Phil 4,8-9
Übersetzung
Phil 4,8-9:8 Im Übrigen, Geschwister, was wahr ist, was ehrbar, was recht, was lauter, was wohlgefällig, was ansprechend, was immer Tugend ist und was immer Lob [verdient], darauf seid bedacht! 9 Und was ihr gelernt und empfangen und gehört und an mir gesehen habt, das tut! Und der Gott des Friedens wird mit euch sein.
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Beobachtungen: Die Formulierung „to loipon“ („im Übrigen“) hat gewöhnlich abschließenden Charakter. Es wird etwas Letztes gesagt, was bisher noch nicht gesagt worden ist, eine letzte Mitteilung. Hier erfolgen letzte Mahnungen, die zum einen das Sinnen, zum andere das Handeln betreffen.
Fraglich ist, ob die persönlichen Ermahnungen V. 2-3, die Ermahnungen zum Vertrauen auf Gott V. 4-7 und die abschließenden Ermahnungen V. 8-9 seit jeher zusammenhängen oder erst nachträglich durch einen Redaktor zusammengefügt wurden.
„Geschwister“ meint hier nicht leibliche Geschwister, sondern Glaubensgeschwister, nämlich Christinnen und Christen. Bei dem Substantiv „adelphoi“ handelt es sich zwar um eine maskuline Form, die zunächst mit „Brüder“ zu übersetzen ist, jedoch sind hier vermutlich auch die „Schwestern“ eingeschlossen. Dass diese unkenntlich bleiben, liegt an der männerzentrierten Sprache, die gemischtgeschlechtliche Gruppen als reine Männergruppen erscheinen lässt.
Die V. 8-9 stellen einen Tugendkatalog dar: Es wird katalogartig aufgezählt, welche Tugenden den Christen auszeichnen.
„Wahr“ („alêthês“) ist – ganz allgemein gesprochen – alles, was nicht falsch ist (vgl. 2 Kor 7,14; 12,6; Röm 9,1). Wenn die Adressaten auf das „Wahre“ bedacht sein sollen, dann sollen sie sich zunächst einmal von Lug und Trug fernhalten. Darüber hinaus verbindet Paulus aber „Wahrheit“ („alêtheia“) auch ganz konkret mit dem Inhalt des Evangeliums, dem Heilsgeschehen (vgl. Röm 1,18.25; 2,8; 2 Kor 4,2; 6,7; 11,10; Gal 2,5.14; 5,7). Alle Aussagen, die dem Evangelium, das dieses Heilsgeschehen zum Inhalt hat, entsprechen, sind demnach „wahr“ („alêthês“), keine Lüge. Die Adressaten sollen sich also nicht nur von Lug und Trug fernhalten, sondern auch das Evangelium zu erfassen suchen und sich danach richten.
Das Adjektiv „semnos“ bedeutet „ehrbar“. Für ihre Gesinnung soll den Adressaten Achtung zukommen, wobei sich die Frage stellt, ob sie nur von den Glaubensgenossen oder auch von den Nichtchristen erstrebt werden soll. Möglich ist auch, dass es um die Ehre geht, die dem Ehrbaren von Gott bzw. Jesus Christus zukommt.
„Gerecht“ („dikaios“) ist hier wohl nicht im sozialen oder juristischen Sinne zu verstehen, sondern im Lichte des versöhnenden, mit Christus verbundenen Heilsgeschehens, das Gerechtigkeit (= Rechtfertigung) bewirkt und geglaubt werden soll. „Gerechtes“ Handeln ist die rechte Antwort auf die bedingungslos zugesagte Sündenvergebung bei dem endzeitlichen Weltgericht, aus der „Gerechtigkeit“ folgt.
Die zugesagte Sündenvergebung stellt eine „Reinwaschung“ von den Sünden dar. Infolgedessen steht der gerechtfertigte Mensch bei dem endzeitlichen Weltgericht rein vor Gott bzw. Jesus Christus, dem Richter. Reines, d. h. lauteres Verhalten ist die rechte Antwort auf die zugesagte „Reinwaschung“ und Reinheit. Konkrete Aspekte der Reinheit (moralisch, sexuell usw.) nennt Paulus hier nicht, weshalb sie sich nicht speziell auf solche beziehen lässt. Das Adjektiv „hagnos“ kann statt mit „rein/lauter“ auch mit „heilig“ übersetzt werden. Eine „heilige“ Gesinnung entspricht dem Status der Adressaten: Sie sind als Menschen, denen die Sündenvergebung verheißen ist, „Heilige“ („hagioi“).
Die beiden Adjektive „prosphilês“ und „euphêmos“ finden sich im NT nur hier, was ihre Deutung erschwert. „Prosphilês“ ist wörtlich das, was Liebe hervorruft. Dabei dürfte nicht an die Liebe im engeren Sinn, sondern an Zuneigung oder Wohlwollen gedacht sein. Ob die Zuneigung oder das Wohlwollen seitens der Christen, der Nichtchristen oder seitens Gottes bzw. Jesu Christi im Blick ist, bleibt offen. Spezifisch christlich oder jüdisch sind die Tugenden zumindest nicht.
„Euphêmos“ bedeutet wörtlich „wohllautend“ oder „Gutes versprechend“. Hier ist wohl „Lob hervorrufend“ oder „ansprechend“ gemeint. Das Trachten der Adressaten soll also bei Christen, Nichtchristen oder/und Gott bzw. Jesus Christus Lob hervorrufen oder Anerkennung finden.
Der Begriff „aretê“ meint ganz allgemein die „Tugend“ und wird von Paulus in seinen Briefen nur hier benutzt. Er spielt insbesondere bei den Stoikern eine große Rolle, wo als tugendhaft ein Mensch von hervorragenden moralischen Qualitäten gilt. Angesichts der äußerst positiven Bedeutung, die dem Begriff allgemein in der griechischen Philosophie zukommt, stellt sich die Frage, ob dieser siebte Punkt des Tugendkatalogs über die vorhergehenden sechs Punkte herausgehoben ist.
Das „Lob“ („epainos“) meint wohl das mündlich geäußerte Lob. Im Römischen Reich werden – insbesondere von den Behörden – verdiente Bürger auch mittels Inschriften gelobt. Das Gewicht, das Paulus dem Lob und dem guten Ansehen gibt, entspricht der herausragenden Bedeutung, die im Römischen Reich dem Lob und dem guten Ansehen zukommt. Neben dem mündlich oder schriftlich von den Menschen geäußerten Lob kann aber auch das von Gott stammende Lob gemeint sein.
Weiterführende Literatur: Eine Auslegung von 4,1-9 bietet M. Müller 1997, 143-147.
Zur Rhetorik von 4,1-20 siehe A. H. Snyman 1993, 325-337.
A. H. Snyman 2007, 224-243 analysiert 4,1-9 von einer rhetorischen Perspektive aus, die sich von dem von anderen Auslegern gewählten Ansatz unterscheide. Statt den Textabschnitt anhand von Kategorien antiker Rhetorik zu analysieren, wählt A. H. Snyman einen textzentrierten Ansatz. Ergebnis: Die rhetorische Strategie des Apostels solle die Philipper dazu bewegen, das Evangelium zu leben.
D. Ezell 1980, 373-381 deutet Phil 4 sowohl unter intellektuellen als auch unter das christliche Leben betreffenden Gesichtspunkten, arbeitet den ursprünglichen Zusammenhang (chronologisch, geographisch, historisch, kulturell, sozial und theologisch) heraus, um eine allzu subjektive Herangehensweise zu vermeiden, und versucht bei der Beschäftigung mit dem einzelnen Kapitel der Bedeutung des gesamten Philipperbriefs ausreichend Beachtung zu schenken.
Anhand einer Miniatur aus dem Codex Benedictinus, die darstellt, wie ein Vater seinen für das Klosterleben bestimmten Sohn an eine Gruppe benediktinischer Mönche gibt, zeigt W. Nastainczyk 1994, 315-318 Parallelen zwischen benediktinischem Klosterleben und Phil 4,4-9 auf.
A. Standhartinger 2008, 417-435 hält das Fragment Phil 3,2-21; 4,8-9 für ein Weisheit enthaltendes Testament, das von Paulus in einer Situation höchster Lebensgefahr - möglicherweise der Situation von 2 Kor 1,8-9 - geschrieben und aus dem Gefängnis geschmuggelt worden sei. Es sei sein - noch früher - Abschiedsbrief an eine ihm nahe stehende Gemeinde, in dem er ihnen seine christologisch reflektierte Biographie präsentiere.
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Beobachtungen: 4,9 führt vermutlich 3,17 aus, wo es heißt, dass die Adressaten „Mit-Nachahmer“ des Apostels werden sollen, also – je nach Deutung – entweder gemeinsam mit dem Apostel Nachahmer Jesu Christi oder zusammen Nachahmer des Apostels. Wer oder was nachgeahmt wird, muss aber in irgendeiner Form der Adressaten zu Gesicht oder zu Ohren gekommen sein. Die Grundlage des Handelns nennt Paulus in 4,9.
Die Folge von Aoristen lässt annehmen, dass in V. 9 ein einmaliges abgeschlossenes Geschehen im Blick ist, an dem sich das Handeln ausrichten soll. Dieses Geschehen umfasste das Lernen, das Empfangen, das Hören und das Sehen, wobei das Sehen konkret an der Person des Paulus festgemacht wird. Der Bezug zu Paulus lässt annehmen, dass das gesamte Geschehen mit seiner Person zusammenhängt. Dabei ist am ehesten an die Verkündigung des Evangeliums zu denken. Die Adressaten haben das Evangelium mündlich verkündigt bekommen und somit gehört und empfangen, sie haben sich mit ihm auseinandergesetzt, es gelernt und letztendlich auch geglaubt. Weil es von Paulus persönlich verkündigt wurde, haben sie es auch an ihm gesehen. Dabei geht es aber wohl nicht nur um das rein äußerliche Sehen des Körpers, sondern um das Erkennen der gesamten Lebensweise des Apostels, zu der neben der Befolgung des in V. 8 Angemahnten sicherlich auch Leid, Entbehrung und Verfolgung gehören. Paulus verkörpert das verkündigte Evangelium und die entsprechenden Verhaltensweisen und stellt so ein Vorbild dar. Das „Hören“ kann sich über das Hören des Evangeliums hinausgehend auch auf das Hören vom Ergehen des abwesenden und gegenwärtig gefangenen Apostels beziehen.
Durch den konkreten Bezug auf das Evangelium hat V. 9 im Gegensatz zu den eher allgemein gültigen Tugenden V. 8 einen spezifisch christlichen Charakter.
„Gott des Friedens“ kann als genitivus originis oder als genitivus epexegeticus verstanden werden, d. h. Gott kann die Quelle des Friedens oder selbst der Friede sein. Dabei dürfte der Begriff „Friede“ den Frieden zwischen Gott und Mensch aufgrund des Versöhnungsgeschehens (Christi Kreuzestod und Auferstehung) meinen. Darüber hinaus erlangt ein Mensch, der auf das Versöhnungsgeschehen vertraut, aber auch Frieden: Er sorgt sich um nichts mehr, sondern bringt seine Anliegen im Gebet vor Gott. Aufgrund des ihm entgegengebrachten Vertrauens bewahrt Gott die Herzen und Sinne der Gläubigen in Jesus Christus (vgl. V. 7). Und wenn die Gesinnung und Verhaltensweisen des Gläubigen dem Evangelium entsprechen, ist Gott mit dem Gläubigen. Dies dürfte beim endzeitlichen Weltgericht zur Besiegelung des Friedens zwischen Gott und dem gläubigen Menschen und somit zum (ewigen) Heil führen.
Weiterführende Literatur: Dass der Philipperbrief nicht ein Brief eines am Leben verzweifelten, verbitterten Mannes ist, sondern eines Mannes „in Christus“, der zur Freude aufruft, versucht C. Bugg 1991, 253-257 anhand von 4,4-13 zu zeigen.
Laut P. A. Holloway 1998, 89-96 habe nicht nur V. 6-7 tröstenden Charakter, sondern auch V. 8-9, wie V. 9b zeige. V. 9b verheiße den Frieden Gottes, wobei aus V. 8-9a jedoch nicht hervorgehe, wie es zu diesem kommt. P. A. Holloway vertritt die Ansicht, dass die Verse auf dem Hintergrund epikureischen Trostes zu verstehen seien. So gehe Epikur davon aus, dass sich Kummer nur dann vermeiden lasse, wenn die Gedanken vom Leid abgewendet und zur Freude hingewendet werden. V. 9a könne so verstanden werden, dass die Tugend – seinem Beispiel gemäß – betrachtet und getan werden soll. Wahrscheinlicher sei aber, dass Paulus konkret den geduldigen Umgang mit dem Leid im Blick hat, für den er Vorbild sei.
Literaturübersicht
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Bugg, Charles B.; Philippians 4:4-13, RExp 88 (1991), 253-257
Ezell, Douglas; The Sufficiency of Christ. Philippians 4, RExp 77/3 (1980), 373-381
Holloway, Paul A.; Bona Cogitare: An Epicurean Consolation in Phil 4:8-9, HTR 91/1 (1998), 89-96
Magass, Walter; Athen und Jerusalem – an unbekannter Stelle: Phil 4,8-9, in: T. Müller u. a. [Hrsg.], Nicht allein mit den Worten, FS J. Dyck, Stuttgart 1995, 223-233
Müller, Markus; Vom Schluß zum Ganzen: Zur Bedeutung des paulinischen Briefkorpusabschlusses (FRLANT 172), Göttingen 1997
Nastainczyk, Wolfgang; Angst und Angeld. Zu Phil 4,4-9 und einer Miniatur aus dem Codex Benedictus, EuA 70/4 (1994), 315-318
Snyman, A. H.; Persuasion in Philippians 4.1-20, in: S. E. Porter et al. [eds.], Rhetoric and the New Testament (JSNT.S 90), Sheffield 1993, 325-337
Snyman, A. H.; Philippians 4:1-9 from a rhetorical perspective, VE 28/1 (2007), 224-243 (= ATh 27/2 [2007], 168-185)
Standhartinger, Angela; “Join in imitating me” (Philippians 3.17): Towards an Interpretation of Philippians 3, NTS 54/3 (2008), 417-435