Apg 28,17-22
Übersetzung
Apg 28,17-22:17 Es geschah aber nach drei Tagen, dass er die (,welche die) Vornehmsten der Juden (waren), zusammenrufen ließ. Als sie zusammengekommen waren, sagte er zu ihnen: "(Ich,) Brüder, obwohl ich nichts gegen das Volk oder die väterlichen Bräuche getan habe, bin ich von Jerusalem aus in die Hände der Römer ausgeliefert worden. 18 Sie haben mich verhört und wollten mich freilassen, weil bei mir keine todeswürdige Schuld vorlag. 19 Da aber die Juden Einspruch erhoben, sah ich mich genötigt, den Kaiser anzurufen − nicht als ob ich mein Volk in irgendeiner Weise anzuklagen hätte. 20 Aus diesem Grund nun habe ich euch herbeirufen lassen, um euch zu sehen und zu euch zu reden; denn um der Hoffnung Israels willen trage ich diese Kette.“ 21 Sie aber sagten: "Wir haben weder ein dich betreffendes Schreiben aus Judäa erhalten noch ist einer von den Brüdern gekommen, der etwas Schlechtes über dich berichtet oder gesagt hätte. 22 Wir würden aber gerne von dir hören, was du meinst. Denn von dieser Gruppe ist uns immerhin bekannt, dass sie überall auf Widerspruch stößt.“
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Beobachtungen: Paulus war als Gefangener nach Rom gebracht worden, wo er dem Kaiser zum Prozess vorgeführt werden sollte und bis dahin in Gewahrsam gehalten wurde. Er genoss das Privileg, "für sich“ wohnen zu dürfen, nur von einem Soldaten bewacht (vgl. 28,16). Die Glaubensgenossen ("Brüder“), die zu seinem (und seiner Begleiter) Empfang bis Forum Appii und Tres Tabernae gekommen waren und ihn nach Rom hinein begleitet hatten, verschwinden jedoch mit V. 17 von der Bildfläche. Das lässt sich mit einem Szenenwechsel erklären.
28,17 setzt ganz selbstverständlich voraus, dass sich in Rom Juden aufhielten. Das erstaunt angesichts der Tatsache, dass gemäß 18,2 der Kaiser Claudius angeordnet hatte, dass alle Juden Rom zu verlassen hätten. Diese Anordnung ist vermutlich 49 n. Chr. erfolgt. Wie ist dieser (scheinbare?) Widerspruch zu erklären? Möglich ist, dass 18,2 nicht der historischen Realität entspricht, Claudius also eine solche Anordnung zumindest nicht diesem Wortlaut nach erlassen hat. Es ist aber auch möglich, dass die Anordnung nicht konsequent umgesetzt und/oder befolgt wurde. Vielleicht wurde es aus irgendeinem Grund den "Vornehmsten“ der Juden gestattet, in Rom zu verbleiben. Und schließlich ist auch daran zu denken, dass zumindest ein Teil der Juden zwischenzeitlich wieder nach Rom zurückgekehrt war, vielleicht weil sich die Lage in Rom beruhigt hatte.
Ein ganz isoliertes Dasein fristete Paulus während seiner Gefangenschaft in Rom nicht, denn sonst wäre es ihm nicht möglich gewesen, die "Vornehmsten“ der Juden zusammen zu rufen. Es ist unklar, wie er die "Vornehmsten“ der Juden zusammenrufen konnte. Dass er die einzelnen "Vornehmsten“ persönlich aufsuchte, ist angesichts seiner Gefangenschaft eher unwahrscheinlich. Das hätte nämlich bedeutet, dass er überall hin von dem Soldaten hätte begleitet werden müssen. Wahrscheinlicher ist, dass er die "Vornehmsten“ der Juden zusammenrufen ließ, wobei unklar ist, wer zu den einzelnen "Vornehmsten“ hinlief. Ohne Verbindungsleute wäre es Paulus unmöglich gewesen, sein Ansinnen bekannt zu machen. Der Soldat wird nicht die Verbindung zwischen Paulus und den "Vornehmsten“ der Juden hergestellt haben, denn er hatte Paulus zu bewachen. Es ist also anzunehmen, dass Paulus in seiner Wohnung oder Zelle von Menschen aufgesucht werden konnte. Vermutlich hat Paulus bestimmte Besucher beauftragt, die "Vornehmsten“ der Juden zusammen zu rufen. Um welche Besucher es sich genau handelte und welche Religionszugehörigkeit sie hatten, lässt sich nicht sagen.
Der mediale Infinitiv "synkalesasthai“ kann sowohl mit "zusammenrufen“ als auch mit "zusammenrufen lassen“ übersetzt werden. Die Übersetzung mit "zusammenrufen“ betont die Initiative des Paulus, angesichts der eingeschränkten Handlungsfähigkeit des Paulus jedoch nicht dessen Handeln, also das eigenständige Zusammenrufen. Die Übersetzung "zusammenrufen lassen“ betont, dass zwar die Initiative von Paulus ausging, jedoch die Handlung des Zusammenrufens von anderen Personen ausgeführt wurde.
Es ist fraglich, ob der Zeitangabe "nach drei Tagen“ eine besondere Bedeutung zukommt. Warum hat Paulus drei Tage mit dem Zusammenrufen gewartet? Am ehesten lässt sich das damit erklären, dass sich Paulus in seiner neuen Wohnstatt eingewöhnen musste. Außerdem bedurfte es wohl dieser Zeit, bis Paulus die für das Zusammenrufen notwendigen Kontakte hergestellt hatte. Ohne drei Tage Vorbereitungszeit hätte er sich selbst zu den "Vornehmsten“ der römischen Juden begeben oder den Soldaten, der ihn bewachen sollte, losschicken müssen. Beide Möglichkeiten kamen wohl nicht infrage.
Es bleibt offen, ob die "Vornehmsten“ bestimmte Ämter innehatten. So kann es sich um Synagogenvorsteher oder um Mitglieder eines Ältestenrates gehandelt haben. Wenn sie kein Amt innehatten, stellt sich die Frage, was sie als "Vornehmste“ auszeichnete.
Es fällt auf, dass die "Vornehmsten“ keine Einwände gegen den Aufruf zur Zusammenkunft vorbrachten. So erscheint Paulus als eine gewisse Autorität, obwohl eher fraglich ist, ob die "Vornehmsten“ der römischen Juden ihn tatsächlich als eine solche ansahen. Am ehesten könnte eine gewisse Neugier im Hinblick auf ein persönliches Treffen mit dem inzwischen bekannt gewordenen Paulus dazu geführt haben, dass die "Vornehmsten“ der Aufforderung ohne Klagen oder Nachfragen nach dem Grund für die Aufforderung nachkamen. Wie auch immer: Irgendwelche möglichen Widerstände der "Vornehmsten“ sind in der Schilderung der Dinge des Verfassers der Apg ohne Belang. Die Schilderung ist sicherlich nicht als ein historischer Tatsachenbericht nach heutigen Maßstäben anzusehen, sondern als eine subjektive, an einer bestimmten Aussageabsicht ausgerichtete Darstellung der Dinge.
Das Substantiv "anêr“ bedeutet gewöhnlich "Mann“ und nur ausnahmsweise "Mensch“. Die Anrede "andres adelphoi“ ("Ihr Männer [und] Brüder“; kurz: "Brüder“) macht also wahrscheinlich deutlich, dass unter den Zuhörern der Rede nur Männer, jedoch keine Frauen waren. "Brüder“ ist in der Apg meist im Sinne von Glaubensbrüder zu verstehen, so vermutlich auch hier. Das bedeutet, dass sich Paulus weiterhin als Jude verstand, ungeachtet seines Christseins, seiner Heidenmission und seiner von strenger, wörtlicher Einhaltung der biblischen Satzungen und Gebote abweichenden Haltung. Selbst wenn man hier nicht die Bedeutung "Glaubensbrüder“ annimmt, dürfte "Brüder“ mindestens im Sinne einer besonderen Verbindung zu deuten sein, sei es, dass Paulus sich und die "Vornehmsten“ ungeachtet bestimmter Unterschiede im Glauben als Volksgenossen (Israeliten) ansah, sei es, dass er den "Vornehmsten“ gegenüber eine besonders freundliche und zugewandte Haltung deutlich machen wollte.
"Väterlich“ dürfte sich hier auf die "Väter“, also auf die Vorfahren des gegenwärtigen Geschlechts des Volkes Israel, beziehen. Auch die "Väter“ hatten die "Bräuche“ bereits befolgt.
"Laos“ ("Volk“) ist eine Bezeichnung für das Volk der Juden, das Gottesvolk. Wenn Paulus also behauptet, nichts gegen das Volk oder die väterlichen Bräuche getan zu haben, dann stellt er sich als einen Juden dar, der trotz seiner umstrittenen Anschauung in seiner Religion und den damit verbundenen traditionellen Bräuchen verwurzelt ist.
Weiterführende Literatur: Nach einigen Vorbemerkungen zu den literarischen und theologischen Eigenheiten von Apg 28,16-31 befasst sich B. Prete 1983, 147-187 u. a. mit den Fragen, warum Lukas so ausführlich auf die zwei Zusammenkünfte mit den römischen Juden eingeht und in Rom keine Zusammenkunft mit Judenchristen oder Heidenchristen erwähnt und welche Bedeutung der Unglaube im historischen Heilsplan Gottes hat. Anschließend befasst er sich noch mit dem Heil der Heiden aufgrund des Hörens des Evangeliums und mit der Bedeutung der Predigt des Paulus in Rom. B. Prete weist auf die besondere Bedeutung hin, die der Unglaube der Juden und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Mission gehabt hätten. Durch den Unglauben eines beträchtlichen Teiles der Juden habe sich der Plan Gottes hinsichtlich des universalen Heils entfaltet.
K. Litwak 2006, 229-249 geht zunächst auf Apg 28,16-31 und Röm 11 in ihrem Zusammenhang ein und legt dann dar, dass sich die in beiden Texten jeweils ganz spezifische Sichtweise des Apostels Paulus vom Unglauben der Juden nicht widerspreche. Übereinstimmungen gebe es bezüglich der paulinischen Selbstidentifikation als Israelit, der unterschiedlichen Reaktionen der Juden auf die paulinische Predigt und der paulinischen Verkündigungsstrategie, die auf die Reizung der Juden zur Eifersucht ziele. Eigenheiten seien im Lichte der unterschiedlichen Zuhörerschaft zu sehen und stellten Ergänzungen, nicht Widersprüche dar.
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Beobachtungen: "Sie haben mich verhört“ bezieht sich auf die bisherigen Verhöre des Paulus vor dem Hohen Rat (Synhedrium, Synedrion; 23,1-10), vor dem Prokurator Felix (24,2-21), vor dem Prokurator Festus (25,6-12) und vor dem König Agrippa II. (26,2-29).
Dass Paulus keine todeswürdige Schuld auf sich geladen hatte, war dreimal bestätigt worden: Als erster hatte der Tribun Claudius Lysias keine Anklage gegen Paulus vorliegen sehen, auf die Tod oder Gefängnis steht (vgl. 23,29). Als zweiter hatte der Prokurator Festus gegenüber dem König Agrippa II. bekräftigt, dass Paulus nichts getan hat, was den Tod verdient (vgl. 25,25). Und schließlich waren nach dem Verhör des Paulus vor Agrippa II. dieser, der Prokurator Festus und weitere Personen in einer Beratung zu dem Ergebnis gekommen, dass Paulus nichts tue, was Tod oder Haft verdient. Somit könne Paulus freigelassen werden, wenn er nicht den Kaiser angerufen hätte (vgl. 26,31-32). Da die letztere Feststellung nicht im Beisein von Paulus gemacht wurde, sondern nur von den Beratenden untereinander, bleibt offen, wie Paulus von ihr Kenntnis erhalten hatte. Dass er von der Feststellung Kenntnis erhalten hatte, geht aus 28,18 hervor. Angesichts der Tatsache, dass bei dem Prozess gegen Jesus der Wille des Prokurators Pilatus, Jesus frei zu lassen, viel deutlicher zum Ausdruck gekommen war (vgl. Lk 23,15-18), ist möglich, dass Paulus seinen eigenen Prozess im Lichte des Prozesses gegen Jesus erscheinen lassen wollte.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Paulus hatte den Kaiser angerufen, weil zu befürchten war, dass ihn der Prokurator Festus an die Jerusalemer Juden ausliefern würde. Nicht die römische Besatzungsmacht hatte eine Bestrafung des Paulus gefordert, sondern die Jerusalemer Juden. Folglich waren die Jerusalemer Juden auf eine Auslieferung des Paulus durch den Prokurator aus gewesen. Mittels der Anrufung des Kaisers hatte Paulus die Auslieferung verhindern können (vgl. 25,9-12). Dass "die Römer“ Paulus freilassen wollten, war zum Zeitpunkt der Anrufung des Kaisers so ausdrücklich noch nicht gesagt worden. Bis dahin war die Lage wie folgt: Der Tribun Claudius Lysias hatte keine Anklage gegen Paulus vorliegen sehen, auf die Tod oder Gefängnis steht (vgl. 23,29). Der Prokurator Felix hatte die Entscheidung über den Fall Paulus vertagt (vgl. 24,22), wobei er bezüglich des Sachverhaltes wohl bereits ein fertiges Bild hatte und nur noch Zeit gewinnen wollte, um damit Schwierigkeiten zu vermeiden und daraus vielleicht sogar noch einen Vorteil zu ziehen. Schwierigkeiten hatte er dabei nur seitens der Jerusalemer Juden zu erwarten, so dass Paulus berechtigterweise schlussfolgern konnte, dass er ohne das Beharren der Jerusalemer Juden auf einer Bestrafung von Felix freigelassen worden wäre. Ebenso konnte Paulus auch schlussfolgern, dass ihn der Prokurator Festus freigelassen hätte, wenn die Jerusalemer Juden nicht die Bestrafung des Paulus gefordert hätten.
Die pauschale Formulierung "die Juden“ unterscheidet nicht zwischen den Mitgliedern des Hohen Rates, den Ältesten und anderen Juden. Die "Vornehmsten“ der römischen Juden müssen davon ausgegangen sein, dass Paulus alle Juden, zumindest alle Jerusalemer Juden, meinte, auch wenn Paulus vielleicht eine bestimmte Gruppe besonders im Blick hatte.
In einer Variante einiger weniger Minuskeln und einiger Lesarten der Harklensis, einer syrischen Übersetzung des 6. Jh.s, findet sich nach "Da aber die Juden Einspruch erhoben…“ der die Aggressivität der Juden und die Lebensgefahr des Paulus betonende Einschub "… und "Töte unseren Feind!' schrien…“. Da schien die Sorge des Paulus um das eigene Leben und die Sicherung eines geordneten Rechtsverfahrens gut nachvollziehbar. Der Einschub erfolgte wohl mit Blick auf 22,22. Demnach hatten die Juden der Verteidigungsrede des Paulus am Fuße der Burg Antonia mit den Worten "Weg vom Erdboden mit dem da! Er verdient es ja nicht zu leben.“ ein Ende gesetzt. Die Juden hatte insbesondere in Rage versetzt, dass Paulus behauptete, Jesus selbst habe seine Mission unter den Heiden angeordnet.
Die Anrufung des Kaisers hätte auch erfolgt sein können, um die Juden anzuklagen und womöglich ihren besonderen Status als "erlaubte Religion“ ("religio licita“) im Römischen Reich in Gefahr zu bringen. Um einem solchen Missverständnis der Anrufung des Kaisers vorzubeugen, betonte Paulus den "Vornehmsten“ der römischen Juden gegenüber, dass es ihm eben nicht um die Anklage der Juden ging. Dass es ihm nur um die Verteidigung ging, sagte Paulus zwar nicht so ausdrücklich, lässt sich aber aus seinen Worten den "Vornehmsten“ gegenüber erschließen.
Verschiedene Handschriften stellen mittels des Einschubs "…, sondern damit ich mein Leben von [dem] Tode auslöse“ stärker die lebensrettende Bedeutung der Anrufung heraus. Insbesondere bei den Minuskeln und Lesarten der Harklensis, die im Vorhergehenden auch den Einschub "… und "Töte unseren Feind!' schrien…“ bieten, wird nun explizit ausgesagt, was schon vorher implizit als Aussage in den Zeilen enthalten war.
Weiterführende Literatur: W. Stegemann 1987, 200-229 merkt kritisch an, dass zu den Selbstverständlichkeiten unseres Paulus-Bildes gehöre, dass der Apostel ein römischer Bürger (civis Romanus) war. Tatsächlich fänden sich nur in der Apostelgeschichte direkte (16,37-38; 22,25-29; 23,27) und vermutlich indirekte (21,25-26; 25,10-11; 28,19) Hinweise auf das römische Bürgerrecht des Paulus. Nehme man alles in allem, so sei es äußerst unwahrscheinlich, dass der Apostel Paulus das römische Bürgerrecht besessen hat. Dafür sprächen nicht nur die allgemein feststellbaren sozialgeschichtlichen Hintergründe in Bezug auf Besitz und Verleihung des römischen Bürgerrechts und insbesondere die jüdische Herkunft des Paulus. Die anderslautenden Nachrichten der Apg gingen offenkundig auf deren Verfasser selbst zurück. Er habe vermutlich aus seinen Nachrichten von der Überstellung des Paulus nach Rom auf dessen Bürgerrecht geschlossen.
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Beobachtungen: Das Verb "parakaleô“ kann in V. 20 entweder "bitten“ oder "herbeirufen / herbeirufen lassen“ bedeuten. Folglich legen sich bezüglich V. 20 zwei Übersetzungsmöglichkeiten nahe. Wählt man die Bedeutung "bitten“, dann lautet die Übersetzung: "Aus diesem Grund nun habe ich darum gebeten, euch zu sehen und zu euch reden zu dürfen; …“ Bei ihr bleibt offen, wen Paulus gebeten hat. Wählt man die Bedeutung "herbeirufen / herbeirufen lassen“, die im NT allerdings ungewöhnlich ist, dann lautet die Übersetzung: "Aus diesem Grund nun habe ich euch herbeirufen lassen, um euch zu sehen und zu euch zu reden; …“. Erstere Übersetzung lässt Paulus demütiger erscheinen, letztere betont seine Autorität.
Das Verb "proslaleô“ kann mit "mit … sprechen“ oder mit "zu … reden“ übersetzt werden. Erstere Übersetzung lässt eher an eine Unterhaltung denken, letztere Übersetzung an eine Rede des Paulus. Da schließlich nur Paulus redete und die "Vornehmsten“ der römischen Juden dem Geredeten nur zustimmten oder es ablehnten (vgl. V. 23-24), aber kein Gespräch im eigentlichen Sinn zustande kam, ist in V. 20 die Übersetzung "zu … reden“ passender. Paulus war also nicht vorrangig daran gelegen, die "Vornehmsten“ der römischen Juden als Persönlichkeiten und Gesprächspartner kennen und schätzen zu lernen, sondern die "Vornehmsten“ sollten vielmehr Empfänger einer Rede sein.
Worum es sich bei der "Hoffnung Israels“ genau handelt, legte Paulus nicht dar. "Hoffnung Israels“ war zunächst eine wohlklingende Formulierung, bei der er davon ausgehen konnte, dass sich bei den "Vornehmsten“ der Juden gegen sie kein Widerstand regen würde. Einen negativen Beigeschmack würde die Formulierung nur dann bekommen, wenn die "Vornehmsten“ der römischen Juden dem, was Paulus als "Hoffnung Israels“ bezeichnete, nicht zustimmen konnten. Wenn aber die christliche Lehre, Jesus Christus als wesentlicher Inhalt der christlichen Lehre oder ein bestimmter zentraler Aspekt des mit Jesus Christus verbundenen Heils (z. B. die Auferstehung von den Toten; vgl. 23,6; 24,15; 26,6-8) den "Vornehmsten“ nicht wirklich bekannt war, dann konnten diese dagegen auch keinen Einspruch erheben.
"Diese Kette“ ist wohl nicht ein bildlicher Ausdruck für die Gefangenschaft des Paulus, sondern es dürfte tatsächlich eine Kette gemeint sein. Dabei werden keine Details zur Kette genannt. Paulus dürfte mit der Kette an der Flucht gehindert worden sein, aber es bleibt offen, ob die Kette an einer Wand, einem Gegenstand oder an dem Soldaten, der Paulus bewachen sollte, befestigt war. Ebenso ist möglich, dass sie mit einem schweren Gewicht wie z. B. einer Eisenkugel versehen war. Wenn Paulus mit der Kette an der Flucht gehindert wurde, dann muss diese auch an ihm selbst befestigt gewesen sein. Dabei ist am ehesten an eine Befestigung an einem Arm/Handgelenk oder an einem Bein/Fußgelenk zu denken.
Geht man davon aus, dass die Kette Paulus in der freien Bewegung einschränkte, ist anzunehmen, dass sich die "Vornehmsten“ der römischen Juden bei Paulus in dessen Wohnstatt (Zimmer, Wohnung) zusammengefunden hatten, in der er für sich allein wohnen durfte, zusammen mit dem Soldaten, der ihn bewachte (vgl. 28,16).
Weiterführende Literatur: L. D. Chrupcała 1997, 79-96 betont den engen Zusammenhang zwischen der Ankündigung des Reiches Gottes und der Ankündigung des universalen Heils in Jesus Christus. Er geht zunächst auf das Reich Gottes in der Apg ein, kommt dann auf den göttlichen Heilsplan und auf die universale Ankündigung des Reiches Gottes zu sprechen und befasst sich abschließend mit dessen Bezeugung in Apg 28,23-28 und mit dessen Ankündigung gegenüber den Heiden in 28,30-31. Die Kirche und alle Christen seien damit beauftragt, allen Menschen an allen Orten dieselbe Ankündigung des Reiches Gottes zu überbringen: Das von Gott verheißene und durch Jesus Christus erfüllte Heil sei eine in der Welt bereits gegenwärtige und wirkende Realität, auch wenn die endgültige Erfüllung des universalen göttlichen Heilsplans noch ausstehe.
In der Wendung "Hoffnung Israels“ − um derentwillen Paulus als Gefangener nach Rom komme − verbänden sich laut A. Deutschmann 2000, 54-60 prägnant die zentralen Themen der Apg. In ihr komme das − die Juden besonders interessierende − Thema der messianischen Erfüllung der an Israel ergangenen Verheißung, ihrer Verkündigung über das Volk hinaus und schließlich die kontroverse Reaktion ihrer ersten und legitimen Adressaten zum Ausdruck.
Laut K. Haacker 1985, 437-451 präzisiere Paulus sein Bekenntnis zur Hoffnung Israels als Glauben an die Auferstehung der Toten. Lukas habe kein Problem darin gesehen, die Auferstehung Jesu als Vorgriff auf die allgemeine Totenauferstehung in diesen Kontext nationaler Hoffnungen einzuzeichnen.
B.-J. Koet 1987, 398-401 merkt an, dass sich Paulus als wahrer Jude präsentiere. Dass die Hoffnung auf Gott und auf die Auferstehung der Toten mit den biblischen Schriften in Einklang sei, werde in Apg 24,14-15 betont. Und 28,17-20 spreche nicht ausdrücklich von Jesu Auferstehung. Die Reaktion der jüdischen Zuhörer der ersten Zusammenkunft bestehe aus zwei Teilen: Im ersten Teil (V. 21) bestätigten sie die Unschuld des Paulus, im zweiten Teil reagierten sie auf die Aussage des Paulus V. 20.
D. Marguerat 1993, 1-21 legt dar, dass sich der Verfasser der Apg im Schlussteil seines monumentalen Werks ein in der griechisch-römischen Kultur bezeugtes rhetorisches Verfahren, die narrative Unterbrechung, zu eigen mache und bewusst das Verschweigen und die Mehrdeutigkeit einsetze. Vgl. die gekürzte Fassung D. Marguerat 1993, 74-89.
Zu erleichterten Bedingungen der Gefangenschaft des Paulus siehe B. Rapske 1994, 145-149. 22,30-23,10 weise darauf hin, dass Paulus für kurze Zeit aus römischer Haft völlig frei war. Zwar sei Paulus wieder Gefangener geworden (vgl. 23,18), jedoch seien 26,29; 28,16.20 nicht so zu deuten, dass Paulus wieder gefesselt wurde. Paulus sei in der Burg Antonia von Fesseln frei geblieben und habe sogar ein gewisses Ansehen genossen. S. 283-312 zur Schande der Gefangenschaft: Paulus sei sich der Schande bewusst gewesen, die mit der Gefangenschaft verbunden war, und habe deren negativen Folgen gefürchtet. Allerdings habe Paulus sich nicht von der Schande überwältigen lassen, sondern habe seine schandhaften Lebensbedingungen überwunden.
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Beobachtungen: Die "Vornehmsten“ der römischen Juden erscheinen gegenüber Paulus und seiner Lehre als unvoreingenommen. Folglich wird auch kein Widerspruch gegen die "Hoffnung Israels“ erwähnt.
Es wird nicht konkretisiert, welchen Inhalt das Paulus betreffende Schreiben gehabt haben könnte. Es lässt sich nur allgemein aus dem Zusammenhang und aus der Herkunft aus Judäa, wo Jerusalem lag, erschließen, dass der Inhalt negativer Art, eine Anklage des Paulus, gewesen sein könnte. Das lässt sich auch dem folgenden Satz entnehmen, wonach auch nicht einer von den "Brüdern“ gekommen ist, der etwas Schlechtes über Paulus berichtet oder gesagt hätte. Das Schlechte über Paulus wurde also weder in einem (offiziellen) Schreiben noch (offiziell) persönlich übermittelt. Die "Vornehmsten“ der römischen Juden waren also von den Jerusalemer bzw. judäischen Juden noch nicht negativ beeinflusst worden. Negatives können sie aber von anderer Seite und auf anderem Wege erfahren haben.
"Brüder“ meint hier nicht "leibliche Brüder“, sondern Glaubensbrüder, und zwar Glaubensbrüder der "Vornehmsten“ der römischen Juden. Dabei können durchaus Glaubensschwestern eingeschlossen sein, die jedoch von der männerzentrierten Sprache, die gemischtgeschlechtliche Gruppen als reine Männergruppen erscheinen lässt, unterschlagen werden. Möglich ist aber auch, dass sich "Brüder“ hier auf ein ganz bestimmtes jüdisches (Gemeinde-)Gremium bezieht, dem nur Männer angehörten.
Es bleibt offen, warum die "Vornehmsten“ der römischen Juden von den Jerusalemer bzw. judäischen Juden noch nicht negativ beeinflusst worden waren. Hatten die Jerusalemer bzw. judäischen Juden ihre Verfolgung des Paulus aufgegeben? Oder hatten sie es versäumt, mit den römischen Juden Kontakt aufzunehmen, vielleicht weil der Kontakt eher schwach ausgeprägt war? Oder war das Schreiben oder der "Bruder“ (oder: die "Brüder“), vielleicht wegen der widrigen Witterungsbedingungen, noch auf dem Weg nach Jerusalem? All dies ist möglich, aber hier nicht von Interesse.
Dass sich die "Vornehmsten“ der römischen Juden absichtlich bedeckt und (scheinbar) neutral gegeben haben, weil sie keine neuen Konflikte in Rom heraufbeschwören wollten, ist zwar möglich, aber unwahrscheinlich. In diesem Fall hätten sie sich bezüglich der Anschauung des Paulus sicherlich nicht so interessiert gezeigt, sondern vielmehr diplomatische Distanz gewahrt. Unwahrscheinlich ist auch, dass die "Vornehmsten“ eine Falschaussage gemacht haben, denn auf eine solche weist im Text nichts hin.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Zwar bleibt offen, ob die "Vornehmsten“ der römischen Juden schon von irgendeiner Seite Schlechtes über Paulus gehört haben, aber bezüglich der "Gruppe“ der Christen ist das eindeutig der Fall. Das bedeutet aber nicht, dass sich die "Vornehmsten“ den Widerspruch, auf den die "Gruppe“ der Christen angeblich überall stieß, zu eigen gemacht hätten. Ganz im Gegenteil: Sie wollten von Paulus selbst hören, was dieser meint, d. h. was dieser für eine Lehre vertritt. Anscheinend waren sich die "Vornehmsten“ bewusst, mit Paulus einen bedeutenden Vertreter der christlichen Lehre vor sich zu haben. Die Offenheit schließt zwar nicht eine kritische Einstellung der "Vornehmsten“ aus, jedoch erscheint diese nicht so stark ausgeprägt, dass sie sich von vornherein der Lehre des Paulus verschlossen. Es scheint vielmehr so zu sein, dass die "Vornehmsten“ es für möglich hielten, dass Paulus Wahres sagt.
Das Verb "axioô“ bedeutet "bitten“, "fordern“ oder "auf…bestehen“. In V. 22 dürfte die Bedeutung "nachdrücklich bitten“ vorliegen. Einerseits ist die Stimmung freundlich und die römischen Juden sind Paulus gegenüber wohlwollend eingestellt, andererseits erwarten sie, dass Paulus ihrer Bitte nachkommt. In diesem Sinne, und nicht einfach nur als Wunsch, ist also die gewählte Übersetzung "wir würden aber gerne von dir hören“ zu verstehen.
Das Substantiv "hairesis“ kann mit "Gruppe“, "Anschauung“ oder "Sekte“ übersetzt werden, wobei letztere Übersetzung einen negativen Beiklang hat. In V. 22 bezieht sich "diese Gruppe/Anschauung/Sekte“ auf das Christentum, dessen prominenter Vertreter Paulus war. Da die "Vornehmsten“ der römischen Juden trotz der negativen Gerüchte über die Christen Paulus gegenüber nicht negativ eingestellt waren, ist in V. 22 die neutrale Übersetzung "Gruppe“ oder "Anschauung“ zu bevorzugen.
Es verwundert, dass die "Vornehmsten“ der römischen Juden behaupteten, nichts Genaueres über die christliche Anschauung zu wissen. Auch wenn 18,2 offen lässt, warum Kaiser Claudius die Anordnung erlassen hatte, dass alle Juden Rom zu verlassen hätten, lässt sich den Informationen des Geschichtsschreibers Sueton doch entnehmen, dass möglicherweise Christen der Anlass für diese Anordnung gewesen waren. Gemäß Sueton (Claudius 25,4) hatte Claudius die Juden vertrieben, weil sie, von Chrestus (= Christus?) aufgehetzt, fortwährend Unruhen gestiftet hatten. Wenn wirklich Christen der Anlass für die Vertreibung der Juden gewesen waren, ist anzunehmen, dass auch die "Vornehmsten“ der römischen Juden von den Konflikten zwischen Juden und Christen Kenntnis hatten. Auch wenn nicht klar ist, ob es Heiden- oder Judenchristen gewesen waren, die die Unruhen gestiftet hatten, lässt die Anordnung − sofern man "Chrestus“ als "Christus“ deutet - erkennen, dass die Christen und die Juden in einem engen Zusammenhang gesehen wurden. Weil das Christentum dem Judentum entsprungen war, ist wahrscheinlich, dass die christliche Anschauung auch innerhalb der römischen jüdischen Gemeinden Konflikte zwischen Anhängern und Gegnern hervorgerufen hatte. Gerade die "Vornehmsten“ dürften in besonderem Maße mit den Konflikten und der christlichen Anschauung konfrontiert worden sein.
Angesichts dieser Ungereimtheit stellt sich die Frage, warum der Verfasser der Apg entgegen den vermutlichen historischen Tatsachen die "Vornehmsten“ der römischen Juden als dermaßen uninformiert darstellt. Möglich ist, dass die Deutung des "Chrestus“ als "Christus“ falsch ist. Dann wäre die (angebliche) Vertreibung der Juden nicht auf die Christen und von diesen hervorgerufene Konflikte zurückzuführen. Aber selbst wenn es keine Konflikte zwischen Anhängern und Gegnern der christlichen Weltanschauung gegeben hatte, müssen die "Vornehmsten“ mit Christen in Kontakt gekommen sein, denn schließlich gab es in Rom bereits eine christliche Gemeinde. So hatte Paulus an die römischen Christen bereits (mindestens) einen Brief, nämlich den Römerbrief, geschrieben. Außerdem ist wahrscheinlich, dass die Christen, die Paulus und seinen Begleitern entgegen gekommen waren, in Rom ansässig waren. Dass Anhänger der christlichen Anschauung nach dem Edikt des Claudius dermaßen getrennt von den Juden lebten, dass diese kaum etwas über sie wussten, ist kaum anzunehmen. Hat sich der Verfasser der Apg bei seiner Darstellung der Dinge auf eine unzuverlässige Quelle gestützt oder hatte er ein besonderes Interesse an der von ihm betonten Uninformiertheit der "Vornehmsten“? Oder wollte der Verfasser der Apg zeigen, dass unvoreingenommene jüdische "Vornehmste“ Paulus und der von ihm verkündigten christlichen Lehre gegenüber durchaus noch offen eingestellt waren? Das wäre nur schwer mit der Grundtendenz der Apg in Einklang zu bringen, wonach sich zwar Teile des Judentums der christlichen Anschauung anschlossen oder zumindest mit ihr sympathisierten, sich das Judentum aber alles in allem eher verschlossen zeigte. Diese Grundtendenz wird zwar bei den Jerusalemer Juden am deutlichsten herausgestellt, gilt aber auch für Juden anderer Gemeinden. Oder wollte der Verfasser der Apg deutlich machen, dass es in Rom unter den Juden durchaus noch Missionsmöglichkeiten gab?
Es stellt sich die Frage, ob die "Vornehmsten“ der römischen Juden gerne von Paulus hören wollten, was er meint, obwohl die Gruppe der Christen überall auf Widerspruch stieß, oder weil die Gruppe der Christen überall auf Widerspruch stieß.
"Überall“ ist wohl im Sinne von "überall da, wo Juden wohnen“ zu deuten. Die "Vornehmsten“ der römischen Juden dürften vorrangig an der jüdischen Lebenswelt interessiert gewesen sein. Insofern war für sie in erster Linie die Reaktion von Juden auf die neuartige christliche Anschauung von Interesse. Die Reaktion der Heiden war für sie zweitrangig oder gänzlich uninteressant.
Weiterführende Literatur:
Literaturübersicht
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Chrupcała, L. D.; Il disegno di Dio e l’annuncio del regno alla luce di At 28,17-31, LA 47 (1997), 79-96
Deutschmann, Anton; Die Hoffnung Israels (Apg 28,20), BN 105 (2000), 54-60
Haacker, Klaus; Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels nach der Apostelgeschichte des Lukas, NTS 31/3 (1985), 437-451
Koet, Bart-Jan; Paul in Rome (Acts 28,16-31): A Farewell to Judaism?, Bijdr. 48/4 (1987), 397-415
Litwak, Kenneth; One or Two Views of Judaism: Paul in Acts 28 and Romans 11 on Jewish Unbelief, TynB 57/2 (2006), 229-249
Marguerat, Daniel; “Et quand nous sommes entrés dans Rome”, L’énigme de la fin du livre des Actes (28,16-31), RHPR 73/1 (1993), 1-21
Marguerat, Daniel; The End of Acts (28.16-31) and the Rhetoric of Silence, in: S. Porter et al. [eds.], Rhetoric and the New Testament (JSNTS 90), Sheffield 1993, 74-89
Prete, Benedetto; L’arrivo di Paolo a Roma e il suo significato secondo Atti 28,16-31, RivBib 31/2 (1983), 147-187
Rapske, Brian; The Book of Acts and Paul in Roman Custody (The Book of Acts in Its First Century Setting 3), Grand Rapids, Michigan - Carlisle 1994
Stegemann, Wolfgang; War der Apostel Paulus ein römischer Bürger?, ZNW 78/3-4 (1987), 200-229