Apg 16,35-40
Übersetzung
Apg 16,35-40:35 Als es Tag geworden war, sandten die Stadtrichter die Gerichtsdiener und ließen sagen: "Lass jene Menschen frei.“ 36 Der Gefängniswärter aber richtete (dem) Paulus diese Worte aus: "Die Stadtrichter haben gesandt, damit ihr freigelassen werdet. So geht nun hinaus und zieht hin in Frieden!“ 37 Paulus aber sprach zu ihnen: "Ohne Urteilsspruch haben sie uns öffentlich prügeln lassen, obwohl wir römische Bürger sind, und [uns] ins Gefängnis geworfen; und jetzt schicken sie uns heimlich fort? So nicht! Sie sollen selbst kommen und uns hinausgeleiten.“ 38 Die Gerichtsdiener richteten den Stadtrichtern diese Worte aus. [Diese] erschraken, als sie hörten, dass es sich um Römer handelte. 39 Und sie kamen und beschwichtigten sie, und sie geleiteten sie hinaus und baten sie, die Stadt zu verlassen. 40 Als sie aus dem Gefängnis herausgekommen waren, gingen sie zur Lydia hinein. Und [dort] trafen und ermutigten sie die Brüder, dann brachen sie auf.
( Nach oben ) ( Literaturübersicht )
Beobachtungen: 16,35-30 berichtet von den letzten Ereignissen während des Aufenthaltes der beiden Missionare Paulus und Silas in Philippi. Im vorangehenden Abschnitt war erzählt worden, wie die beiden Missionare durch ein Erdbeben aus dem Gefängnis befreit worden waren und sich der Gefängniswärter in Angesicht dieses göttlichen Machterweises zusammen mit seinen Angehörigen hatte taufen lassen.
Die Formulierung "hêmeras de genomenês“ kann mit "als es Tag geworden war“ oder mit "bei Tagesanbruch“ übersetzt werden. Entscheidend ist, dass die Nacht vergangen war und nun die Geschäfte des Tages wieder begannen. Erstere Übersetzung lässt an die frühen Morgenstunden denken, letztere lässt die Frage nach der Uhrzeit offen. Da die Tagesgeschäfte zwar am Vormittag begonnen wurden, nicht jedoch unbedingt in den frühen Morgenstunden, ist letztere Übersetzung vorzuziehen.
Bei den "Strategen“ ("stratêgoi“) handelte es sich ursprünglich im alten Griechenland um Heerführer. In 16,35 sind aber mit Sicherheit keine Heerführer, sondern städtische Beamte im Blick, die sich mit der Rechtsprechung befassten. Im alten Rom wurden diese Beamten "Prätoren“ ("praetores“) genannt, in den römischen Kolonien war der Begriff "duoviri“ (vollständig: "duoviri iure dicundo“; in manchen Städten gemeinsam mit den Ädilen als "quattuorviri“ bezeichnet; "Stadtrichter“) üblich. Diesen beiden obersten Beamten hatten neben Aufgaben der Stadtleitung die Gerichtsbarkeit, die der Stadt vorbehalten war, inne. Die in 16,35 handelnden Strategen/Stadtrichter hatten auf den Druck der Ankläger und der Öffentlichkeit hin ohne ordentliches Gerichtsverfahren und Urteilsspruch Paulus und Silas mit Ruten schlagen und danach vom Gefängniswärter ins Gefängnis werfen lassen (vgl. 16,19-24).
So wie die Strategen/Stadtrichter“ den römischen Prätoren entsprachen, entsprachen die Gerichtsdiener (rhabdouchoi). den römischen Liktoren. Diese begleiteten die Prätoren bei deren öffentlichen Auftritten und trugen deren Amtssymbol, das Rutenbündel mit Beil, voran. So leitet sich auch der Begriff "rhabdouchos“ von "rhabdos“, was "Rute/Stock“ bedeutet, her. Das Rutenbündel (in Provinzstädten vielleicht auch nur eine Rute) diente dazu, verurteilte Straftäter zu schlagen. Diese Aufgabe haben die Gerichtsdiener wahrscheinlich auch im Hinblick auf Paulus und Silas erfüllt (vgl. 16,22-23).
Es bleibt offen, warum sich die Stadtdiener dazu entschlossen, Paulus und Silas schon nach einer Nacht Gefangenschaft wieder freizulassen. Haben die Stadtrichter von vornherein nur an eine polizeiliche Ordnungsmaßnahme ohne längere Gefangenschaft gedacht? Oder hat sich bei den Stadtrichtern ein plötzlicher Sinneswandel vollzogen? In diesem Fall wäre nach einem Grund für den plötzlichen Sinneswandel zu fragen.
Der Codex Bezae Cantabrigiensis, die Minuskel 614 und die Peschitta, eine syrische Übersetzung, haben in ihrer Textvariante eine Erklärung eingefügt. Demnach waren die Stadtrichter auf dem Marktplatz zusammengetreten, hatten sich an das Erdbeben der vergangenen Nacht erinnert und sich gefürchtet und daher die Gerichtsdiener gesandt.
Die Gerichtsdiener dienten als Übermittler der Anweisung an den Gefängniswärter. Nicht die Gerichtsdiener hatten die Anweisung auszuführen, sondern der Gefängniswärter. Der Gefängniswärter war für die sorgsame Einsperrung der beiden Missionare verantwortlich gewesen und war dementsprechend nun auch für deren Freilassung verantwortlich.
Weiterführende Literatur: Eine postkoloniale, postfeministische Auslegung von Apg 16,6-40 bietet J. L. Staley 2004, 177-192.
Eine Erörterung von Apg 16,11-40 bietet S. C. Agouridis 1984, 5-16.
Zu Apg 16 gemäß der Textfassung des Codex Bezae Cantabrigiensis siehe É. Delebecque 1982, 395-405.
J. Rius-Camps 1995, 35-39 befasst sich zunächst mit der Struktur des seiner Meinung nach aus zwei Teilen (16,11-15; 16,16-40) zusammengesetzten Abschnittes 16,11-40 und danach mit den verschiedenen Schwierigkeiten, denen sich Paulus und seine Begleiter ("wir“) in der rein heidnischen Gesellschaft Philippis ausgesetzt sahen.
Im Kontext der Mission, die Ziel und Inhalt der Perikope Apg 16,11-40 darstelle, werde laut J. Hintermaier 2000, 152-176 deutlich gemacht, dass die Verkündigung des Evangeliums keine Grenzen kennt. Die für die Mission strategisch günstige Lage Philippis an der Römerstraße Via Egnatia, die Betonung der römischen Sitten, die Begegnung mit römischen Beamten und die Bekehrung des römischen Gefängnisaufsehers als zentrales Ereignis in dieser Perikope würden ein Licht auf den gesamten Aufbau und Plan der Apg, die den Weg des Evangeliums von Jerusalem nach Rom darlege, werfen. Paulus sei das von Gott auserwählte Werkzeug zur Verkündigung des Evangeliums (vgl. 9,15) und diesen Paulus lasse er nicht im Gefängnis verschmachten. In Apg 16 werde aufgrund verschiedener Parallelen und Anspielungen gezeigt, dass die Basis für die paulinische Mission unter den Heiden schon im Lukasevangelium vorgezeichnet ist.
( Nach oben ) ( Literaturübersicht )
Beobachtungen: Damit der Gefängniswärter den Auftrag ausführen konnte, musste sich der Gefängniswärter an der Stelle befunden haben, wo er zu erwarten war. Dass das der Fall war, wäre nicht weiter der Erwähnung wert gewesen, wenn der Gefängniswärter nicht in der vergangenen Nacht die vom Erdbeben aus dem Gefängnis befreiten Missionare als Gäste in sein Haus aufgenommen hätte und er sich nicht von diesen hätte taufen lassen. Eigentlich hätte sich der Gefängniswärter nicht an seinem Dienstort zu befinden brauchen, weil es ja keine Gefangenen mehr gab.
Seltsamerweise hielten sich anscheinend auch die Gefangenen wieder im Gefängnis auf. Zwar ist es auch möglich, dass sich die Missionare im Haus des Gefängniswärters aufgehalten haben, doch ist dies unwahrscheinlich. Erstens hätte dieses in unmittelbarer Nähe zum Gefängnis liegen oder als Wohnung ein Bestandteil des Gefängnisgebäudes sein müssen, zweitens wären die Gerichtsdiener sicherlich argwöhnisch geworden, wenn der Gefängniswärter zur Übermittlung der Worte nicht in das Gefängnis gegangen wäre, und drittens hätte der Gefängniswärter den Missionaren in seinem Haus sicherlich die Mitteilung von der Freilassung nicht so feierlich überbracht. Nach den Ereignissen der vergangenen Nacht waren die Gefangenen ja eigentlich schon frei.
Diese Ungereimtheiten lassen darauf schließen, dass 16,25-34 nur lose mit dem vorherigen und dem folgenden Abschnitt verbunden ist. V. 35 schließt nahezu nahtlos an V. 24 an. Die Bedeutung der V. 25-34 scheint weniger in der wundersamen Befreiung als vielmehr im Machterweis Gottes zu liegen, der schließlich zur Taufe des Gefängniswärters und seiner Angehörigen führte. Da die Befreiung der Gefangenen von untergeordneter Bedeutung ist und in der Erzählung sogar wieder rückgängig gemacht wird, kommt auch die Frage nicht mehr in den Blick, ob der Gefängniswärter für die Vernachlässigung seiner Dienstpflicht, nämlich der Bewachung der Gefangenen, bestraft wird.
Der biblische Gruß "zieht hin in Frieden“ findet sich auch in Lk 7,50 und 8,48, wo er von Jesus geäußert wird. Er erweist den Gefängniswärter als Christen, was die Bekehrung des Gefängniswärters zum Christentum voraussetzt. Dies zeigt, dass der Abschnitt Apg 16,25-34 keine gänzlich unabhängige Erzählung darstellt, die sich ohne weiteres aus dem Zusammenhang lösen lässt.
Weiterführende Literatur: Eine Analyse der Motive in 16,19-40, insbesondere des Erdbebens, bietet F. Martin 1990, 1-17. Er vertritt die These, dass die Jerusalemer Versammlung (vgl. Apg 15) auf eine schwelende Konfliktsituation eine Antwort gegeben habe, und nun in Apg 16 in Form eines Berichtes auf die Bedingungen und Wirkungen der freimütigen Evangeliumsverkündigung in einer heidnischen Gesellschaft eingegangen werde.
B. Rapske 1994, 115-134 vertritt die Ansicht, dass das Handeln der römischen Beamten in Anbetracht ihres lückenhaften Wissensstandes durchaus realistisch geschildert sei. Dabei stelle sich die Frage, warum Paulus erst nach seiner Misshandlung und Einkerkerung auf seinen Status als römischer Bürger hingewiesen hat (vgl. 16,37). B. Rapske legt dar, dass römische Bürgerschaft und jüdische Identität als miteinander unvereinbar angesehen worden seien. Hätte sich Paulus früher auf seine römische Bürgerschaft berufen, so wäre bezüglich der verkündigten Botschaft und der Kirche die Frage aufgekommen, ob sie römische Bürger privilegierten oder die römische Bürgerschaft voraussetzten. Dies hätte die im Entstehen begriffene Gemeinde Philippis gefährdet. Auf S. 243-281 kommt B. Rapske auf diejenigen Personen zu sprechen, mit denen Paulus bei seinen Gefangenschaften zu tun hatte, auf S. 313-367 auf das Leben in Gefangenschaft und auf S. 393-422 auf die göttlichen Helfer des gefangenen Paulus in Apg.
( Nach oben ) ( Literaturübersicht )
Beobachtungen: Paulus hielt die öffentliche Züchtigung für unrechtmäßig und berief sich darauf, dass er und Silas römische Bürger seien. Er prangerte das fehlende ordentliche Gerichtsverfahren mit einem rechtmäßigen Urteilsspruch an. Bei einem ordentlichen Gerichtsverfahren hätte Paulus seine römische Bürgerschaft und diejenige des Silas vorbringen und so einen Schutz vor öffentlicher Züchtigung bewirken können. Unter schwierigeren Umständen hätte er dies auch in dem unrechtmäßigen Eilverfahren können. Hat er dies versucht, konnte sich jedoch in der aufgewühlten Stimmung kein Gehör verschaffen? Wollte man ihn und Silas nicht anhören? Oder ist die verspätete Vorbringung der römischen Bürgerschaft eine Erfindung des Verfassers der Apg, die ihm dazu diente, die Unrechtmäßigkeit und Willkür der Ankläger der Missionare und der Behörden hervorzuheben? Im Rahmen der Erzählung ermöglichte das verspätete Vorbringen der römischen Bürgerschaft ein kurzes Verfahren und somit ein zügiges Fortschreiten hin zum Befreiungswunder und insbesondere zur Taufe des Gefängniswärters und seiner Angehörigen. Letztendlich stellte die römische Bürgerschaft einen zurückgehaltenen "Trumpf“ dar, der am Ende "ausgespielt“ werden und die für alle sichtbare gänzliche Rehabilitation der beiden Missionare erzwingen konnte. Ob Paulus die römische Bürgerschaft belegen konnte, bleibt offen und spielt in der Erzählung keine Rolle.
Es ging Paulus darum, dass die Freilassung eine für alle sichtbare völlige Rehabilitation der beiden Missionare sein sollte. Eine solche konnte sie nur sein, wenn sie nicht heimlich, sondern ganz offiziell erfolgte. Der offizielle Charakter war gegeben, wenn die Stadtrichter, die die öffentliche Züchtigung und die Gefängnisstrafe angeordnet hatten, die Missionare persönlich aus dem Gefängnis geleiteten.
Was für den Verfasser der Apg klar ist, ist im Hinblick auf die historischen Tatsachen weniger klar. Paulus selbst spricht nämlich in seinen Briefen nirgends seine römische Bürgerschaft an. Auch findet sich in ihnen kein Hinweis auf die römische Bürgerschaft des Silas. Somit ist fraglich, ob Paulus und Silas wirklich Römer waren.
In der römischen Geschichte waren verschiedene Gesetze erlassen worden, in denen die öffentliche Erniedrigung römischer Bürger beispielsweise durch Rutenschläge verboten war: ca. 500 v. Chr. die Lex Valeria, 248 v. Chr. die Lex Porcia und als Bekräftigung bestehender Bestimmungen 23 v. Chr. die Lex Julia (vgl. Cic. In Verr. 2,5,66; Cic. rep. 2,31,54; Cic. pro Rabir. 12; Liv. hist. 10,9,3-6).
Weiterführende Literatur: W. Stegemann 1987, 200-229 merkt kritisch an, dass zu den Selbstverständlichkeiten unseres Paulus-Bildes gehöre, dass der Apostel ein römischer Bürger (civis Romanus) war. Tatsächlich fänden sich nur in der Apostelgeschichte direkte (16,37-38; 22,25-29; 23,27) und vermutlich indirekte (21,25-26; 25,10-11; 28,19) Hinweise auf das römische Bürgerrecht des Paulus. Nehme man alles in allem, so sei es äußerst unwahrscheinlich, dass der Apostel Paulus das römische Bürgerrecht besessen hat. Dafür sprächen nicht nur die allgemein feststellbaren sozialgeschichtlichen Hintergründe in Bezug auf Besitz und Verleihung des römischen Bürgerrechts und insbesondere die jüdische Herkunft des Paulus. Die anderslautenden Nachrichten der Apg gingen offenkundig auf deren Verfasser selbst zurück. Er habe vermutlich aus seinen Nachrichten von der Überstellung des Paulus nach Rom auf dessen Bürgerrecht geschlossen. Zu Apg 16,37-38: Merkwürdig sei, dass sich Paulus (und Silas) nicht schon bei dem Verhör auf ihr römisches Bürgerrecht berufen haben. Dadurch wären sie nicht nur der für einen römischen Bürger entehrenden öffentlichen Auspeitschung entgangen (wenn auch nicht unbedingt der Haft), vielmehr wäre der Hinweis auf das Bürgerrecht darüber hinaus auch angesichts der Anklage sinnvoll gewesen. Lukas scheine vermeiden zu wollen, dass Paulus (und Silas) als Römer in einen Gegensatz zu Juden geraten. Eher nähmen die Angeklagten eine Identifizierung als Juden in Kauf, als dass sie sich in einen Gegensatz zum Judentum bringen lassen.
B. Wander 2000, 465-476 bewertet im Gegenzug zum üblichen Strom der Forschung die Komposition und Anordnung der Apg im Hinblick auf die dokumentierten Apologien und Unschuldsbeteuerungen als ein angelegtes und durchdachtes System, in welchem in aller Genauigkeit und Vollständigkeit sämtliche Vorwürfe und Vorhaltungen gegen den "neuen Weg“ angeführt werden, um sie gleichzeitig Zug um Zug zu entkräften. Eine solche Beurteilung sei gegenüber bisheriger Forschung insofern neu, als Apologien nicht nur als solche enttarnt und vorgeführt, sondern als sinnvoller Teil innerhalb eines Ganzen anerkannt und gewürdigt werden. Zu 16,37 (mit Blick auf 23-28): Lukas habe den letzten Teil der Apg so konzipiert, dass erst hier die Leserschaft von der Loyalität der jungen Bewegung des Christentums gegenüber dem römischen Staat einerseits umfassend überzeugt und andererseits auf die enge Beziehung mit dem zeitgenössischen Judentum hingewiesen wird.
( Nach oben ) ( Literaturübersicht )
Beobachtungen: Es wird nicht ausdrücklich gesagt, wer erschrak. Von der Grammatik her gesehen können die Gerichtsdiener oder auch die Stadtrichter Subjekt sein. Gemäß dem Zusammenhang müssen aber die Stadtrichter diejenigen gewesen sein, die erschraken, denn nur ihnen war der Inhalt der Nachricht, die Grund des Erschreckens war, neu. Die Stadtrichter sind auch Subjekt von V. 39.
Offen bleibt, ob die Stadtrichter nur erschraken, weil ihnen bewusst wurde, dass sie Unrecht getan hatten, oder ob das Erschrecken nicht vielmehr darauf zurückzuführen ist, dass sie nun selbst aufgrund ihres Fehlverhaltens seitens der Vorgesetzten Bestrafung zu befürchten hatten.
Weiterführende Literatur:
( Nach oben ) ( Literaturübersicht )
Beobachtungen: Das Verb "parakaleô“ bedeutet gewöhnlich "ermahnen“ und/oder "trösten“. In Apg 16,39 muss allerdings auf dem Hintergrund der Schuld der Stadtrichter und der unrechtmäßigen Behandlung der beiden Missionare eine ganz spezifische Wortbedeutung vorliegen. Das Ermahnen könnte hier am ehesten ein Zureden gewesen sein, wobei offen bliebe, was der Inhalt des Zuredens war. Am wahrscheinlichsten ist, dass das Zureden in einem engen Zusammenhang mit dem Erschrecken zu sehen ist. Geht man davon aus, dass die Stadtrichter aufgrund ihres Fehlverhaltens seitens der Vorgesetzten Bestrafung zu befürchten hatten, liegt die Annahme nahe, dass sie ihr Fehlverhalten zu verschleiern suchten. Dazu mussten sie Paulus und Silas dazu bewegen, das Fehlverhalten der Stadtrichter nicht anderen Menschen zu berichten. Mindestens der Kaiser oder der Statthalter von Makedonien durften dies nicht erfahren. Das Trösten lässt sich am ehesten als Beschwichtigen deuten. Möglich ist, dass das Verb "parakaleô“ in 16,39 zugleich als "zureden“ und "beschwichtigen“ zu deuten ist. Sollte das Zureden nämlich erfolgreich sein, mussten die beiden Missionare zunächst beschwichtigt werden.
Wie schon in V. 37 gebraucht der Verfasser der Apg das Verb "exagô“ ("hinausgeleiten“). Damit wird deutlich gemacht, dass die Stadtrichter auch tatsächlich die Forderung des Paulus erfüllten. Dabei wurden Paulus und Silas nur aus dem Gefängnis, nicht jedoch aus der Stadt geleitet. Das Verlassen der Stadt erbaten die Stadtrichter nur von den beiden Missionaren, die der Bitte nachkommen konnten oder auch nicht.
Es fällt der höfliche Tonfall der Stadtrichter auf: Sie befehlen nicht, sondern sie bitten. Für den höflichen Tonfall gibt es wohl mehrere Gründe. Erstens konnten die Stadtrichter römischen Bürgern das Verlassen einer römischen Kolonie, wie es Philippi war, nicht befehlen, wenn nicht ein Verbrechen vorlag. Zweitens ist der höfliche Tonfall als Reaktion auf das eigene Fehlverhalten zu verstehen und vermutlich auch durch die Furcht vor der Bekanntmachung des Fehlverhaltens verursacht. Wollten die Stadtrichter auf die Verschwiegenheit der Missionare setzen, so mussten sie alles vermeiden, was die Missionare hätte verärgern können. Dazu gehörte auch ein befehlender Tonfall, weshalb sie einen höflichen wählten. Die Bitte machte deutlich, dass die Missionare nun eine verbesserte Stellung innehatten: Es lag in ihrem eigenen Ermessen, ob sie die Stadt verlassen oder nicht.
Dass die Stadtrichter überhaupt darauf pochten, dass Paulus und Silas Philippi verlassen sollten, zeigt, dass sie die beiden Missionare als Unruheherd und auch als potenzielle Gefahr für sich selbst ansahen.
Die Wahl der Zeitform Imperfekt ("êrôtôn“) weist vermutlich darauf hin, dass das Bitten im Laufe des Gesprächs wiederholt erfolgte, vielleicht weil ihr Inhalt den Stadtrichtern besonders am Herzen lag. Die Wiederholung der Bitte würde dann auf eine besondere Intensität hinweisen.
Der Codex Bezae Cantabrigiensis bietet eine deutlich abweichende Fassung des V. 39. Demnach gingen die Stadtrichter mit vielen Freunden zum Gefängnis. Es wird ausdrücklich gesagt, dass die Stadtrichter die Unschuld der beiden Missionare erkannten. Und schließlich wird auch der Beweggrund für die Bemühungen, die beiden Missionare zum Verlassen Philippis zu bewegen, genannt: "damit sie sich nicht wieder gegen uns zusammenrotten und gegen euch aufschreien.“ Der Codex Bezae Cantabrigiensis geht also davon aus, dass die Stadtrichter von der Volksmenge zu ihrem Tun bewegt worden waren, was die Stadtrichter entlastet und die Volksmenge belastet.
Weiterführende Literatur: Im Rahmen seiner Analyse der Befreiungswunder analysiert J. Hintermaier 2000, 241-297 auch Apg 16,11-40. Im Rahmen des Vergleichs der Befreiungswunder 5,17-42; 12,1-23; 16,11-40 auf S. 301-308 merkt J. Hintermaier an, dass der Befreiung in Philippi bezüglich der Verkünder große Bedeutung zukomme, weil dadurch Paulus und sein Begleiter Silas mit den Aposteln gleichgestellt würden. Wenn Gott für den Heidenapostel ebenso eingreift wie für die anderen Apostel, so würden damit auch seine Verkündigung und sein gesamtes Wirken, wovon die Apg größtenteils handele, göttlich legitimiert. In seinem Vergleich der Befreiungswunder macht J. Hintermaier außerdem deutlich, dass Lukas mit der veränderten Situation (Heidentum, griechisches Gedankengut und griechisches Weltbild in den römischen Provinzen Kleinasiens und Griechenlands) auch die Darstellung und Gestaltung der Befreiungswunder ändere. Er passe Sprache, Stil und Inhalte der Erzählungen der jeweiligen Situation an. Da in Jerusalem jüdisches Denken vorgeherrscht habe, sei die Befreiung wohl auch durch einen "Engel des Herrn“ geschehen (vgl. 5,17-42; 12,1-23), der nach biblischem Empfinden das Eingreifen Gottes darstelle. In 16,11-40 komme kein Engel vor, der die Gefangenen aus dem Kerker herausgeführt hätte, sondern Paulus und Silas würden durch ein Erdbeben (kosmische Ereignisse) befreit. Die alttestamentlich-jüdische Vorstellungswelt werde durch die griechische ersetzt. So erweise sich Lukas auch in der Gestaltung der Befreiungswunder als hervorragender Schriftsteller, der es ausgezeichnet verstehe, die formale Gestaltung und die Inhalte den Adressaten gemäß darzustellen.
Auf S. 187-267 bringt W. Stegemann 1991, 187-267 die Gefährdung der Christen durch den Verdacht von Staatsverbrechen zur Sprache, analysiert also die Konfliktebene lukanischer Christen mit der heidnischen Obrigkeit. Dabei solle anhand von vier in der Apg geschilderten Konflikten des Paulus und anderer Christen (vgl. 19,23-40; 16,19-40; 17,6-7; 18,12-17) die rechtliche bzw. politische Dimension dieser Konflikte im Verhältnis der Christen zur heidnischen Öffentlichkeit aufgezeigt und aus der besonderen historischen Situation von Christen unter dem Prinzipat Domitians erklärt werden. In einem Vergleich mit anderen christlichen Texten werde schließlich die Gefährdung der lukanischen Christen wieder historisch eingeordnet. Zu Apg 16,(11/)19-40: Die gegen Paulus und Silas erhobenen Vorwürfe stünden in einem bemerkenswerten Kontext. In der römischen Kolonie Philippi scheine man sich als Jude, wenn überhaupt, nur heimlich aufhalten zu können (wie die "Missionare“). Obwohl die christlichen Prediger offensichtlich schon einige Tage in Philippi gewesen seien, hätten sie dort nicht nur keinen Kontakt zu Juden aufgenommen, sondern hätten am Sabbat außerhalb des Stadttores an einem Fluss, wo sie eine Gebetsstätte vermuteten, Kontakt zu ihnen gesucht. Dort hätten sie nur Frauen getroffen, von denen die einzig identifizierte Person eine "Gottesfürchtige“ sei, die in Philippi ein "Haus“ führt. Lydia müsse den christlichen Predigern ihre Gastfreundschaft geradezu aufzwingen, weil diese sie offenkundig durch ihre Anwesenheit nicht hätten gefährden wollen. Durch eine Sklavin werde dann aber doch bekannt, dass Paulus und Silas jüdische Propagandisten sind, als welche sie schließlich dem Magistrat vorgeführt werden. Nach kurzer Haft müssten sie die Stadt verlassen.
( Nach oben ) ( Literaturübersicht )
Beobachtungen: Da die Missionare nur aus dem Gefängnis, nicht aber aus der Stadt hinausgeleitet worden waren, konnten sie vor dem Verlassen der zum Haus der Lydia gehen, bei der sie vor der Gefangenschaft Gäste waren.
Dass Paulus und Silas vor dem Verlassen der Stadt noch "zur Lydia hinein“ − gemeint ist sicher "in das Haus der Lydia, in dem sich Lydia befand, hinein“ − gingen, mag einen doppelten Grund gehabt haben. Zum einen wollten sie sich sicherlich von Lydia und deren Hausgemeinschaft verabschieden, vielleicht auch ihr Reisegepäck mitnehmen und sich von Lydia für die Weiterreise ausrüsten lassen. Zum anderen gingen sie vielleicht auch davon aus, dass sie im Hause der Lydia weitere "Brüder“ − gemeint sind Glaubensbrüder, wobei wohl auch Glaubensschwestern eingeschlossen sind − antreffen würden. Doch wer waren diese Glaubensbrüder? Die Apg berichtet nur von der Taufe der Purpurhändlerin Lydia und ihrer Hausgemeinschaft (vgl. 16,15) und von derjenigen des Gefängniswärters samt seiner Angehörigen (vgl. 16,33). Wenn nur Lydia und deren Hausgemeinschaft anwesend gewesen wären, was zunächst einmal am nächsten liegt, dann hätte der Verfasser der Apg wohl nicht die allgemeine Formulierung "Brüder“ gewählt. Dass zusätzlich zu Lydia und deren Hausgemeinschaft nur der Gefängniswärter samt seinen Angehörigen anwesend gewesen sein sollte, lässt der Text nicht erkennen. Es ist nicht einmal zu erkennen, dass diese tatsächlich anwesend waren. Es können somit auch andere Christen anwesend gewesen sein, die nicht unbedingt in Philippi wohnhaft gewesen sein müssen. Ob auch Timotheus, der zuletzt in 16,1 als Begleiter des Paulus erwähnt wurde und in 17,14-15 wieder auftaucht, zu den versammelten "Brüdern“ gehörte, lässt sich nicht sagen. Angesichts dieses Befundes lässt die Offenheit des Begriffs "Brüder“ Folgendes annehmen: Der Schwerpunkt der Erzählung liegt nicht darauf, welche Christen konkret anwesend waren, sondern auf der Ermutigung der anwesenden Christen. Die allgemeine Rede von "Brüdern“ weist darauf hin, dass der Verfasser der Apg ein zwischenzeitliches Wachsen der christlichen Gemeinde voraussetzt. Ein solches Wachsen deutete der Verfasser der Apg schon darin an, dass Paulus und Silas von Lydia als Gäste aufgenommen worden waren (16,34). Nun konnten sie in Philippi in Ruhe weiter missionieren. Auch die Taufe des Gefängniswärters samt seiner Angehörigen trug zum Wachsen der Gemeinde bei. Das Haus der Lydia scheint der Versammlungsort der wachsenden Gemeinde gewesen zu sein.
Der Codex Bezae Cantabrigiensis bietet eine Erweiterung des V. 40: Demnach hätten die beiden Missionare den "Brüdern“ erzählt, "was alles [der] Herr [an/mit] ihnen getan hatte“ (vgl. Apg 14,27; 15,12).
Weiterführende Literatur: Das Buch von J.-P. Sterck-Degueldre 2004 ist in drei Kapitel gegliedert: Dem redaktionellen Charakter der Wir-Berichte ist das erste Kapitel gewidmet. Es gelte die Verwendung der Wir-Formulierung durch Lukas näher zu verstehen, den Anteil an lukanischer Komposition in den Reiseberichten allgemein und spezifisch für die Anreiseroute nach Philippi und von dort weiter nach Thessaloniki zu erheben und die damit verbundene theologische Absicht zu skizzieren. Das zweite Kapitel widmet sich einer systematischen, redaktionskritischen Analyse von Apg 16,11-15.40, wobei der Versuch unternommen wird, die lukanische Überarbeitung zu erkennen. Ein drittes Kapitel, das sich mit der Theologie in 16,11-15.40 befasst, geht auf die gewonnenen Erkenntnisse ein und versucht, in Versfolge die verschiedenen Aussagen herauszukristallisieren. In diesem Kapitel findet sich auch ein ausführlicher Exkurs zu Lydia, der Purpurhändlerin. Als Ergebnis hält J.-P. Sterck-Degueldre zwei theologische Schwerpunkte fest: Lydia nehme im Gesamtkonzept der Apg und der in ihr illustrierten Öffnung zum Heidentum als Frau einen beachtlichen Stellenwert ein. Und andererseits habe es keinen besseren Schauplatz für dieses Geschehen geben können als eine römische Kolonie. Die detailfreudige Schilderung der Reiseroute nach Philippi und der geographischen und politischen Lage der Stadt zeugten nicht nur vom Lokalpatriotismus des Schreibers, sondern bergen eine theologische Intention. So böten die Zwischenstationen und Reisebedingungen nicht nur historisch zutreffende Angaben, sondern dienten zudem einem theologischen Konzept: die Makedonienmission entspreche dem Willen Gottes!
Mit Aspekten der Gastfreundschaft in Apg 16 befasst sich J. Gillman 1992, 181-196. Zunächst geht er auf den Zusammenhang und Gedankengang von 16,11-40 ein, dann befasst er sich mit Lydias Gastfreundschaft (16,14-15.40) und mit der Gastfreundschaft des Gefängniswärters (16,25-34).
Literaturübersicht
[ Hier geht es zur Übersicht der Zeitschriftenabkürzungen ]
Agouridis, Savas C.; Hê apelasê tou Paulou kai tôn synodôn tou apo tous Philippous (Prax. 16,11.40), DBM NS 3 (1984), 5-16
Delebecque, Édouard; De Lystres à Philippes (Ac 16) avec le codex Bezae, Bib. 63/3 (1982), 395-405
Gillman, John; Hospitality in Acts 16, in: V. Koperski, R. Bieringer [eds.], “Sharper than a two-edged sword”, FS J. Lambrecht, Leuven 1992, 181-196
Hintermaier, Johann; Die Befreiungswunder in der Apostelgeschichte: motiv- und formkritische Aspekte sowie literarische Funktion der wunderbaren Befreiungen in Apg 5,17-42; 12,1-23; 16,11-40, Rom 2000
Hintermaier, Johann; Grundlage und Entwicklung der paulinischen Mission am Beispiel von Apg 16,11-40, SNTU 25 (2000), 152-176
Martin, François; Le geôlier et la marchande de pourpre: Actes des Apôtres 16:6-40 (Seconde partie), SémBib 60 (1990), 1-17
Rapske, Brian; The Book of Acts and Paul in Roman Custody (The Book of Acts in Its First Century Setting 3), Grand Rapids, Michigan - Carlisle 1994
Rius-Camps, Josep; Pablo y el grupo «nosotros» en Filipos: dos proyectos de evangelización en conflicto (Hch 16,11-40), Laurentianum 36/1-2 (1995), 35-59
Staley, Jeffrey L.; Changing Woman: Toward a Postcolonial Postfeminist Interpretation of Acts 16.6-40, in: A.-J. Levine [ed.], A Feminist Companion to the Acts of the Apostles (Feminist Companion to the New Testament and Early Christian Writings 9), London − New York 2004, 177-192
Stegemann, Wolfgang; War der Apostel Paulus ein römischer Bürger?, ZNW 78/3-4 (1987), 200-229
Stegemann, Wolfgang; Zwischen Synagoge und Obrigkeit: Zur historischen Situation der lukanischen Christen (FRLANT 152), Göttingen 1991
Sterck-Degueldre, Jean-Pierre; Eine Frau namens Lydia (WUNT II/176), Tübingen 2004
Wander, Bernd; "In Gefahr durch Heiden, durch das eigene Volk“. Apologien und Unschuldsbeteuerungen als besonderes Mittel des Lukas, in: A. von Dobbeler [Hrsg.], Religionsgeschichte des Neuen Testaments, Tübingen − Basel 2000, 465-476