Apg 17,1-4
Übersetzung
Apg 17,1-4:1 Nachdem sie aber durch Amphipolis und Apollonia gereist waren, kamen sie nach Thessalonich, wo eine Synagoge der Juden war. 2 Nach seiner Gewohnheit ging (der) Paulus zu ihnen hinein und an drei Sabbaten redete er mit ihnen von den Schriften her, 3 indem er eröffnete und darlegte, dass der Christus leiden und von [den] Toten auferstehen musste, und: "Dieser ist der Christus, Jesus, den ich euch verkündige“. 4 Und einige von ihnen ließen sich überzeugen und schlossen sich (dem) Paulus und (dem) Silas an, auch von den gottesfürchtigen Griechen eine große Menge und von den vornehmen Frauen nicht wenige.
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Beobachtungen: 17,1 setzt den Reisebericht, der mit 16,12 geendet hatte und von dem Bericht über die Ereignisse in Philippi (16,13-40) unterbrochen worden war, fort. Allerdings erfolgt die Fortsetzung nicht im Wir-Stil. Ist dies damit zu begründen, dass der Wir-Stil als Augenzeugenbericht zu verstehen ist und der Augenzeuge in Philippi geblieben ist? Dass ein Reisebegleiter von Paulus und Silas in Philippi zurückgeblieben ist, lässt 17,40 nicht erkennen. Geht man dennoch davon aus, so könnte dies am ehesten Timotheus gewesen sein, der gemäß 16,3 von Paulus als Reisebegleiter auserkoren war, aber danach bis 17,1 nicht mehr auftaucht. Somit bleibt offen, ob dieser tatsächlich von Lystra mit Paulus und Silas aufgebrochen ist und - falls ja − dieser mit den beiden Missionaren mitgereist ist. Er kann schon vor Philippi von Paulus und Silas getrennt haben. Er kann aber auch weiterhin deren Reisebegleiter gewesen sein, ohne genannt zu werden. Auch kann ein anderer, nicht erwähnter Reisebegleiter in Philippi geblieben sein. Dieser kann der Verfasser der Apg gewesen sein. Silas selbst kann nicht zurück geblieben sein, weil er in V. 4 erwähnt wird. Die Mehrzahl umfasst auf jeden Fall mindestens Paulus und Silas.
Die Weiterreise erfolgte auf der Via Egnatia, einer Fernverkehrsstraße, die bis nach Dyrrhachium an der Adria führte und auf der Paulus und Silas schon von Neapolis nach Philippi gelangt waren. An dieser Straße lagen auch die beiden Städte Amphipolis und Apollonia.
Amphipolis und Apollonia erscheinen nicht als Städte, in denen Paulus und Silas missioniert haben, sondern nur als reine Durchgangsorte. Dabei stellt sich die Frage, ob sie genannt werden, weil sie besonders wichtige Orte an der Via Egnatia − Amphipolis war immerhin Hauptort des ersten Distrikts Makedoniens - waren, oder ob sie genannt werden, weil sie Übernachtungsorte waren. Die beiden Gründe schließen sich nicht aus, ganz im Gegenteil: In den größeren Orten dürfte es die meisten Übernachtungsmöglichkeiten gegeben haben.
Nicht gesagt ist, dass die Missionare auf dem Wege von Philippi nach Thessalonich nur in diesen beiden Städten übernachteten. Immerhin betrug die Entfernung von Philippi nach Amphipolis etwa 60 Kilometer, die Entfernung von Amphipolis nach Apollonia etwa 40 Kilometer und die Entfernung von Apollonia nach Thessalonich etwa 50 Kilometer. Zumindest 50 oder 60 Kilometer waren an einem Tag kaum zu schaffen. Wenn Amphipolis und Apollonia die einzigen Übernachtungsstationen gewesen sein sollen, müssen Paulus und Silas Reittiere zur Verfügung gehabt haben. Diese werden jedoch nicht erwähnt, hätten auf der Reise auch zusätzliche Kosten für Futter und möglicherweise auch Leihgebühr bedeutet. Somit ist wahrscheinlicher, dass Paulus und Silas (und möglicherweise nicht erwähnte Begleiter) zu Fuß gereist sind und es zusätzlich zu Amphipolis und Apollonia noch ein oder zwei weitere Übernachtungsstationen an weniger bedeutenden Orten gab.
Dass von Amphipolis und Apollonia keine Missionstätigkeit berichtet wird, mag damit zusammenhängen, dass es an beiden Orten keine Synagoge gab. Eine Synagoge scheint es nur in Thessalonich gegeben zu haben und somit wird erst in Thessalonich wieder ein längerer Halt eingelegt. Dass die Mission zunächst in Synagogen erfolgte, weist darauf hin, dass das Christentum und seine Lehre aus dem Judentum entstanden war und in einem engen Zusammenhang mit diesem, ja wahrscheinlich sogar als Teil dessen angesehen wurde.
Weiterführende Literatur: Mit den verschiedenen Ereignissen während des Aufenthaltes des Paulus in Thessalonich befasst sich H. W. Tajra 1985, 233-244.
Eine sozio-politische Analyse von Apg 17,1-10 bietet N. O. Míguez 1988, 183-206. Obwohl die historische Zuverlässigkeit der Apg nicht über alle Zweifel erhoben sei, lasse sie doch Einblicke in das sozio-politische Umfeld der Christen des 1. Jh.s zu. N. O. Míguez zieht bei seiner Analyse verschiedene exegetische Methoden heran, in besonderem Maße Elemente der strukturellen Analyse.
Mit dem Weg des Paulus von Philippi nach Thessaloniki befasst sich P. Pilhofer 1995, 199-203. Bei der Annahme, dass nur die Via Egnatia als Reiseroute infrage kam, stelle sich die Frage, wieso Lukas hier und nirgendwo sonst dergleichen Zwischenstationen erwähnt. Ergebnis: Lukas wisse in dieser Gegend sehr genau Bescheid, und er gebe zu erkennen, dass er Bescheid weiß.
C. U. Manus 1990, 27-38 befasst sich mit der Frage, mit welcher Technik Lukas die Perikope Apg 17,1-9, die den Zeitpunkt enthalte, von dem aus der gesamte folgende Dienst des Paulus bei den Thessalonichern und die Korrespondenz mit ihnen zu verstehen ist, zusammengesetzt hat. Was ist an der Erzählung historisch, was lukanisch? C. U. Manus legt dar, dass Lukas auf Grundlage ihn besonders beeindruckender historischer Fakten (Existenz der Synagoge, Menschen auf dem Marktplatz, Verordnungen des Kaisers sowie Jason und die Politarchen) und unter Heranziehung der Logienquelle und des Markusevangeliums seine Erzählung gemäß seinen theologischen Aussageabsichten gestaltet habe.
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Beobachtungen: Dieses enge Verhältnis zum Judentum erklärt auch, warum zumindest Paulus keine Hemmungen hatte, an ihm unbekannten Orten sogleich eine Synagoge aufzusuchen und in ihr seine missionarische Tätigkeit zu beginnen.
Thessalonich − das heutige Saloniki - war nicht nur die Hauptstadt des zweiten Distrikts von Makedonien, sondern auch die Hauptstadt ganz Makedoniens. In Thessalonich hatte der Statthalter der Provinz Makedonien seit 148 v. Chr. seinen Sitz.
Das Verb "dialegomai“ bedeutet "sich unterreden“, wobei wohl nicht an einen reinen Vortrag des Paulus zu denken ist, sondern eher an ein philosophisches Gespräch, in das sowohl Paulus als auch seine Gesprächspartner verwickelt waren. Allerdings erscheint Paulus als Gesprächsführer, eben weil er aus Sicht des Verfassers der Apg die richtige Lehre vertrat. Paulus redete "von den Schriften“ her, wobei mit den "Schriften“ die Schriften der hebräischen Bibel (= AT), wie sie damals Paulus und seinen Gesprächspartnern vorlag, gemeint sein dürften. Diese wurden sowohl von Paulus als auch von den Gesprächspartnern als Glaubensgrundlage angesehen, von der her die Argumentation entwickelt wurde. Wie der Schriftbeweis im Einzelnen aussah, bleibt offen.
Die Formulierung "epi sabbata tria“ ist wahrscheinlich als "an drei (aufeinanderfolgenden) Sabbaten“ zu deuten, jedoch ist auch die Deutung als "drei Wochen lang“ nicht ausgeschlossen, denn "sabbata“ kann auch mit "Wochen“ übersetzt werden. Dass die Unterredungen nur an Sabbaten erfolgten, ist schon deswegen wahrscheinlicher, weil die Synagoge als Ort der Unterredung erscheint und am Sabbat die Synagogen in besonderem Maße aufgesucht worden sein dürften. Dass die Unterredung in Zusammenhang mit einem Gottesdienst erfolgte, lässt sich dem Text allerdings nicht entnehmen. Es lässt sich nur entnehmen, dass Paulus in der Synagoge Gesprächspartner gefunden hat.
Fraglich ist, ob der Aufenthalt der Missionare in Thessalonich tatsächlich nur drei Wochen gedauert hat, wie es Apg 17,2 nahe legt. Phil 4,16 lässt an einen längeren Aufenthalt denken.
"Von den Schriften her“ kann auch zu V. 3 gezogen werden, womit die Übersetzung lautet: "Von den Schriften her eröffnete er und legte dar, dass…“.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Das Eröffnen kann sowohl das Öffnen der Schriftrollen als auch das Eröffnen des Sinns der Schriftinhalte meinen. Möglicherweise ist das Verb mit Bedacht gewählt um aufzuzeigen, dass das Öffnen der Schriftrollen für die sorgfältige Beschäftigung mit den Inhalten und für das rechte Verstehen die Voraussetzung ist. Wer richtig versteht, dem werden die Augen geöffnet. Auch das Öffnen der Augen mag in der Bedeutung des Eröffnen enthalten sein.
Paulus verkündigte in zwei Schritten: Er predigte nicht sofort Jesus als Christus, sondern er ging zunächst auf die Verheißung des Christus ein. Dabei scheint den Gesprächspartnern wohl nicht die Christusverheißung an sich unbekannt gewesen zu sein, sondern nur die von Paulus vorgebrachte Deutung der Christusverheißung. Gemäß Paulus sind die entscheidenden Kennzeichen, dass tatsächlich der verheißene Christus gekommen ist, das Leiden und Auferstehen des Christus von den Toten. Erst nachdem Paulus diese entscheidenden Kennzeichen des Kommens des Christus dargelegt hatte, kam er darauf zu sprechen, dass Jesus der Christus sei. Dieses Sprechen von Jesus, dem Christus, bezeichnete Paulus als Verkündigen. Weil Jesus leiden musste, gekreuzigt und gestorben und dann von den Toten auferstanden war, konnte Paulus Jesus als den verheißenen Christus verkündigen. Auf welche Schriftstellen sich Paulus bezog, bleibt offen.
"Christus“ bedeutet "Gesalbter“ (griechisch: "christos“). Im AT werden Könige, Priester, Propheten und auch kultische Gegenstände gesalbt. Durch die Salbung mit dem Salböl werden sie der rein profanen Welt enthoben und in den Dienst Gottes gestellt, womit sie in die Sphäre des Heils treten. Wenn Jesus als "Christus“ bezeichnet wird, dann wird er als Heilsbringer (Messias, hebr.: māschiaḥ) verstanden. Jesus Christus ist gemäß Paulus insbesondere deshalb Heilsbringer, weil er für die Menschen gestorben und von den Toten auferstanden ist. Er bewirkt Sündenvergebung und ewiges Leben.
Die Ich-Form "katangellô“ zeigt, dass der zweite dass(hoti)-Satz direkte Rede ist. Der erste dass-Satz kann dagegen sowohl direkte als auch indirekte Rede sein. Ohne Kenntnis des zweiten dass-Satzes ist eher an indirekte Rede zu denken.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Mit der Formulierung "einige von ihnen“ ist wahrscheinlich "einige von den Juden“ gemeint, denn die Juden sind ja bereits in V. 2 erwähnt worden, wo die Synagoge den Juden zugeordnet wird.
Das seltene Verb "prosklêroô“ bedeutet genau genommen "durch das Los zufallen“ oder "durch göttliche Fügung zufallen“. Die passive Verbform "proseklêrôthêsan“ ("sie wurden durch göttliche Fügung geschenkt“) lässt die göttliche Fügung, das Wirken Gottes stärker hervortreten. "Einige Juden“ schlossen sich also nicht aus eigenem Antrieb Paulus und Silas an, sondern weil dies von Gott so gewollt war. Dieser Hintergrund ist bei der ebenfalls möglichen, gängigeren medialen Übersetzung "sie schlossen sich an“ zu bedenken.
Das Partizip "sebomenos“ bedeutet ganz allgemein "fromm“. Demnach hätte es sich um fromme Griechen gehandelt, wobei aber nicht ausgesagt wäre, in welcher Weise die Griechen fromm waren. Zunächst wäre daran zu denken, dass sie in besonderem Maße ihrem heidnischen Kult anhingen. Dann wäre jedoch in keinster Weise ein Bezug zur Synagoge der Juden gegeben, zu der in 17,1-4 ein Bezug zu bestehen scheint. 17,1-4 lässt nicht erkennen, dass Paulus auch außerhalb der Synagoge gepredigt hat. Vielmehr scheint sich das Geschehen in der Synagoge abgespielt zu haben. In diese werden sich Griechen, die fest dem heidnischen Kult anhingen, nicht begeben haben. Auch werden die Juden überzeugten Heiden wohl kaum Zutritt zur Synagoge gewährt haben. Folglich muss die Frömmigkeit der erwähnten Griechen als eine besondere Nähe zum Judentum zu deuten sein. Da nicht ausdrücklich von Proselyten, also zum Judentum übergetretenen Nichtjuden (Heiden), die Rede ist, ist am ehesten anzunehmen, dass es sich bei den "frommen Griechen“ um "gottesfürchtige Griechen“ handelte, also um Griechen, die dem Judentum nahe standen, ohne zum Judentum übergetreten zu sein.
Der Codex Bezae Cantabrigiensis und einige weitere Textzeugen verstehen die "Gottesfürchtigen“ und die "Griechen“ als zwei verschiedene Personengruppen. Darauf weist das eingeschobene "und“ ("kai“) hin.
Auch unter den "vornehmen Frauen“ ("gynaikôn … tôn prôtôn“) konnten Paulus und Silas nicht wenige Anhängerinnen gewinnen. Dabei stellen sich bezüglich der Identität der vornehmen Frauen zahlreiche Fragen: Inwiefern waren sie vornehm? Gehörten sie zu den Juden oder zu den Griechen? Waren sie Gottesfürchtige? Und warum werden sie als eigene Gruppe genannt? Die Frauen können "vornehm“ gewesen sein, weil sie Ämter innehatten oder besonders angesehen oder wohlhabend waren. Vielleicht waren sie wie Lydia in Philippi (vgl. 16,15) Häupter einer Hausgemeinschaft. Sicher dürfte sein, dass sie unter den Frauen eine besondere Stellung innehatten. Fraglich ist aber, ob sie ihre besondere Stellung auch bei den Männern geltend machen konnten. Ob die Frauen Jüdinnen oder Griechinnen waren, bleibt offen. Beides ist möglich. Offen bleibt auch, ob sie Gottesfürchtige waren. Als eigene Gruppe werden sie möglicherweise genannt, weil die vornehmen Frauen in der Gemeinde von Thessalonich in der Folgezeit eine große Rolle spielten. Auch kann es sein, dass die Vornehmen im Allgemeinen − seien es Frauen oder Männer − in der Gemeinde von Thessalonich eine große Rolle spielten, oder dass die Frauen im Allgemeinen − ob vornehm oder nicht − in der Gemeinde von Thessalonich eine große Rolle spielten.
Die Formulierung "gynaikôn … tôn prôtôn“ kann auch im Sinne von "Ehefrauen der Vornehmen“ verstanden werden. Diese Bedeutung liegt eindeutig der Textversion des Codex Bezae Cantabrigiensis zugrunde, die "gynaikes tôn prôtôn“ ("Ehefrauen der Vornehmen“) bietet. Diese Textvariante eliminiert die besondere Stellung einiger Frauen und lässt die besondere Stellung stattdessen den Ehemännern der Frauen zukommen. Angesichts 17,12 ist dieser Deutung bzw. Textvariante jedoch nicht der Vorzug zu geben.
Der Missionserfolg unter den genannten drei Gruppen scheint unterschiedlich gewesen zu sein. Mäßig war der Missionserfolg bei den Juden, unter denen nur "einige“ zum christlichen Glauben kamen. Einen besseren Missionserfolg erzielten Paulus und Judas bei den gottesfürchtigen Griechen und bei den vornehmen Frauen, unter denen "eine große Menge“ bzw. "nicht wenige“ zum christlichen Glauben kamen.
Weiterführende Literatur: B. Wander 2000, 465-476 bewertet im Gegenzug zum üblichen Strom der Forschung die Komposition und Anordnung der Apg im Hinblick auf die dokumentierten Apologien und Unschuldsbeteuerungen als ein angelegtes und durchdachtes System, in welchem in aller Genauigkeit und Vollständigkeit sämtliche Vorwürfe und Vorhaltungen gegen den "neuen Weg“ angeführt werden, um sie gleichzeitig Zug um Zug zu entkräften. Eine solche Beurteilung sei gegenüber bisheriger Forschung insofern neu, als Apologien nicht nur als solche enttarnt und vorgeführt, sondern als sinnvoller Teil innerhalb eines Ganzen anerkannt und gewürdigt werden. Zu 17,4: Lukas sei bereit, das Konfliktpotenzial genau zu benennen. Auch hier bemühe er sich kaum um eine direkte und wirklich durchschlagende Entkräftung der Vorwürfe und Verdächtigungen. Umgekehrt räume er den Verdacht aus, die junge Bewegung des Christentums mache den Synagogen ihr heidnisches Publikum abspenstig.
Zu Apg 17,4-10 gemäß der Textfassung des Codex Bezae Cantabrigiensis siehe É. Delebecque 1982, 605-615. M. W. Holmes 2003, 190-191 zählt kurz die Abweichungen dieser Textvariante in V. 4 gegenüber dem von Nestle-Aland als ursprünglich angesehenen alexandrinischen Text auf und merkt an, dass "gynaikes tôn prôtôn“ die Doppeldeutigkeit von "gynaikôn … tôn prôtôn“ aufhebe und eindeutig "Ehefrauen der Vornehmen“ bedeute.
A. T. Kraabel 1981, 113-126 setzt sich kritisch mit der Annahme auseinander, dass es sich bei den "Gottesfürchtigen“ um eine zahlenmäßig starke Gruppe Heiden gehandelt habe, die sich durch eine besondere Nähe zum Judentum auszeichnete. A. T. Kraabel untersucht Inschriften und Symbole, die in sechs Synagogen (Dura Europos, Sardis, Priene, Delos, Stobi, Ostia) der jüdischen Diaspora im Römischen Reich gefunden wurden. In den synagogalen Inschriften tauche keiner der Begriffe "phoboumenos“ ("fürchtend“) oder "sebomenos“ ("fromm seiend / fürchtend“) auf. Der Begriff "theosebês“ ("gottesfürchtig“) tauche zwar zehnmal auf, aber immer in Bezug auf Juden, insbesondere jüdische Stifter, nie aber im Hinblick auf dem Judentum nahestehende Heiden. Auch die Symbolik der Synagogen lasse nicht die Existenz einer solchen heidnischen Gruppe erkennen, sondern sei auf die jüdische Gemeinschaft ausgerichtet. Angesichts dieses Befundes wendet sich A. T. Kraabel dem literarischen Belegmaterial zu, wobei er davon ausgeht, dass unsere Kenntnis einer angeblich existierenden Gruppe heidnischer "Gottesfürchtiger“ insbesondere auf der Apg gründe, wobei auch isolierte Belege aus der klassisch-antiken Literatur und griechische und lateinische Inschriften herangezogen würden. Der Verfasser der Apg habe die "Gottesfürchtigen“ aber nur aus literarischen Gründen eingebaut. Sie erschienen immer nur dann, wenn sie einen bestimmten Zweck zu erfüllen hätten und verschwänden nach der Erfüllung dieses Zwecks wieder von der Bildfläche. Fazit: Es gebe keine überzeugenden Belege dafür, dass eine Gruppe Heiden, die dem Judentum nahe stand und als "Gottesfürchtige“ bezeichnet wurde, tatsächlich existierte. Vgl. R. MacLennan, A. T. Kraabel 1986, 46-53. J. G. Gager 1986, 91-99 stimmt A. T. Kraabel insofern zu, als Lukas von den "Gottesfürchtigen“ aufgrund eigener theologischer Aussageabsichten spreche. Insbesondere dienten sie als Rechtfertigung seiner Ansicht, dass die Heiden(christen) an die Stelle der Juden als von Gott erwähltes Volk getreten seien. Anders als A. T. Kraabel annehme, sei allerdings nicht die Gruppe der "Gottesfürchtigen“ an sich eine lukanische Erfindung, sondern die sofortige und völlige Aufgabe des Judentums zugunsten des Christentums. T. M. Finn 1985, 75-84 kann der These von A. T. Kraabel nicht folgen. Seiner Meinung nach sei das Schweigen der synagogalen Inschriften bezüglich der "Gottesfürchtigen“ keineswegs so ausgeprägt, wie von A. T. Kraabel angenommen. So erscheine in einer Inschrift der Synagoge in Aphrodisias (Provinz Asia) die Bezeichnung "theosebeis“ ("Gottesfürchtige“), wobei es sich allem Anschein nach um eine Gruppe handele, die von Proselyten und gebürtigen Juden unterschieden ist. Was den Bericht der Apg angehe, so seien Ende des 1. Jh.s n. Chr. die "Gottesfürchtigen“ − gleich ob sie real existierten oder nur eine Erfindung waren − eine Gruppe gewesen, deren Existenz glaubhaft schien. Die Dreiteilung Juden, Gottesfürchtige, Heiden sei letztendlich eine zu starke theologische Vereinfachung der komplexen sozialen Prozesse in den Missionsgebieten. Und schließlich bekräftige eine Lektüre der klassischen Schriftsteller Juvenal, Josephus und Philo die Annahme der Apg, dass es an verschiedenen Orten Heiden gab, die sich zum jüdischen Glauben und zur jüdischen Glaubenspraxis hingezogen fühlten, ohne gleich zum Judentum überzutreten. Ähnlich L. H. Feldman 1986, 58-63, der aus klassischer, talmudischer und christlicher Literatur sowie aus Inschriften und Papyri die Existenz einer Gruppe Heiden erschließt, die bestimmte jüdische Praktiken befolgte, ohne Juden geworden zu sein. Diese Gruppe sei insbesondere in Palästina und in Kleinasien (Asia Minor) vertreten gewesen. Auch P. R. Trebilco 1991, 145-166 untersucht die Existenz einer als "Gottesfürchtige“ bezeichneten Gruppe Heiden, die dem Judentum nahestand. Die von Josephus, Philo, Juvenal, Epiktet und der Apg genannten "Gottesfürchtigen“ fänden sich auch in Inschriften. Auch wenn "Gottesfürchtiger“ ("theosebês“) als Bezeichnung für fromme Juden vorkomme, gebe es auch Beispiele, in denen die Bezeichnung in enger Verbindung zur Synagoge stehende Heiden meint. Dies sei sicher bei der Aphrodisias-Inschrift der Fall, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei Inschriften aus Panticapäum und Tralles und wahrscheinlich auch bei Inschriften aus Sardis und Milet. Auch wenn es sich um eine an vielen Orten bekannte Personengruppe gehandelt habe, stamme die Mehrzahl der relevanten Inschriften aus Kleinasien (Asia Minor). Möglicherweise hätten dort die Synagogen und deren Gemeinden auf die Heiden eine besondere Anziehungskraft ausgeübt. Aus den Inschriften gehe hervor, dass zumindest in einigen Fällen Heiden, die regelmäßig an Versammlungen teilnahmen und bestimmte jüdische Praktiken befolgten, eine Form synagogaler Mitgliedschaft eröffnet wurde. Eine präzise, allgemeingültige Definition der "Gottesfürchtigen“ in Kleinasien lasse die Untersuchung jedoch nicht zu. Die Verbindung mit dem vielgestaltigen Judentum sei vermutlich von Ort zu Ort verschieden gewesen. Auch J. Murphy-O’Connor 1992, 418-424 ist der Ansicht, dass die Aphrodisias-Inschrift die Existenz von "Gottesfürchtigen“ im lukanischen Sinn bestätige, weist jedoch auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs "theosebês“ hin.
Zu den Ausgrabungsergebnissen in Aphrodisias samt der in der Nähe des Aphrodisias-Museums gefundenen Inschrift siehe M. J. Mellinck 1977, 296.305-306. Eine Veröffentlichung und Kommentierung der Inschrift von Aphrodisias bieten J. Reynolds, R. F. Tannenbaum 1987 (griechischer Wortlaut samt deutscher Übersetzung siehe B. Wander 1998, 235-239). Sie fragen danach, was denn nun ein "theosebês“ ("Gottesfürchtiger“) sei: ein halb paganisierter Jude oder ein judaisierender Heide oder ein sehr frommer Jude oder ein sehr reicher und hochrangiger Heide? Ergebnis: Es sei jemand, der genügend angezogen wird von dem, was er vom Judentum gehört hat, und nun zur Synagoge kommt, um mehr zu lernen; der, nach einiger Zeit, als Ergebnis, gewillt sei, den jüdischen Lebensentwurf nachzuahmen, in welcher Art und Intensität er es wünscht (bis hin zur Mitgliedschaft in Gemeinschaftsverbindungen, in denen Gesetzesstudium und Gebet eingeschlossen ist); dem verschiedene Kurzformeln vorgetragen worden seien, wobei er aber keiner einzigen folgen müsse; der dem Monotheismus der Juden folge und seine angestammten Götter aufgebe, es aber trotzdem nicht müsse, und dem, ob er es tut oder nicht, eine Teilhabe an der Auferstehung für seine Mühe versprochen werde. Solche Menschen hätten einen bedeutenden Anteil aus der Bevölkerung in der jeweiligen Synagogengemeinde ausgemacht, wo wir einen quantitativen Nachweis ihrer Existenz haben. Ob dies allgemein und überall gültig war, sei aber schwer zu sagen. Vgl. R. F. Tannenbaum 1986, 54-57.
Ausführlich zu den epigraphischen und literarischen Belegen der "Gottesfürchtigen“ sowie zu den Gottesfürchtigen im Hinblick auf den Kult des Höchsten Gottes sowie zu den Gottesfürchtigen in Kleinasien siehe I. Levinskaya 1996, 51-126. I. Levinskaya legt dar, dass die Gottesfürchtigen zu den ersten Heiden gehört hätten, die den christlichen Glauben annahmen. Die Offenheit für den christlichen Glauben habe für die Juden ein ernsthaftes Problem dargestellt, denn die Beziehungen zu den Gottesfürchtigen, die oftmals der sozialen Oberschicht angehört hätten, hätten einen Beitrag zur gesellschaftlichen Stabilität geleistet. Als Antwort auf die christliche Mission hätten sich die Juden um eine Intensivierung der Beziehungen zu den Gottesfürchtigen bemüht. Die Apg lasse erkennen, dass die Gottesfürchtigen entweder das Rückgrat christlicher Gemeinden waren oder ein großes Hindernis für die Ausbreitung des Christentums darstellen konnten. Letzteres gehe insbesondere aus 13,50 hervor, wo davon die Rede ist, dass die Juden die angesehenen gottesfürchtigen Frauen und die Vornehmen der Stadt gegen die Christen aufhetzten.
M. Wilcox 1981, 102-122 stellt die Existenz einer Gruppe Heiden, die dem Judentum nahe stand, nicht infrage. Er geht vielmehr der Frage nach, wie die Tatsache zu bewerten ist, dass der Verfasser der Apg verschiedene Bezeichnungen für fromme bzw. gottesfürchtige Personen benutzt ("eulabês“ in Lk 2,25; Apg 2,5; 8,2; 22,12; "eusebês“ in Apg 10,2.7; "hoi phoboumenoi ton theon“ in Lk 1,50; Apg 10,2.22.35; 13,16.26; "hoi sebomenoi ton theon“ in Apg 13,43 [?]; 13,50 [?]; 16,14; 17,4 [?]; 17,14; 18,7 [vgl. 18,13]). Handelt es sich um "termini technici“ für verschiedene Personengruppen? Oder um verschiedene Bezeichnungen für ein und dieselbe Personengruppe? Oder sind die verschiedenen Bezeichnungen darauf zurückzuführen, dass sich der Verfasser der Apg bei der Abfassung seines Berichtes auf verschiedene Quellen stützte? M. Wilcox kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Bezeichnung "hoi phoboumenoi ton theon“ in der Apg auf besonders fromme Personen inmitten der jüdischen Gemeinde beziehe, seien es Juden oder Heiden, Proselyten oder "Sympathisanten“. Dementsprechend tauche die Bezeichnung nur in den Abschnitten auf, wo es zuvörderst um die Mission unter der Juden geht, also vor 13,45-46, wo sich der Beschluss des Paulus und Barnabas findet, sich den Heiden zuzuwenden. Kornelius sei also jemand, der sich eine den Juden entsprechende Frömmigkeit zu eigen gemacht hat. Die Bezeichnung "hoi sebomenoi ton theon“ dagegen werde nach 13,45-46 benutzt, also bei der Schilderung der Begebenheiten während der Heidenmission. Zu Apg 17,4: Auch aufgrund des von einer Textvariante eingeschobenen "und“ ("kai“) sei zu vermuten, dass es sich bei den "Gottesfürchtigen“ um eine eigene Personengruppe handelt, wobei jedoch nicht unbedingt ein "terminus technicus“ vorliege.
J. A. Overman 1988, 17-26 befasst sich mit zwei seiner Meinung nach in der Diskussion um die "Gottesfürchtigen“ vernachlässigten Aspekten: Zum einen geht er auf den Begriff "prosêlytos“ ein. Dieser habe zur Zeit der Evangelisten Matthäus und Lukas mindestens zwei Bedeutungen gehabt: Das Matthäusevangelium spiegele die eher technische Bedeutung, wie sie sich in späterer rabbinischer Literatur finde, wider, wonach es sich bei dem "prosêlytos“ um einen zum Judentum übergetretenen Heiden handele (= Proselyt). Das Lukasevangelium und die Apg folgten dagegen der Bedeutung, wie sie sich in der Septuaginta findet. Demnach handele es sich bei einem "prosêlytos“ um einen Nicht-Israeliten (Heiden), der dem Judentum zugetan ist und am Leben der jüdischen Gemeinde teilnimmt. Zum anderen befasst sich J. A. Overman mit der Formulierung "hoi phoboumenoi“ ("die Fürchtenden“). Eine solchermaßen benannte Gruppierung tauche an mindestens fünf Stellen der Septuaginta auf (2 Chr 5,6LXX; Ps 115,9-11LXX; 118,2-4LXX; 135,19-20LXX; Mal 3,16LXX). Lukas, der in der Septuaginta bewandert gewesen sei, habe möglicherweise die Formulierung "hoi phoboumenoi ton kyrion“ ("die den Herrn Fürchtenden“) auf eine von der Synagoge zwar unterschiedenen, aber mit dieser verbundenen Gruppe bezogen. Offensichtlich sei, dass Lukas von seiner Tradition einen Begriff übernommen hat, um in der Apg eine Gruppe Heiden zu benennen, die mit der Synagoge verbunden und dem Judentum zugetan ist. Vermutlich habe es tatsächlich eine solche Gruppe gegeben, womit sie nicht von Lukas erdacht worden sei.
Eine ausführliche Studie zum heidnischen Umfeld von Diasporasynagogen bietet B. Wander 1998, der insbesondere die Terminologie analysiert. "Gottesfürchtige“ seien eine terminologisch ermittelbare Gruppe innerhalb des Umfeldes der Diasporasynagogen, ohne dass sie in den anderen Bezeichnungen wie "Sympathisanten“ oder "Nachahmern“ oder "Proselyten“ aufgehen.
Literaturübersicht
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Delebecque, Édouard; Paul à Thessalonique et à Bérée selon le texte occidental des Actes (XVII,4-15), RThom 82/4 (1982), 605-615
Feldman, Louis H.; The Omnipresence of the God-Fearers, BAR 12/5 (1986), 58
Finn, Thomas M.; The God-fearers Reconsidered, CBQ 47 (1985), 75-84
Gager, John G.; Jews, Gentiles, and Synagogues in the Book of Acts, HThR 79 (1986), 91-99
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Kraabel, Alf Thomas; The Disappearance of the “God-fearers”, Numen 28 (1981), 113-126
Levinskaya, Irina; The Book of Acts in Its Diaspora Setting (The Book of Acts in Its First Century Setting 5), Grand Rapids, Michigan − Carlisle 1996
MacLennan, Robert S.; Kraabel, Alf Thomas; The God-Fearers − A Literary and Theological Invention, BAR 12/5 (1986), 46-53
Manus, Chris Ukachukwu; Luke’s Account of Paul in Thessalonica (Acts 17,1-9), in: R. F. Collins [ed.], The Thessalonian Correspondence (BETL 87), Leuven 1990, 27-38
Mellinck, Machteld J.; Archaeology in Asia Minor, AJA 81 (1977), 289-321
Míguez, Néstor O.; Lectura socio-política de Hechos 17,1-10, RBíb 50/2-3 (N. E. 30/31) (1988), 183-206
Murphy-O’Connor, Jerome; Lots of God-fearers? Theosebeis in the Aphrodisias Inscription, RB 99 (1992), 418-424
Overman, J. Andrew; The God-Fearers: Some Neglected Features, JSNT 32 (1988), 17-26
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Tannenbaum, Robert; Jews and God-Fearers in the Holy City of Aphrodite, BAR 12/5 (1986), 54-57
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