (?) Erklärungsversuch zu unterbreiten. Dabei knüpft er an die Idee eines Rechenschaftsberichtes an. Diese sei von D.-A. Koch konsequent auf das eine Wir-Stück Apg 20,5-21,18 bezogen worden. Das sei ebenso neu wie die präzisen Überlegungen zu Abfassungs- und Verwendungszweck des Dokuments. D.-A. Koch 1999, 367-390 vertrete die plausible These, dass das zweite Wir-Stück (Apg 20,5-21,18) und nur dieses (ohne die Abschiedsrede in Milet 20,18-35), aber mit der Liste der Teilnehmer an der Kollektendelegation (20,4) auf einem Rechenschaftsbericht basiere, der auch in der 1. Pers. Pl. abgefasst gewesen sei. Dieser Rechenschaftsbericht habe dazu gedient, nach der Rückkehr von den einzelnen Gemeinden Rechenschaft über die Durchführung der Kollekte zu geben. In Analogie zu diesem Rechenschaftsbericht der Kollektendelegation nimmt J. Börstinghaus einen Rechenschaftsbericht an, in dem die wohl von der Gemeinde in Cäsarea dem Paulus als Geleit mitgeschickten Männer über ihr Tun und Lassen während der Reise nach Rom Bericht erstatteten, nachdem sie zu ihrer Gemeinde nach Cäsarea zurückgekehrt waren. Dieser Rechenschaftsbericht werde nur eine dürre Ansammlung von Informationen zum Inhalt gehabt haben, die Lukas aber als Gerüst einer großen Seereiseerzählung gedient haben dürften. Diese habe er dann, durch verbreitete Seefahrtserzählungen beeinflusst, relativ selbstständig und frei gestaltet, dabei aber die Erzählperspektive aus der 1. Pers. Pl. aus dem Bericht übernommen. Dem Lukas vorliegenden Rechenschaftsbericht seien in erster Linie die Orts- und Personennamen in 27,1-9.12 sowie in 28,1.11-16 zuzuweisen. Darüber hinaus könnten in dem Bericht auch einzelne Informationen über den Fahrtverlauf enthalten gewesen sein, wahrscheinlich auch die Zahlenangabe 276 in 27,37.
C. J. Hemer 1985, 79-109 deutet den Wir-Bericht in Apg 27-28 als Ausdruck der "Unmittelbarkeit“ der Erfahrung des Verfassers.
C.-J. Thornton 1991, 200-367 legt dar, dass Lukas nicht habe im Sinne der antiken Geschichtsschreibung Augenzeugenschaft für bestimmte Ereignisse beanspruchen wollen. Andernfalls hätte es genügt, im Proömium darauf hinzuweisen, dass er Paulus auf einigen seiner Reisen begleitet hatte und darum teilweise aus eigener Anschauung berichten könne. Aufgrund der detaillierten Darstellung der Europa-, Jerusalem und Romreise hätten die Leser selbstverständlich gewusst, wo der Erzähler am Geschehen beteiligt war. Allenfalls hätte er am gegebenen Ort jeweils hinzugefügt, dass er dies oder jenes miterlebt habe. Dies sei aber nicht seine Absicht gewesen. Vielmehr wolle sich Lukas einem relativ begrenzten und überschaubaren Kreis von Lesern gegenüber als Zeuge dafür verstanden wissen, dass und wie sich in entscheidenden Momenten der Geschichte des Christentums der göttliche Plan verwirklichte.
Laut J. Wehnert 1989, 44-45.110-112.193-196 werfe die sporadische bzw. ganz fehlende Verwendung des "Wir“ in den Abschnitten 27,13-44; 28,3-6.8-10a die Frage auf, ob es sich hierbei um sekundäre Erweiterungen des Romreiseberichts handelt. Für diese Möglichkeit spreche vor allem, dass der Reisebericht 27,1-8 eine glaubwürdige und folgerichtige Fortsetzung erst in 28,11ff. finde: Das dreimonatige Überwintern von Schiff und Besatzung hätte in diesem Fall auf Kreta stattgefunden. Für diese Möglichkeit spreche weiter, dass das alexandrinische Schiff mit Fahrtziel Italien von 27,6 mit dem alexandrinischen Schiff mit Fahrtziel Syrakus - Rhegion − Puteoli von 28,11-13 fraglos identisch sein kann, so dass sich die historische Frage nach einem Schiffbruch des Paulus vor Malta erübrige. Der Aufenthalt auf Malta habe wohl nur drei Tage und nicht drei Monate gewährt. Ansonsten sei der Widerspruch zwischen den Zeitangaben "drei Tage“ (vgl. 28,7) und "drei Monate“ (vgl. 28,11) unlösbar. Als Resultat hält J. Wehnert fest, dass zwischen der Reisebeschreibung 27,1-8; 28,1-2.7.10-16 und den lukanischen Ergänzungen (den Pauluspassagen samt dem Seeabenteuer 27,9-44 sowie den Wundergeschichten 28,3-6.8-9; sämtlich mit dem Wir-Bericht nur lose oder gar nicht verknüpft) deutlich unterschieden werden müsse. Statt des von Lukas berichteten Schiffbruchs vor Malta sei in der Tradition wohl nur von einer (etwa dreimonatigen) Überwinterung auf Kreta die Rede gewesen, nach deren Ende die Fahrt nach Italien (mit dreitägigem Zwischenaufenthalt auf Malta) bestimmungsgemäß fortgesetzt worden sei. Eine kritische Auseinandersetzung mit der literarkritischen Analyse von J. Wehnert bietet A. Suhl 1991, 21-28.
R. W. White 2002, 405 vertritt die Ansicht, dass "aneuthetos“ in V. 12 wohl nicht im Sinne von "ungeeignet“ zu verstehen sei, sondern im Sinne von "zu wenig geräumig“. Zum Überwintern sei der Hafen von "Gute Häfen“ durchaus geeignet gewesen. Dies habe jedoch nicht für das Fischerdorf gegolten, das im Winter der Schiffsbesatzung nicht ausreichend Leben geboten habe.
H. Warnecke 1987, 19-34 (vgl. H. Warnecke 2000, 53-61) geht nicht davon aus, dass Phönix auf Kreta gelegen hat. An keinem der auf Kreta vermuteten Plätze lasse sich ein mit Sicherheit bis ins 1. Jh. n. Chr. zurückreichender Hafenort nachweisen. Außerdem öffneten sich alle auf Kreta mit dem Hafen Phönix identifizierten Buchten auch nicht annähernd nach Südwesten und Nordwesten, die Phineka-Bai vielmehr sichelartig nach Süden, die Lutro-Bucht trichterförmig nach Südosten und die von Lammon auf breiter Front nach Süden. Der Schlüssel für eine erfolgreiche Suche des Hafens Phönix, der den Angaben der Apg vollauf entspricht, liege in dem Ausdruck "limên tês Krêtês“. Dieser genitivus qualitatis werde durch die gängige Übersetzung "Hafen auf Kreta“ unnötig auf seine präpositionale Bedeutung "auf“ reduziert; die Übersetzung könne nämlich auch "Hafen für Kreta“ lauten, d. h. einen Hafen für den Seeverkehr von und nach Kreta. Das das Paulus-Schiff von Kreta aus mit Westnordwest-Kurs in Richtung Italien (vgl. 27,1) habe laufen sollen und für die Fahrt nach Phönix den aufkommenden Südwind (der später auf Ost gedreht habe) genutzt habe (vgl. 27,13-14), sei der gesuchte Etappenhafen nordwestlich von Kreta anzusetzen, also im Bereich der Südspitzen der Peloponnes.. Und tatsächlich habe es dort einen "Hafen Phönikus“ ("limên Phoinikous“) gegeben. J. Wehnert 1990, 76-77 erwidert: Weder existierten analoge antike Belege für die von H. Warnecke vorgebrachte Deutung des Genitivs - schon gar nicht im lukanischen Doppelwerk -, noch sei diese Deutung sachlich plausibel. Da limena tês Krêtês aus kretischer Perspektive formuliert sei und eine Reise von Kreta weg andeuten solle, könne der Zielhafen nicht durch Angabe seiner Gegenrichtung (als Hafen nach Kreta) näher beschrieben werden. Jeder Hafen außerhalb Kretas sei ein möglicher Hafen für Kreta.
Ebenso wie H. Warnecke meint auch C.-J. Thornton 1991, 333, dass der Hafen Phönix nicht auf Kreta liegen könne. Dies sei einerseits aus den verschiedensten erzählerischen und sachlichen Gründen nicht möglich; andererseits solle besagter Hafen "nach Südwesten und Nordwesten“ blicken, während "blepein kata“ ("blicken nach / offen liegen gegen“) doch nur mit einer einzigen Himmelsrichtung verbunden werden könne. Ein sinnvolles Verständnis des Textes scheine ihm nur bei einer geringfügigen Umstellung des korrupten Textes V. 12 möglich zu sein: "kata chôron“ ("nach/gegen Nordwest“) könne nicht von "blepein“ (blicken / offen liegen) abhängig sein, sondern müsse vor "tês Krêtês“ gestellt werden. Lukas hätte demzufolge von einem Hafen Phönix nordwestlich von Kreta, der nach Südwesten hin ausgerichtet ist, gesprochen. J. Börstinghaus 2010, 426-432 sieht berechtigte Bedenken gegen die Lokalisierung von Phönix auf Kreta, jedoch könnten die beiden Vorschläge von J. Wehnert und C.-J. Thornton letztlich auch nicht überzeugen. Fazit: Wo Phönix liegt, sei nicht mehr sicher auszumachen.
Literaturübersicht
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Aletti, Jean-Noël; Le naufrage d’Actes 27: mort symbolique de Paul?, in: A. Marchadour [éd.], L’Évangile exploré (LeDiv 166), Paris 1996, 375-392
Barrett, Charles Kingsley; Paul Shipwrecked, in: B. P. Thompson [ed.], Scripture: Meaning and Method, FS A. T. Hanson, Hull 1987, 51-64
Boismard, Marie-Émile, Lamouille, A.; Le texte Occidental des Actes des Apôtres. À propos de Actes 27,1-13, ETL 63/1 (1987), 48-58
Börstinghaus, Jens; Sturmfahrt und Schiffbruch: Zur lukanischen Verwendung eines literarischen Topos in Apostelgeschichte 27,1 − 28,6 (WUNT II/274), Tübingen 2010
Hemer, Colin J.; First Person Narrative in Acts 27-28, TynB 36/1 (1985), 79-109
Koch, Dietrich-Alex; Kollektenbericht, “Wir”-Bericht und Itinerar. Neue (?) Überlegungen zu einem alten Problem, NTS 45 (1999), 367-390
Kratz, Reinhard; Rettungswunder: Motiv-, traditions- und formkritische Aufarbeitung einer biblischen Gattung (Europäische Hochschulschriften: Reihe XXIII, Theologie; Bd. 123), Frankfurt a. M. u. a. 1997
Pomey, Patrice; Les conditions de la navigation, in: P. Pomey [éd.], La Navigation dans l’Antiquité, Aix-en-Provence 1997, 18-35
Praeder, Susan Marie; Acts 27:1-28:16: Sea Voyages in Ancient Literature and the Theology of Luke-Act, CBQ 46/4 (1984), 683-706
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Reynier, Chantal; Paul de Tarse en Méditerranée. Recherches autour de la navigation dans l’Antiquité (Ac 27-28,16) (LeDiv 206), Paris 2006
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