2 Thess 1,3-10
Übersetzung
2 Thess 1,3-10 :3 Wir müssen (dem) Gott allezeit für euch danken, Geschwister, wie es sich gebührt, weil euer Glaube kräftig wächst und bei jedem Einzelnen von euch allen die gegenseitige Liebe zunimmt, 4 sodass wir selbst uns in den Gemeinden (des) Gottes euer rühmen wegen eurer Standhaftigkeit und Glaubenstreue in allen euren Verfolgungen und den Bedrängnissen, die ihr erduldet. 5 [Das ist ein] Anzeichen des gerechten Gerichtes (des) Gottes, dass ihr des Reiches (des) Gottes würdig erachtet werdet, für das ihr auch leidet. 6 Denn bestimmt hält Gott es für gerecht, denen, die euch bedrängen, mit Bedrängnis zu vergelten, 7 und euch, den Bedrängten, mit Ruhe, zusammen mit uns bei der Offenbarung des Herrn Jesus vom Himmel her, mit Engeln seiner Macht, 8 in loderndem Feuer. Dann wird er es denen heimzahlen, die Gott nicht [aner]kennen, und denen, die dem Evangelium unseres Herrn Jesus nicht gehorchen. 9 Diese werden als Strafe ewiges Verderben erleiden [fern] vom Angesicht des Herrn und von der Herrlichkeit seiner Kraft, 10 wenn er kommt, um unter seinen Heiligen verherrlicht zu werden und Bewunderung zu finden bei allen, die gläubig geworden sind - denn bei euch hat unser Zeugnis Glauben gefunden -, an jenem Tage.
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Beobachtungen: Im altgriechischen Text bilden die V. 3-10 einen einzigen langen Kettensatz. V. 3 enthält eine Danksagung, die für Paulus typisch ist. Diese wird in V. 4 mit Selbstruhm verbunden. Die V. 5-10 befassen sich mit der Vergeltung, mit der ausgleichenden Gerechtigkeit beim Kommen des "Herrn" Jesus.
Der Plural "wir müssen danken" lässt annehmen, dass Paulus (oder: "Paulus") nicht der Hauptverfasser des Briefes ist, sondern es sich bei ihm um ein Gemeinschaftswerk handelt (anders 2 Thess 3,17). Dabei weist das "müssen" auf ein gebührendes Verhalten, auf eine Verpflichtung hin, und zwar vermutlich Gott gegenüber. Die Sprache ist formal und unpersönlich, was typisch für den 2 Thess ist.
Der Dank erfolgt allezeit, womit wohl eher eine Geisteshaltung als eine Vielzahl einzelner Gebete gemeint ist. Der Dank erfolgt für die Gemeindeglieder in Thessalonich, und zwar für das starke Wachstum ihres Glaubens und für die Zunahme ihrer gegenseitigen Liebe. Da der Verfasser (oder: die Verfasser) des 2 Thess dafür nicht den Thessalonichern dankt, sondern Gott, führt er Glaubenswachstum und Zunahme der gegenseitigen Liebe wohl auf Gottes Wirken zurück.
Es fällt das Bemühen des Verfassers (oder: der Verfasser) des 2 Thess auf, das Gemeindeleben in Thessalonich als vorbildlich darzustellen: Er unterstreicht nämlich, dass der Glaube bei den Adressaten nicht nur wächst, sondern kräftig wächst. Außerdem stellt er ausdrücklich heraus, dass die Liebe zueinander nicht nur bei einigen Gemeindegliedern wächst, sondern bei jedem einzelnen aller Gemeindeglieder. Der Dank dürfte also mehr als nur reine briefliche Konvention sein, von Herzen kommen, was die Gemeinde in Thessalonich tadellos erscheinen lässt. In diesem Licht ist der weitere 2 Thess zu lesen.
„Geschwister“ meint hier nicht leibliche Geschwister, sondern Glaubensgeschwister, nämlich Christinnen und Christen. Bei dem Substantiv „adelphoi“ handelt es sich zwar um eine maskuline Form, die zunächst mit „Brüder“ zu übersetzen ist, jedoch sind hier vermutlich auch die „Schwestern“ eingeschlossen. Dass diese unkenntlich bleiben, liegt an der männerzentrierten Sprache, die gemischtgeschlechtliche Gruppen als reine Männergruppen erscheinen lässt.
Weiterführende Literatur: J. L. Sumney 1990, 192-204 geht der Frage nach, ob es sich bei dem 2 Thess um einen authentischen Paulusbrief handelt, der literarisch einheitlich ist. J. L. Sumney sieht den entscheidenden Beleg in dem rhetorischen Muster A B A gegeben, das typisch paulinisch sei (und sich zudem auch in den beiden Danksagungen 1,3-12 und 2,13-3,5 erkennen lasse). Es sei weniger wahrscheinlich, dass ein späterer Autor dieses Muster erkannt und auf seinen Brief übertragen hat, als dass Paulus selbst es erneut verwendet hat. Das sei jedoch noch kein abschließendes Argument für die Abfassung des Briefes durch Paulus. Es lasse sich nur sagen, dass die Infragestellung der paulinischen Verfasserschaft in erster Linie von theologischen Unterschieden zwischen Paulus und dem 2 Thess auszugehen hat, nicht aber von Unterschieden hinsichtlich der brieflichen Form.
P. Arzt-Grabner 2010, 151-157 vergleicht den 2 Thess mit zeitgenössischen Papyri und illustriert anhand von zwei besonders aussagekräftigen Beispielen, warum es sich bei dem 2 Thess vermutlich um ein pseudepigraphisches Schreiben handele. Erstes Beispiel: Einige Paulusbriefe enthielten gleich nach dem Eingangsgruß eine Formulierung des Dankes (Röm 1,8; 1 Kor 1,4; Phil 1,3; 1 Thess 1,3; Phlm 4), die sich – im Einklang mit Danksagungen an vergleichbarer Stelle in Papyrusbriefen – als Dank für gute Nachrichten erweise und üblicherweise das Briefkorpus einleite. Eine Formulierung des Dankes begegne auch in 2 Thess 1,3 (auch hier also gleich nach dem Eingangsgruß) und dann ein weiteres Mal in 2,13. Aber der ganze Brief enthalte keinen Hinweis darauf, dass der Verfasser zuvor von den Adressaten oder über sie gute Nachrichten erhalten hätte.
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Beobachtungen: Gemäß V. 4 rühmen sich Paulus, Silvanus und Timotheus selbst. Wie verhält sich das zu der Redensart "Eigenlob stinkt"? Stinkt auch das Eigenlob des Paulus, Silvanus und Timotheus? Falls es nicht stinkt: Warum nicht? Im 1 Thess kommt Eigenlob nur implizit zur Sprache, indem sich Paulus, Silvanus und Timotheus als Vorbilder für andere Christen darstellen (vgl. 1,6), und zwar aufgrund ihres Glaubens und ihrer Mission auch unter widrigen Bedingungen. Für die Beantwortung der Frage, ob auch das Eigenlob 2 Thess 1,4 stinkt, ist zunächst zu klären, warum sich Paulus, Silvanus und Timotheus selbst rühmen/loben. Das Eigenlob folgt aus dem kräftigen Glaubenswachstum und aus der Zunahme der gegenseitigen Liebe der Thessalonicher. Wäre beides nur eine Leistung der Thessalonicher oder ausschließlich ein Werk Gottes, dann gäbe es für Paulus, Silvanus und Timotheus keinen Grund, sich selbst zu loben, denn sie hätten ja nichts vollbracht. Wenn sie sich selbst rühmen/loben, dann müssen sie am kräftigen Glaubenswachstum und an der Zunahme der gegenseitigen Liebe der Thessalonicher Anteil haben. Dieser Anteil dürfte ihre Missionstätigkeit sein. Diese ist allerdings nicht als eine rein menschliche Leistung zu verstehen, sondern setzt das Wirken Gottes voraus (vgl. V. 3). Nun wäre es möglich, dass die Thessalonicher zwar zum christlichen Glauben gekommen sind, aber darin angesichts der Verfolgungen und Bedrängnisse seitens der Nichtchristen wankelmütig sind und ihren Glauben bei Gefahr verleugnen. Das ist aber gemäß V. 4 nicht der Fall: Die Thessalonicher zeichnen sich durch Standhaftigkeit und Glaubenstreue - der altgriechische Begriff "pistis" bezeichnet hier den "Glauben" und die "Treue (zum Glauben)" gleichermaßen - aus. Dies ist der eigentliche Grund für das Eigenlob des Paulus, Silvanus und Timotheus. Dieses bezieht sich also nicht nur auf die Mission als solche, sondern auf den nachhaltigen Missionserfolg. Und dieser Erfolg ist nicht in einem profanen Rahmen des Leistungsdenkens zu verstehen, sondern im Rahmen von Heilsverheißungen. Christlicher Glaube führt zum Heil, muss sich jedoch in einer Zeit der Bedrängnis bewähren. Dies gilt gerade dann, wenn sich diese Zeit der Bedrängnis über eine längere Zeit hinzieht, weil Christi Wiederkunft - entgegen anderslautenden Aussagen - nicht unmittelbar bevorsteht. In diesem Rahmen, der im weiteren Verlauf des 2 Thess in den Fokus rückt, ist das Eigenlob 2 Thess 1,4 zu verstehen. Dieses Eigenlob, bei dem Lob Gottes und der Adressaten mitklingen, stinkt im Gegensatz zu rein profanem Eigenlob nicht.
Das Verb "enkauchasthai" taucht im NT nur in 2 Thess 1,4 auf. Ansonsten wird im NT das Verb "kauchasthai" benutzt. Da beide Verben gleichermaßen "sich rühmen / prahlen" bedeuten, lässt sich leicht nachvollziehen, dass einige Textzeugen zum gängigen "kauchasthai" geändert haben.
Das Eigenlob erfolgt - wie auch das Lob der Thessalonicher und das Lob Gottes - nicht im stillen Kämmerlein, sondern unter Menschen, und zwar unter Glaubensgenossen. Die Formulierung "in den Gemeinden (des) Gottes" verdeutlicht, dass sich die Christen auf verschiedene Gemeinden aufteilen, die durch das Band des Glaubens an "den Gott" - gemeint ist der Gott Israels - geeint sind. In diesen Gemeinden Gottes, denen die Missionare zum einen angehören, in denen sie aber auch wirken, erfolgt das Rühmen/Lob. Es erfolgt nicht aufgrund von persönlicher Eitelkeit seitens der Missionare, sondern um Vorbilder vor Augen zu führen: Paulus, Silvanus und Timotheus sind aufgrund ihrer Mission, die erfolgreich war, und bei der sie auch unter widrigen Bedingungen standhaft geblieben sind, Vorbilder, die die anderen Christen nachahmen sollen. Auch die Christen in Thessalonich sind durch ihr kräftiges Glaubenswachstum, durch den Zuwachs an gegenseitiger Liebe und wegen ihrer Standhaftigkeit und Glaubenstreue in allen ihren Verfolgungen und den Bedrängnissen, die sie erdulden, Vorbilder.
Um was für Verfolgungen und Bedrängnisse es sich handelt, die die Adressaten erdulden, wird nicht weiter ausgeführt. Die Formulierung "in allen euren Verfolgungen" macht deutlich, dass die Gesamtheit der Verfolgungen und wohl auch Bedrängnisse gemeint ist, und genauere Erläuterungen hier überflüssig sind. Die Adressaten dürften am besten wissen, welche Verfolgungen und Bedrängnisse sie zu erdulden haben. Es kann sich um soziale Benachteiligungen handeln, abschätzige Behandlung, Drohungen oder auch um handfeste Verfolgung. Dabei ist nicht gesagt, dass die beiden Begriffe "Verfolgung" ("diôgmos") und "Bedrängnis" ("thlipsis") unterschiedlich zu deuten sind. Es kann sich auch um ein Hendiadyoin handeln, d. h. ein und dieselbe Sache wird mit zwei verschiedenen Begriffen ausgedrückt ("hen dia dyoin" = "eins durch zwei").
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Die Abfolge Dank - Fürbitte ist für die paulinischen Briefe typisch. Der Verfasser (oder: die Verfasser) des 2 Thess fügt zwischen den Dank und die Fürbitte aber einen Abschnitt über das Kommen des "Herrn" Jesus und das Gericht Gottes ein. Dabei handelt es sich um einen Vorgriff auf das Thema des ersten Hauptteils des Briefkorpus', wo die Vernichtung des Widersachers bei der Wiederkunft des "Herrn" Jesus und das Gericht über die Ungläubigen beschrieben wird (2,3-12). Dem 2 Thess ist Anspannung anzumerken. Diese lässt die schwierige Situation einer Gemeinde in Bedrängnis erkennen. Der 2 Thess will den Bedrängten Trost spenden und betont daher den Aspekt der ausgleichenden Gerechtigkeit: Gericht Gottes über die Bedränger und Ruhe für die Bedrängten. Gericht und Ruhe werden mit dem Kommen des "Herrn", der schließlich verherrlicht wird, in Verbindung gebracht.
V. 5 beginnt mit dem Wort "endeigma", das "Anzeichen" oder "Beweis" bedeutet. Es stellt sich die Frage, was denn ein Anzeichen oder Beweis des gerechten Gerichtes Gottes, dass die Adressaten des Reiches Gottes würdig erachtet werden, für das sie auch leiden, ist. Drei Möglichkeiten, was ein Anzeichen oder Beweis sein könnte, sind zu erwägen: a) die grundsätzliche Standhaftigkeit und Glaubenstreue der Adressaten; b) die Verfolgungen und Bedrängnisse, die die Adressaten erdulden; c) die Standhaftigkeit und Glaubenstreue der Adressaten trotz Verfolgungen und Bedrängnissen. Zieht man für die Entscheidung, welche Möglichkeit die richtige sein könnte, nur die Aussagen von V. 4 und V. 5 heran und lässt V. 6 und V. 7 zunächst einmal außer acht, dann erscheinen die Möglichkeiten a und c als diejenigen, die infrage kommen. Angesichts der großen Bedeutung, die der Standhaftigkeit und Glaubenstreue beigemessen werden, dürfte das Reich Gottes an den christlichen Glauben gebunden sein. Wer standhaft und treu im christlichen Glauben bleibt, und zwar grundsätzlich, aber auch speziell in Zeiten der Bedrängnis, wird von Gott des Reiches Gottes würdig erachtet. Wer in der Bedrängnis vom christlichen Glauben abfällt, wird nicht des Reiches Gottes würdig erachtet, und seien die Verfolgungen noch so schlimm und die Bedrängnisse noch so hart. Wenn Standhaftigkeit und Glaubenstreue, grundsätzlich und auch speziell in Zeiten der Bedrängnis ein Anzeichen oder Beweis sind, dass die Thessalonicher Christen von Gott des Reiches Gottes würdig erachtet werden, dann müssen Standhaftigkeit und Glaubenstreue von Gott bewirkt werden. Gott macht also deutlich, dass er die Thessalonicher Christen seines Reiches würdig hält, indem er sie standhaft und treu im christlichen Glauben bleiben lässt, und zwar grundsätzlich und auch speziell in Zeiten der Bedrängnis. Dies ist die vorläufige Deutung nach der Betrachtung der V. 4-5. Bei der Betrachtung der V. 6-7 gilt es diese vorläufige Deutung zu bestätigen, zu modifizieren oder zu revidieren.
Der altgriechische Begriff "krisis" kann ein Gericht oder ein gerichtliches Urteil, aber auch eine Beurteilung meinen. In V. 5 scheint letztere Bedeutung vorzuliegen, weil ausgesagt wird, dass die Adressaten des Reiches Gottes würdig erachtet werden. Sie werden also positiv beurteilt. Dabei bleibt offen, was die Adressaten im Reich Gottes erwartet, wie es beschaffen ist.
Es heißt, dass die Adressaten für das Reich Gottes leiden. Das Reich Gottes scheint also ganz entscheidend mit dem Evangelium und dem christlichen Glauben an den Inhalt des Evangeliums verbunden zu sein, denn das Leid erfolgt ja aufgrund des christlichen Glaubens. Es ist nicht anzunehmen, dass die Adressaten mit ihren Gegnern Diskussionen ganz konkret über das Reich Gottes geführt haben und die Gegner die Vorstellungen der Adressaten bezüglich des Reiches Gottes abgelehnt haben und sie nur deswegen verfolgen, nicht aber wegen anderer Aspekte des christlichen Glaubens. "Reich Gottes" scheint vielmehr für das Christentum und den christlichen Glauben als solchen zu stehen. Die Gegner der Adressaten lehnen also das Christentum bzw. den christlichen Glauben ab. Die Adressaten haben also als Christen zu leiden - als Christen, deren Ziel das Reich Gottes ist. Sie leiden deswegen, weil sie trotz der Verfolgungen und Bedrängnisse treu zu ihrem Glauben stehen.
Weiterführende Literatur: Gemäß H. Roose 2009, 343-364 wolle der 2 Thess den 1 Thess nicht ersetzen, sondern eine Leseanweisung für 1 Thess geben. Sie arbeitet zunächst die Diskontinuität zwischen den beiden Briefen heraus. Während die Bedrängnisse im 1 Thess keine eschatologische Bedeutung hätten und zwischen der Parusie, zu der Jesus Christus als Retter komme, und dem „Tag des Herrn“ als (Straf-)Gericht an Gerechten und Ungerechten unterschieden werde, bringe 2 Thess diese drei Größen in einen engen Zusammenhang. Dann fragt H. Roose: Wie liest sich 1 Thess durch die Brille des pseudepigraphischen 2 Thess? Die Bedrängnisse würden nun auch im 1 Thess im theologischen Kontext von Endgericht und ius talionis („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) gedeutet. 1 Thess 4,13-17; 5,1-11 werde gleichsam von 2 Thess 1,3-12 und 2,1-12 gerahmt.
Laut M. Crüsemann 2010, 241-258 bringe der 2 Thess gleich in seinen ersten Versen eine Korrektur der Gerichtskonzeption des (von M. Crüsemann ebenfalls für pseudepigraph gehaltenen) 1 Thess: Niemand sei bisher gerichtet, auch nicht das jüdische Volk. Es gebe nur ein einziges Gericht für alle Gruppen von Menschen und Völkern. Dieses werde stattfinden am „Tag“ des vom Himmel herabkommenden „Herrn“ Jesus. Das richtende Handeln Gottes sei allein mit der Person Jesu verbunden. Es sei die Hauptfunktion seiner Ankunft, welche in 1 Thess 4,13ff ebenso fehle wie ein eschatologisches Drama. Die Leiden seien Zeichen, die auf das gerechte Richten Gottes voraus verweisen. In 2 Thess 1,4ff seien deutliche Züge der jüdischen Leidenstheologie zu erkennen. Eine Vorverurteilung des Judentums werde abgelehnt.
Zur Leidenstheologie siehe J. M. Bassler 1984, 496-510: Das „Anzeichen“ von Gottes gerechtem Gericht seien die Verfolgungen und Bedrängnisse. Dies sei am besten im Rahmen der Leidenstheologie zu verstehen, wie sie spätestens in der syrischen Baruch-Apokalypse bezeugt sei. „Der Aufhaltende“ (2 Thess 2,7) sei vermutlich Gott, der in der Leidenstheologie gelegentlich diese Rolle spiele.
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Beobachtungen: Die Konjunktion "eiper" besteht aus zwei Bestandteilen, nämlich "ei" und "per". Dabei hat der zweite Bestandteil verstärkende Funktion. Wie ist nun "eiper" zu verstehen? "Ei" weist auf eine Bedingung hin und ist mit "wenn" oder "falls" zu übersetzen. Sie enthält eine Unsicherheit, nämlich die Unsicherheit, ob die Bedingung wirklich erfüllt ist oder wird. "Per" dagegen betont die Sicherheit: Die Bedingung wird sicherlich erfüllt. Eine passende Übersetzung von "per" ist "sicherlich", "ja" oder "jedenfalls". Mit dieser Sicherheit verlagert sich das Gewicht von einer zu erfüllenden Bedingung hin zu einer Bedingung, die sicherlich erfüllt wird, und damit zu einer Begründung. Damit wird das "wenn" zu einem "weil". Die Übersetzung von "eiper" kann also "weil", "denn", "weil ja", "weil sicherlich" oder "denn bestimmt". Der Verfasser des 2 Thess (oder: die Verfasser) hält es also nicht nur für möglich, dass Gott den Bedrängern mit Bedrängnis vergilt und den Bedrängten mit Ruhe, sondern er geht davon aus, dass dies sicherlich so sein wird. Mit hundertprozentiger Sicherheit vermag er es aber nicht zu sagen. Der Grund für diese Ambivalenz mag darin liegen, dass sich der Verfasser des 2 Thess bewusst ist, dass auch er nur Mensch ist und damit nicht vollständigen Einblick in Wesen und Willen Gottes hat. Als Christ hat er aber durch das Evangelium durchaus einen gewissen Einblick in Wesen und Willen Gottes. Ein Heide hat diesen Einblick nicht, wäre diesbezüglich gänzlich unsicher. Die Sicherheit eines Christen - egal welches Amt er innehat - kann aber nicht hundertprozentig sein. Gott allein kommt die hundertprozentige Sicherheit bezüglich seines Wesens und Willens zu. Zu bedenken ist, dass das "Gericht Gottes" noch aussteht, der Mensch es am eigenen Erleben also noch nicht nachprüfen kann.
Die Vergeltung wird "gerecht" sein. Damit ist die ausgleichende Gerechtigkeit gemeint: Denjenigen, die gegenwärtig bedrängen, wird (seitens Gottes) mit Bedrängnis vergolten, und denen, die gegenwärtig bedrängt werden, wird mit "Ruhe" ("anesis") vergolten. Dabei ist "Ruhe" wohl im Sinne eines Gegensatzes zur Bedrängnis zu verstehen, also als ein Zustand ohne Bedrängnis und Anspannung, als ein gänzlich entspannter, erholsamer Zustand. Dabei ist die gerechte Vergeltung in einem christlichen Rahmen zu verstehen: Diejenigen, die bedrängen, sind keine Christen, sondern Heiden oder Juden. Und diejenigen, die bedrängt werden, sind keine Heiden oder Juden, sondern Christen - Christen, die trotz der Bedrängnis zu ihrem Glauben stehen und ihm treu bleiben. Die Vergeltung der Bedrängten mit Ruhe betrifft also standhafte und ihrem Glauben treue Christen.
"Zusammen mit uns" macht deutlich, dass sich Paulus, Silvanus und Timotheus - gemäß V. 1 die (angeblichen) Verfasser des 2 Thess - nicht zu den Thessalonicher Christen zählen. Sie sind keine Thessalonicher und somit unterscheidet sich ihr Erleben von demjenigen der Thessalonicher Gemeindeglieder. Paulus, Silvanus und Timotheus sind Missionare mit ihrem eigenen Erleben. Was die Thessalonicher Gemeindeglieder und die drei Missionare aber eint, ist die Tatsache, dass sie Bedrängnis erleben. Insofern wird den Thessalonicher Gemeindegliedern ebenso wie Paulus, Silvanus und Timotheus mit Ruhe vergolten.
Was bedeutet das für das "Anzeichen" bzw. für den "Beweis", von dem in V. 5 die Rede ist? Die Adressaten werden des Reiches Gottes würdig erachtet. Aus V. 7 geht hervor, dass die Adressaten als Vergeltung für die erduldete Bedrängnis Ruhe zu erwarten haben. Geht man davon aus, dass die Ruhe eine Beschreibung des Zustandes im Reich Gottes ist, dann sind die Verfolgungen und Bedrängnisse, die die Adressaten erdulden, ein Anzeichen oder Beweis, dass die Adressaten des Reiches Gottes würdig erachtet werden, für das sie auch leiden. Dabei ist zu beachten, dass die Bedrängnis Christen gilt, die in der Bedrängnis standhaft und ihrem Glauben treu bleiben. Diese Standhaftigkeit und Glaubenstreue ist nicht als Leistung der Adressaten gedacht, für die ihnen Lob und Dank gebührt, sondern der Dank geht (gemäß V. 3) an Gott. Lob mag auch den Adressaten gebühren und Paulus, Silvanus und Timotheus loben sich (gemäß V. 4) ja auch selbst, aber Lob gebührt auch Gott. Gott erscheint nämlich als wirkende Kraft. Beantwortet man nun mit Blick auf V. 6-7 die Frage, welche von den drei (in den Beobachtungen zu V. 5 genannten) Möglichkeiten, was ein Anzeichen oder Beweis sein könnte, dass die Adressaten des Reiches Gottes würdig erachtet werden, wohl zutrifft, dann ist entweder die Möglichkeit b oder die Möglichkeit c richtig. Für b spricht, dass die Bedrängnis bzw. die Verfolgungen und Bedrängnisse maßgeblich sind. Für c spricht, dass die Bedrängnis Christen gilt, die standhaft sind und ihrem Glauben treu bleiben. Einschränkend ist aber zu sagen, dass die Frage nicht ohne Weiteres von V. 6-7 her beantwortet werden kann - eben weil nicht klar ist, ob die Vergeltung der Bedrängten mit Ruhe so zu verstehen ist, dass den Bedrängten das Reich Gottes zuteil wird. Da dies aber durchaus wahrscheinlich ist, ist die Antwort auf die Frage, was Anzeichen bzw. Beweis ist, dass die Adressaten des Reiches Gottes würdig erachtet werden: die Bedrängnis ("Verfolgungen und Bedrängnisse"). Der Verfasser (oder: die Verfasser) des 2 Thess versucht also den Adressaten den theologischen Hintergrund ihrer Leiden zu erklären. Gibt man auch der Tatsache Gewicht, dass die Adressaten aufgrund des göttlichen Wirkens trotz der Bedrängnis standhaft sind und ihrem Glauben treu bleiben, dann lautet das Ergebnis: Standhaftigkeit und Glaubenstreue der Adressaten trotz Verfolgungen und Bedrängnissen sind Anzeichen bzw. Beweis, dass die Adressaten des Reiches Gottes würdig erachtet werden.
Die Vergeltung erfolgt bei der Offenbarung des "Herrn" Jesus vom Himmel her. Dabei handelt es sich um einen begrenzten Zeitraum, sodass sich die Frage stellt, ob die Ruhe auch im Reich Gottes noch anhält, also das Sein im Reich Gottes charakterisiert.
Der Titel „Herr“ gibt ein Herrschaftsverhältnis an: Der „Herr“ herrscht über seine Diener/Sklaven, die ihm bedingungslos zu dienen haben. Im Römischen Reich galt der Sklave als Sache. Der „Herr“ konnte also am Sklaven Willkür walten lassen. Allerdings erscheint Jesus Christus (oder: Gott) nicht als ein willkürlicher „Herr“, sondern vielmehr als einer, der seinen Sklaven für ihren Dienst Heil zukommen lässt. Der Sklave/Diener Jesu Christi (oder: Gottes) gehört also zu den sozial privilegierten Sklaven/Dienern. Der Aspekt der Gegenseitigkeit, wie er für das römische Klientelverhältnis typisch ist, spielt eine entscheidende Rolle: Der „Herr“ übt über seine Untergebenen (= Klienten) Macht aus, ist zugleich aber deren Schutzherr. Die Untergebenen wiederum sind dem „Herrn“ dafür zum Dienst verpflichtet. Die Christen befinden sich demnach also in der machtvollen Heilssphäre Jesu Christi, dem sie untergeben sind und dienen. Im NT ist „Herr“ ein religiöser Hoheitstitel für Gott und dann auch Jesus Christus. Im heidnischen Umfeld kommt er heidnischen Göttern und schließlich insbesondere dem Kaiser zu. Die unterschiedliche Verwendung macht eine Diskrepanz bezüglich der Frage deutlich, wem Verehrung zuteil werden soll.
Wenn der "Herr" Jesus vom Himmel herabkommt, setzt das voraus, dass sein Ort vor dem Herabkommen im Himmel ist. Dabei handelt es sich laut V. 7 nicht um eine Mehrzahl Himmel(sgefilde), sondern um einen. Hier war der "Herr" Jesus den Augen der Menschen verborgen. Bei der Offenbarung wird er sichtbar und (leichter) erkenntlich, und zwar sowohl mit den Augen als auch mit dem Verstand bzw. dem Geist. Mit der Offenbarung Jesu wird auch sein Herrsein und damit auch die Richtigkeit des christlichen Glaubens offenbar.
Die Formulierung "met' angelôn dynameôs autou" kann auf dreierlei Weise übersetzt werden: a) "mit seinen Engeln der Macht"; b) "mit Engeln seiner Macht"; c) "mit seinen mächtigen Engeln". Übersetzung a ist möglich, aber nicht nahe liegend, weil sich das Possessivpronomen "autou" ("seinen/seiner") eher auf das unmittelbar vorhergehende "dynameôs" ("Macht") als auf das weiter entfernte "angelôn" ("Engel") bezieht. Bleiben Übersetzung b und c. Bei Übersetzung b ist ausgesagt, dass Jesus mächtig ist und die Engel seine Macht anzeigen, bei Übersetzung c sind die Engel mächtig.
Das Herabkommen Jesu mit Engeln seiner Macht / seinen mächtigen Engeln wird als ein dramatisches Geschehen dargestellt. Es beinhaltet Bewegung, und zwar von oben nach unten, was Macht erkennen lässt: Oben ist, wer mächtig ist. Das Herablassen erfolgt zu denen, die nicht mächtig sind. Auch das Feuer dürfte als bewegt gedacht sein, denn es lodert (vgl. V. 8).
Wenn die Vergeltung beim Herabkommen Jesu mit Engeln seiner Macht / mit seinen mächtigen Engeln erfolgt, dann bedeutet das nicht unbedingt, dass Jesus (samt den Engeln) Richter ist, denn V. 6 und V. 8 sagen aus, dass Gott selbst vergilt. Allerdings kann das Feuer auf eine Gotteserscheinung (Theophanie) hinweisen (vgl. V. 8). Dann würde Gott zusammen mit dem "Herrn" Jesus, der samt Engeln herabkommt, oder im Beisein des "Herrn" Jesus richten/vergelten. Auch kann der "Herr" Jesus als Vollstrecker des göttlichen Gerichtes gedacht sein.
Weiterführende Literatur: J. H. Roberts 1986, 29-35 befasst sich mit den eschatologischen Texten in den Übergängen zu den paulinischen Briefkorpora. Er untersucht die verschiedenen Techniken, v. a. die eschatologische Klimax in 1 Kor 1,7-8, Phil 1,10, 1 Thess 1,1-10, 2 Thess 1,6-10, und legt den Forschungsstand dar. Auch geht er auf den größeren Zusammenhang ein. Ergebnis: Die eschatologischen Übergänge hätten wichtige rhetorische Bedeutung. Zu 2 Thess: Weil die Bitte (2,1-2), die das Briefkorpus einleitet, den Grund des Schreibens enthalte, und weil es hierin um das irrige Gerücht oder die irrige Lehre gehe, dass die Wiederkunft Christi bereits erfolgt sei, sei offensichtlich, dass die eschatologischen Bezüge in den Danksagungen eine wichtige Vorbereitung der Leser auf den folgenden Inhalt darstellen.
Mit der Zeichensetzung in 2 Thess 1,3-10 befasst sich D. A. Dunham 1981, 39-46. Obwohl die wesentlichen Ausgaben des griechischen Textes des NT den Abschnitt als einen einzigen Kettensatz darstellten, werde er von modernen Übersetzungen in bis zu neun Sätze untergliedert. Satzzeichen seien nicht unwichtig, denn sie hätten großen Einfluss auf die Bedeutung und das Verständnis des Textes. 2 Thess 1,3-10 sollte so übersetzt werden, dass mit den V. 4, 6, 7b und 10b jeweils ein neuer Satz beginnt. Dies vereinfache die Passage und mache sie leichter verständlich.
I. Jones 2000, 235-255 untermauert die von W. Horbury 1998 vorgebrachte Annahme, dass die Texte Jes 9,5(6); 66,7; PsSal 17; 4 Esr 13 in Verbindung mit der traditionellen Exegese von Jes 11,4 die Passagen 2 Thess 1,7-8 und 2 Thess 2 beeinflusst hätten.
T. Nicklas 2013, 227-238 legt dar, dass bereits auf die verschiedenen 2 Thess 1,5-12 zugrunde liegenden atl. Textstellen hingewiesen worden sei. Diese wolle er nicht erneut herausarbeiten. Vielmehr komme es ihm darauf an, ihre Bedeutung für die Auslegung des Textes darzulegen. Ergebnis: Es werde in 2 Thess 1,5-12 gleich ein ganzes Bündel an atl. Texten herangezogen, wobei diese oftmals mit den „Tag des Herrn“-Traditionen in Zusammenhang stünden. Entscheidend sei, dass die Eigenschaften und Aktivitäten Gottes auch dem „Herrn“ Jesus zugeschrieben werden. So entstehe der Eindruck, dass das, was über Gott gesagt werden kann, auch über den „Herrn“ Jesus gesagt werden kann.
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Beobachtungen: Es ist unklar, ob die ursprüngliche Lesart "en pyri phlogos" ("im Feuer der Flamme / im lodernden Feuer") oder "en phlogi pyros" ("in [der] Feuerflamme") ist. Nestle-Aland, 27. Aufl. hält "en pyri phlogos" für die ursprüngliche Lesart. Dass sie es tatsächlich ist, dafür spricht die etwas bessere Bezeugung und die Tatsache, dass sie die schwierigere Lesart ist. So ist "in [der] Feuerflamme" leichter verständlich als "im Feuer der Flamme". Es ist folglich wahrscheinlicher, dass "en pyri phlogos" nachträglich zu "en phlogi pyros" geändert wurde, als umgekehrt. Zusätzlich zu diesen Beobachtungen sind aber auch biblische Bezüge zu berücksichtigen, aus denen auch die Bedeutung der beiden Textversionen, die Gewichtung ihrer theologischen Aussage hervorgeht. Die Lesart "en phlogi pyros" erscheint (so oder so ähnlich) in Jes 29,6LXX; 66,15LXX; Dan 7,9LXX und in Ps 28,7LXX, was eine dahingehende Änderung durchaus plausibel erscheinen lässt. Ebenso ist sie in einer Textversion auch für Ex 3,2LXX belegt, wo sich aber auch die Lesart "en pyri phlogos" findet. Die textliche Unklarheit von Ex 3,2LXX findet in Apg 7,30 ihren Niederschlag, wo ebenfalls beide Lesarten bezeugt sind. Jes 29,6LXX; 66,15LXX; Dan 7,9LXX und Ps 28,7LXX enthalten Aussagen zum Gericht Gottes, in Ex 3,2LXX geht es um eine Gotteserscheinung. In 2 Thess 1,8 kann bezüglich der Formulierungen "en pyri phlogos" ("im Feuer der Flamme / im lodernden Feuer") und "en phlogi pyros" ("in [der] Feuerflamme") der Schwerpunkt also sowohl auf dem Gericht Gottes als auch auf der Gotteserscheinung liegen. Bei ersterer Formulierung ist ein Gewicht auf der Gotteserscheinung wahrscheinlicher, bei letzterer ein Gewicht auf dem Gericht Gottes. 2 Thess 1,8 deutet das Gericht Gottes und die Gotteserscheinung christlich und platziert somit den "Herrn" Jesus im Feuer der Flamme / in der lodernden Flamme bzw. in der Feuerflamme. Geht man davon aus, dass der Verfasser (oder: die Verfasser) des 2 Thess Jes 29,6LXX; 66,15LXX; Dan 7,9LXX und/oder Ps 28,7LXX vor Augen hatte und die Formulierung von dort übernommen hat, dann könnte durchaus auch die Lesart "en phlogi pyros" ursprünglich sein. Eine Änderung hin zu "en pyri phlogos" könnte mit Blick auf Ex 3,2LXX erfolgt sein, zwecks Betonung der Gotteserscheinung.
Die Formulierung "didômi ekdikêsin" bedeutet "Rache/Vergeltung üben". Dabei ist jedoch zu beachten, dass in V. 6 "vergelten" mit dem Verb "antapodidômi" ausgedrückt wird. Dort ist mit Vergeltung jedoch keine Rache gemeint, sondern ausgleichende Gerechtigkeit. So wird sowohl den Bedrängern als auch den Bedrängten vergolten, ersteren mit Bedrängnis, letzteren mit Ruhe. In V. 8 geht es zwar auch um "Vergeltung", allerdings nur unter dem Gesichtspunkt der Bestrafung. Und diese betrifft nicht die "Bedränger", sondern diejenigen, die Gott nicht kennen/anerkennen, und diejenigen, die dem Evangelium unseres Herrn Jesus nicht gehorchen. Das können zwar Menschen sein, die die Christen bedrängen, müssen es aber nicht. Der Blick geht vom Verhältnis zwischen Nichtchristen und Christen zum Verhältnis zwischen Nichtchristen und dem "Herrn" Jesus sowie zum Verhältnis zwischen Christen und dem "Herrn" Jesus über. Aufgrund der Weiterentwicklung des Gedankenganges ist "didômi ekdikêsin" besser mit "Rache üben" oder "heimzahlen" als mit "Vergeltung üben" zu übersetzen.
Es stellt sich die Frage, ob diejenigen, die Gott nicht kennen/anerkennen, und diejenigen, die "dem Evangelium unseres Herrn Jesus" nicht gehorchen, zwei verschiedene Menschengruppen sind. Auf zwei verschiedene Menschengruppen könnten die beiden Artikel hinweisen, die jeweils eine Menschengruppe einleiten können. Verschieden könnten die beiden Menschengruppen insofern sein, als die erste Menschengruppe Gott (gemeint ist der Gott der Christen und Juden) nicht kennt, also von ihm noch nichts gehört hat, die zweite Menschengruppe dagegen zwar schon von Gott gehört hat, aber "dem Evangelium unseres Herrn Jesus" nicht gehorcht, ihm also nicht glaubt und somit auch nicht das Leben danach ausrichtet. Die erste Menschengruppe wären Unwissende, die zweite Verweigerer. Die beiden Artikel können aber auch auf einen synonymen Parallelismus hinweisen. Dabei handelt es sich um eine bestimmte Form des Parallelismus membrorum. eines häufig in poetischen Textes der hebräischen Bibel (= AT) anzutreffenden Stilmittels. Beim synonymen Parallelismus gibt die zweite Zeile in anderen Worten den Inhalt der ersten Zeile wieder. In 2 Thess 1,8 könnte ebenfalls dieses Stilmittel verwendet sein, womit diejenigen, die "dem Evangelium unseres Herrn Jesus" nicht gehorchen, mit denjenigen identisch wären, die Gott nicht kennen/anerkennen. Das Partizip "eidosin" wäre nicht im Sinne von "erkennend", sondern im Sinne von "anerkennend" zu verstehen. Es wären also Menschen im Blick, die Gott nicht anerkennen, sich ihm also verweigern. Diese Menschen verweigern sich auch dem Evangelium.
Der Titel „Herr“ gibt ein Herrschaftsverhältnis an: Der „Herr“ herrscht über seine Diener/Sklaven, die ihm bedingungslos zu dienen haben. Im Römischen Reich galt der Sklave als Sache. Der „Herr“ konnte also am Sklaven Willkür walten lassen. Allerdings erscheint Jesus Christus (oder: Gott) nicht als ein willkürlicher „Herr“, sondern vielmehr als einer, der seinen Sklaven für ihren Dienst Heil zukommen lässt. Der Sklave/Diener Jesu Christi (oder: Gottes) gehört also zu den sozial privilegierten Sklaven/Dienern. Der Aspekt der Gegenseitigkeit, wie er für das römische Klientelverhältnis typisch ist, spielt eine entscheidende Rolle: Der „Herr“ übt über seine Untergebenen (= Klienten) Macht aus, ist zugleich aber deren Schutzherr. Die Untergebenen wiederum sind dem „Herrn“ dafür zum Dienst verpflichtet. Die Christen befinden sich demnach also in der machtvollen Heilssphäre Jesu Christi, dem sie untergeben sind und dienen.
Weiterführende Literatur: Laut R. F. Collins 1990, 426-440 sei die Sprache des 2 Thess weniger kerygmatisch als diejenige des 1 Thess. Der 1 Thess blicke vor allem auf die Vergangenheit zurück, auf die Verkündigung des Evangeliums und auf den Glauben als Antwort darauf. Grund des Glaubens seien Tod und Auferstehung Jesu. Der 2 Thess dagegen thematisiere Tod und Auferstehung Jesu nicht und schenke auch der Vergangenheit samt der Verkündigung des Evangeliums weniger Beachtung. Vielmehr sei der Blick im 2 Thess auf die Zukunft gerichtet, auf die erwartete Wiederkunft Christi.
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Beobachtungen: Das Verb "tinô" bedeutet "zahlen" oder "büßen". Es ist also ausgesagt, dass als Strafe ewiges Verderben abgebüßt ("erlitten") wird. Das Substantiv "dikê" bezeichnet neben der Strafe auch das Urteil und den Gerichtsprozess. Wir haben es bei der Strafe wohl nicht mit einem plötzlichen, unkontrollierten Wutausbruch Gottes zu tun, sondern mit einem Urteil, wie es in einem förmlichen Gerichtsprozess gesprochen wird.
Die Präposition "apo" bedeutet "von" und kann auf den Urheber der Strafe, den "Herrn" (Jesus), hinweisen oder auf räumliche Ferne von dem "Herrn". Bei ersterer Möglichkeit wäre eine Strafe, die "vom Angesicht des 'Herrn'" kommt, gemeint. Letztere Möglichkeit ist hier jedoch wahrscheinlicher, denn der Strafende ist laut V. 6.8 Gott, nicht der "Herr" Jesus. Außerdem geht es in V. 9-10 um räumliche Ferne und Nähe in Verbindung mit Unglauben und Glauben dem "Herrn" Jesus gegenüber. Folglich ist wohl wie folgt zu deuten: Das Abbüßen der Strafe ist ewig und erfolgt fern vom Angesicht des "Herrn". Die Nichtchristen sind in ihrem Leben dem "Herrn" Jesus fern, also zahlt es ihnen der "Herr" Jesus schließlich mit seiner Ferne heim.
Der Begriff "doxa" kann mit "Ehre", "Ruhm", "Glanz" oder "Herrlichkeit" übersetzt werden. Die Formulierung "Herrlichkeit seiner Kraft" verbindet alle diese Aspekte mit der "Kraft" des "Herrn" Jesus. Der Glanz dürfte dabei im Zusammenhang mit dem "lodernden Feuer" zu sehen sein. Das "lodernde Feuer" ist also nicht als gewöhnliches Feuer, wie es beispielsweise im Kamin brennt, gedacht, sondern als ein strahlendes Feuer, das Ehre, Ruhm und Herrlichkeit vermittelt. Es weist auch auf die Kraft des "Herrn" hin, wobei die Kraft gemäß 2 Thess 1,9 positiv, heilsam zu verstehen ist. Von dieser Kraft sind diejenigen, die sich dem christlichen Glauben verweigern, fern.
Die Formulierung "vom Angesicht des Herrn und von der Herrlichkeit seiner Kraft" nimmt 2 Thess 1,9 von Jes 2,10.19.21LXX auf, streicht allerdings den "Schrecken". So spricht 2 Thess 1,9 statt vom "Schreckensanblick/Schreckensangesicht des Herrn" vom "Angesicht des Herrn". In 2 Thess 1,9 soll das gesamte Gewicht der Aussage auf der "Herrlichkeit der Kraft des Herrn" liegen, dieses strahlende Bild nicht von "Schrecken" getrübt werden.
Weiterführende Literatur: Zur Frage, ob die Präposition „apo“ räumliche Ferne von dem „Herrn“ aussagt oder den Urheber des ewigen Verderbens benennt, siehe C. L. Quarles 1997, 201-211. Die Mehrheit der Exegeten vertrete erstere Deutung. Der Ausschluss von der Gegenwart Gottes sei demnach das, was die Strafe Gottes ausmacht. C. L. Quarles folgt dagegen der letzteren Deutung, die von der Minderheit vertreten werde. Diese werde sowohl durch den atl. Hintergrund als auch durch die ntl. Parallelen und die Pseudepigraphen gestützt. 2 Thess verstehe den Zorn Gottes eher aktiv als passiv. Das ewige Verderben bestehe nicht in der Entfernung des „Herrn“, sondern in der Konfrontation des uneinsichtigen Sünders mit dem „Herrn“.
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Beobachtungen: Die Formulierung "otan elthê" weist mit ihrem Aorist Konjunktiv auf eine gewisse Unsicherheit des Verfassers (oder: der Verfasser) des 2 Thess hin. Dabei dürfte die Unsicherheit nicht das Kommen des "Herrn" betreffen, denn dieses erscheint im Zusammenhang doch als sicher. Die Unsicherheit betrifft vielmehr den Zeitpunkt des Kommens des "Herrn", denn dieser lässt gemäß 2 Thess 2,1-2 noch eine Weile auf sich warten.
Wer sind die "Heiligen"? Sind es Engel, die möglicherweise den Hofstaat Gottes bzw. Jesu bilden? Oder sind es besonders fromme, wundertätige Menschen? Oder handelt es sich um einen Ausdruck für Christen? Zwei Argumente sprechen für letztere Möglichkeit: Erstens zeigt die Präposition "en", die "in", "unter" oder "inmitten" bedeuten kann, Innerlichkeit oder Nähe an. Der "Herr" wird also in, unter oder inmitten seinen Heiligen verherrlicht, also "in", "unter" oder "inmitten" den Menschen, die "in Christus" (vgl. V. 12) sind. Diese Innerlichkeit oder Nähe steht in einem Gegensatz zu dem ewigen Verderben fern von Christus. Zweitens kann die Formulierung "um unter seinen Heiligen verherrlicht zu werden und Bewunderung zu finden bei allen, die gläubig geworden sind" als synonymer Parallelismus verstanden werden. "Um unter seinen Heiligen verherrlicht zu werden" und "Bewunderung zu finden bei allen, die gläubig geworden sind" wären bedeutungsgleich. Die "Heiligen" wären also Menschen, die (christus)gläubig geworden sind.
Verherrlichung und Bewunderung des "Herrn" sind nicht universal, sondern in einem rein christlichen Rahmen gedacht. Verschiedene Aspekte dürften anklingen: Die Richtigkeit des Glaubens an den "Herrn" Jesus, die mit dessen Wiederkunft offenbar wird. Die Nichtchristen werden beschämt, aber die Christen sehen sich in ihrem Glauben bestätigt und können triumphieren. Sie feiern aber nicht sich selbst, sondern den "Herrn". Die "Bewunderung" ("thaumazomai" = bewundert werden / Bewunderung finden") weist aber darauf hin, dass sich die Christen nicht nur in ihrem Glauben bestätigt sehen, sondern dass der "Herr" Jesus samt der "Herrlichkeit seiner Kraft" alle sowieso schon positiven Erwartungen noch übersteigt. So sehen sich die Christen zwar bestätigt, sind aber auch verwundert und überwältigt. Und diese Verwunderung und Überwältigung steigern die Verehrung, die die Christen ihrem "Herrn" gegenüber schon vor dessen Wiederkunft erwiesen haben, noch.
Das "Zeugnis" dürfte die Verkündigung des Evangeliums meinen, die bei den Thessalonichern erfolgt ist. Demnach hat der Verfasser (oder: die Verfasser) des 2 Thess bzw. Paulus, möglicherweise ebenso Silvanus und Timotheus, bei den Thessalonichern gepredigt.
Die Formulierung "denn bei euch hat unser Zeugnis Glauben gefunden" ist in doppelter Hinsicht bedeutsam: Zum einen macht sie deutlich, dass die Adressaten - anders als die Nichtchristen - zum christlichen Glauben gekommen sind. Sie kommen somit in den Genuss des zuvor beschriebenen Heilsgeschehens und haben keine Strafe zu befürchten. Zum anderen wird der besondere Bezug unterstrichen, den die Adressaten zu Paulus und möglicherweise auch zu Silvanus und Timotheus bzw. zu dem Verfasser (oder: den Verfassern) des 2 Thess haben.
Einige wenige Textzeugen lesen "epistôthê" ("ist bekräftigt/bestätigt worden") statt "episteuthê" ("hat Glauben gefunden"). Diese Variante dürfte aber schon wegen ihrer schlechten Bezeugung nicht ursprünglich sein. Außerdem ist die Lesart "episteuthê" schon deswegen wahrscheinlicher, weil zuvor mit dem Partizip "pisteusasin" ("die gläubig geworden sind") bereits das Verb "pisteuô" ("glauben/vertrauen") verwendet worden ist. Ging es zuvor um das zum Glauben Kommen von Menschen, so geht es nun um die gläubige Annahme des "Zeugnisses".
"An jenem Tag" klappert merkwürdig nach. Was ist denn "jener Tag"? Ist das der Tag, an dem die Verkündigung der Missionare bei den Adressaten des 2 Thess auf fruchtbaren Boden gefallen ist und an dem die Adressaten zum christlichen Glauben gekommen sind? Das könnte man meinen, weil die Annahme des christlichen Glaubens unmittelbar vor der Formulierung "an jenem Tag" zur Sprache kommt. Oder ist das der Tag, an dem der "Herr" Jesus kommt? Das liegt auf den ersten Blick nicht nahe, weil das Kommen des "Herrn" Jesus weit vor der Formulierung "an jenem Tag" erwähnt wird. Dass dennoch ein Bezug auf das Kommen des "Herrn" Jesus vorliegen dürfte, geht daraus hervor, dass in 2,1-12 der "Tag des Herrn" Thema ist. Da geht es um die Wiederkunft Jesu. Das Nachklappern der Formulierung "an jenem Tage" in 1,10 weist wohl auf diesen Sachverhalt hin. Allerdings muss vor der Abhandlung über den "Tag des Herrn" noch die Fürbitte für die Adressaten erfolgen, damit der Zusammenhang mit der Danksagung (1,3-4) nicht verlorengeht.
Weiterführende Literatur: Laut G. Hotze 1999, 139-141 weise der Abschnitt 2 Thess 1,5-10 eine Fülle alttestamentlicher, frühjüdischer, neutestamentlicher und urchristlicher Bezüge auf, deren verbindendes Element mit dem im Text selbst genannten Stichwort als apokalyptisch bezeichnet werden könne. Der Autor des 2 Thess stütze sich auf die breite und unbestritten anerkannte atl. und apokalyptische Tradition einer futurischen Eschatologie, die ja auch bei Paulus gut bezeugt sei. Der Verfasser verstärke lediglich, seiner Intention entsprechend, diese Zielrichtung. Zugleich baue er die ebenfalls schon von Paulus selbst vorgenommene christologische Transformation des apokalyptischen Materials weiter aus.
E. D. Schmidt 2012, 409-432 geht der Frage nach, wie sich im Zusammenhang der unterschiedlichen eschatologischen Vorstellungen die Heiligungs- und Heiligkeitsaussagen im 2 Thess zu denen des 1 Thess verhalten. Ergebnis: Der 1 Thess differenziere zwischen der Heiligkeit des Göttlichen und der Heiligung der Gläubigen. Die gläubig gewordenen Heiden seien nicht heilig, sondern träfen das Heilige erst bei der eschatologischen Vollendung, die mit der Wiederkunft Christi und Entrückung erwartet werde. Bislang befänden sie sich im Stand der Heiligung. Während Belege der Wurzel hag- in 1 Thess statistisch sehr prominent vorkämen, fänden sich solche in 2 Thess zwar reduziert, aber weiterhin deutlich soteriologisch-eschatologisch verankert. Bezüglich der Verwendung gebe es zwar Differenzen, aber diese seien leicht durch die neue Schreibsituation und die veränderte eschatologische Konzeption des späteren Briefes erklärbar. Substantiell verändert erscheine das Heiligkeits- und Heiligungsverständnis in 2 Thess gegenüber 1 Thess hingegen nicht.
Literaturübersicht
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Crüsemann, Marlene; Die pseudepigraphen Briefe an die Gemeinde in Thessaloniki. Studien zu ihrer Abfassung und zur jüdisch-christlichen Sozialgeschichte (BWANT 191), Stuttgart 2010
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Hotze, Gerhard; Die Christologie des 2. Thessalonicherbriefes, in: K. Scholtissek [Hrsg.], Christologie in der Paulus-Schule: zur Rezeptionsgeschichte des paulinischen Evangeliums (SBS 181), Stuttgart 1999, 124-148
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