Apg 27,21-26
Übersetzung
Apg 27,21-26:21 Und als große Appetitlosigkeit herrschte, da trat (der) Paulus in ihre Mitte und sprach: "Ihr Männer, man hätte auf mich hören und nicht von Kreta wegfahren sollen; dann wären [uns] dieses Unglück und der Schaden erspart geblieben. 22 Doch nun ermahne ich euch, guten Mutes zu sein; denn keiner von euch wird umkommen, nur das Schiff. 23 In dieser Nacht trat nämlich ein Engel des Gottes, dem ich gehöre und den ich auch verehre, zu mir 24 und sprach: "Fürchte dich nicht, Paulus! Du musst vor den Kaiser treten, und siehe: (Der) Gott hat dir alle geschenkt, die mit dir segeln.' 25 Darum seid guten Mutes, Männer! Denn ich vertraue (dem) Gott, dass es so geschehen wird, wie es mir gesagt worden ist. 26 Wir müssen an irgendeiner Insel stranden.“
( Nach oben ) ( Literaturübersicht )
Beobachtungen: Das nach Rom segelnde Schiff, das Paulus an Bord hatte, war während der Reise an der Südküste Kretas in einen heftigen "Wirbelsturm“ geraten und konnte nicht mehr auf Kurs gehalten werden, sondern wurde mit eingeholtem Hauptsegel oder herabgelassenem Treibanker treiben gelassen. Weil zudem über mehrere Tage hin sämtliche Orientierungsmöglichkeiten ausgefallen waren, hatte die Schiffsbesatzung samt dem im Wir-Stil Berichtenden jede Hoffnung auf Rettung verloren.
In dieser Lage kam es zu einem großen Hungern ("pollês asitias“), wobei sich die Frage stellt, was zu ihm geführt hatte. Zunächst ist an Seekrankheit zu denken, die sich beim hohen Wellengang und dem ständigen Schwanken des Schiffes eingestellt hatte. Dann ist aber auch möglich, dass es bei dem hohen Seegang nicht möglich war, Speisen zuzubereiten, und die mitgeführten Lebensmittel allesamt ohne Zubereitung nicht genießbar waren. Ebenfalls ist möglich, dass die Zutaten für die Speisen vom eingedrungenen Salzwasser verdorben waren. Schließlich könnte auch Furcht auf den Magen geschlagen haben, so dass die Schiffsreisenden nichts essen konnten oder wollten. Dann wäre der "Hunger“ als Appetitlosigkeit zu deuten. Die wahrscheinlichste Deutung ergibt sich aber mit Blick auf V. 20: Es war die Hoffnungslosigkeit, die zu Appetitlosigkeit geführt hatte - ein Zeichen für schwindende Lebenskräfte.
Paulus trat zum einen körperlich in die Mitte der Reisenden, rückte sich zum anderen aber auch in die Mitte der Aufmerksamkeit. Paulus war also nicht mehr nur der Gefangene am Rande des Geschehens, sondern wurde zum Redner, der etwas Wichtiges zum weiteren Ergehen der Schiffbrüchigen und des Segelschiffes zu sagen hatte. Ob nun die Rede auf dem schwankenden Deck des Schiffes gehalten wurde oder in einer Kajüte oder im Schiffsbauch, ist hier nicht von Bedeutung.
Das Substantiv "anêr“ bedeutet gewöhnlich "Mann“. Die Anrede "ô andres“ ist wörtlich mit "oh/ihr Männer“ zu übersetzen. Dann wären alle Zuhörer Männer gewesen. Nun kann "anêr“ aber auch abweichend "Mensch“ bedeuten. Dann würde die Übersetzung "oh/ihr Menschen/Leute“ lauten. Da sich nirgendwo ein Hinweis darauf findet, dass sich auf dem Segelschiff auch Frauen befanden, ist die Übersetzung "oh/ihr Männer“ aber vorzuziehen.
Die Grundbedeutung des Verbs "peitharcheô“ ist "gehorchen“. Demnach hätte die Schiffsbesatzung Paulus gehorchen sollen. Da er aber nicht Gehorsam gegenüber seinem Befehl oder seiner Aufforderung gefordert, sondern nur einen weitsichtigen Rat gegeben hatte, ist in V. 21 das Verb "peitharcheô“ im Sinne von "hören auf“ zu verstehen. Die Schiffsbesatzung hätte auf den Rat des Paulus hören sollen. Der Inhalt des Rats wird in V. 21 genannt und entspricht 27,10.
Das Verb "kerdainô“ bedeutet gewöhnlich "gewinnen“. In V. 21 ist das Gewinnen jedoch im Lichte des vorausgehenden "mê“ ("nicht“) zu verstehen, also im Sinne von "nicht gewinnen“: "Ihr Männer, man hätte auf mich hören und nicht von Kreta wegfahren sollen; dann hätten [wir] dieses Unglück und den Schaden [nicht] gewonnen.“ Möglich ist, dass hier Ironie vorliegt, denn "gewinnen“ lässt eigentlich an etwas Gutes denken, Unglück und Schaden sind jedoch etwas Schlechtes. Wer etwas Schlechtes nicht "gewinnt“, dem bleibt letztendlich das Schlechte erspart. So ist "kerdainô“ in V. 21 im Lichte des vorausgehenden "mê“ im Sinne von "erspart bleiben“ zu verstehen. Bei der Übersetzung "erspart bleiben“ ist keinerlei Ironie mehr ersichtlich.
Weiterführende Literatur:
( Nach oben ) ( Literaturübersicht )
Beobachtungen: Das Verb "paraineô“ ist in V. 22 sowohl im Sinne von "ermahnen“ als auch im Sinne von "ermuntern“ zu verstehen. Paulus ermahnt also die Mitreisenden nicht nur, guten Mutes zu sein, sondern er ermuntert sie auch dazu.
Wörtlich ist die zweite Hälfte von V. 22 mit "…; denn es wird kein Verlust des Lebens von euch sein, ausgenommen das Schiff.“ Eine ebenfalls genaue, wenn auch nicht wörtliche Übersetzung ist: "…; es wird keiner von euch das Leben verlieren, nur das Schiff“. Der Tatsache, dass es sich um mündliche Rede in einer Notsituation handelt, trägt folgende flüssige Übersetzung Rechnung: "…; denn keiner von euch wird umkommen, nur das Schiff“.
Die Aussage "keiner von euch wird umkommen, nur das Schiff“ ist nicht deckungsgleich mit der in "Gute/Schöne Häfen“ geäußerten Warnung, "dass die Weiterfahrt mit Unheil und großem Schaden nicht nur für die Ladung und das Schiff, sondern auch für unser Leben verbunden sein wird“ (vgl. 27,10). Bei der Ermunterung im "Wirbelsturm“ geht Paulus nicht mehr davon aus, dass das Leben der Schiffbrüchigen großen Schaden nehmen werde. Die Änderung der Vorhersage dürfte damit zu begründen sein, dass die in "Gute/Schöne Häfen“ geäußerte Warnung auf den allgemein bekannten Wetterverhältnissen und auf dem gesunden Menschenverstand beruhte, die Aussage V. 22 dagegen auf der Mitteilung eines Engels des von Paulus verehrten Gottes. Ob Paulus seine Vorhersage in "Gute/Schöne Häfen“ auch aufgrund besonderer Fähigkeiten, die ihm von seinem Gott als dessen Diener verliehen worden waren, getätigt hatte, ist fraglich.
Weiterführende Literatur: Laut F. S. Spencer 1998, 150-159 handele die Apg nicht nur von der bemerkenswerten Wandlung des Paulus vom Erzfeind des Evangeliums hin zu dessen leidenschaftlichstem und dynamischstem Verkündiger, vor allem unter Heiden, sondern auch vom fortwährenden Kampf des Paulus um das Bekennen und Bewahren der neuen Identität angesichts widriger menschlicher, natürlicher und übernatürlicher Kräfte. Neben der Christuserscheinung auf dem Weg nach Damaskus (vgl. Apg 9) kämen auch den Ereignissen auf den Inseln Zypern (vgl. Apg 13) und Malta (vgl. Apg 28) am Anfang und am Ende der Missionsreisen besondere Bedeutung im Hinsicht auf die Entwicklung von Paulus' Charakter und Status zu. Im Rahmen seines Aufsatzes kommt F. S. Spencer auf verschiedene Aspekte der besonderen Bedeutung der Inseln in der Antike zu sprechen: Inseln hätten als Orte der Zuflucht, des Exils, der Erhöhung und heidnischer Bewohner gegolten. Auch Paulus erfahre Zypern als sicheres, lichtes Gebiet inmitten ungestümer Mächte der Finsternis um ihn herum. Für Paulus sei Zypern zwar kein Ort des Exils, aber doch der Auszeichnung, werde ihm doch Erstaunen und Respekt − sogar Glaube - entgegengebracht. Und schließlich werde er auf Zypern zum göttlich befähigten Führer der Verbreitung des Evangeliums und schließlich auch zum führenden Heidenmissionar. Der absolute Höhepunkt der Erhöhung des Paulus komme schließlich auf Malta. Er sei zwar ein Gefangener, werde aber verschiedentlich mit Respekt behandelt. In einer Zeit, als Paulus nicht missionarisch tätig sein konnte und in einem heftigen Unwetter mit den anderen Reisenden jegliche Hoffnung auf Rettung verlor (vgl. 27,20), habe er sich wieder als dynamischer Führer und Wohltäter herausgestellt, der aller Unbill trotzte. So habe er nicht nur seinen Mitreisenden wieder Mut gemacht, sondern sei zu großer Ehre gekommen (vgl. 28,10). Nach den Ereignissen auf Malta bis zum Ende der Apg habe er sich trotz seiner Gefangenschaft wieder wie ein Führer verhalten und das Evangelium verkündigt.
C. K. Barrett 1987, 51-64 setzt sich kritisch mit der Meinung auseinander, dass Paulus wie die anderen Apostel ein "Gottesmann“ gewesen und als Nachfolger seines Meisters Jesus mit der gleichen göttlichen Kraft versehen und von dem gleichen göttlichen Geist wie dieser geleitet gewesen sei. Laut C. K. Barrett werde zwar verschiedentlich suggeriert, dass Paulus ein "Gottesmann“ sei, tatsächlich sei er es jedoch nicht. So sei beispielsweise die Vorhersage V. 10, dass die Weiterfahrt von "Gute/Schöne Häfen“ mit Unheil und großem Schaden nicht nur für die Ladung und das Schiff, sondern auch für das Leben der Schiffbrüchigen verbunden sein werde, menschlicher Erfahrung entsprungen und widerspreche der Vorhersage von V. 22. Letztere Vorhersage basiere auf der Erscheinung des Engels Gottes. Paulus sei nicht selbst "göttlich“, sondern er gehöre und verehre Gott.
( Nach oben ) ( Literaturübersicht )
Beobachtungen: Dass Gott näher bestimmt wird, zeigt, dass die Zuhörer der Rede des Paulus - zumindest mehrheitlich - keine Christen waren. Vermutlich waren sie auch keine Juden, denn Paulus verstand sich auch nach seiner Berufung/Bekehrung durch Gott weiterhin als Jude und hätte Juden gegenüber sicherlich von "unserem Gott“ gesprochen. Sowohl Christen als auch Juden hätten keiner Erklärung des Gottes des Paulus bedurft. Es ist anzunehmen, dass die Zuhörer − zumindest mehrheitlich − Heiden waren. Diesen war der Gott des Paulus fremd, weshalb sie einer Erklärung bedurften.
Das Substantiv "angelos“ kann in V. 23 sowohl mit "Engel“ als auch mit "Bote“ übersetzt werden. Paulus wird als Jude wohl von einem Engel ausgegangen sein. Die heidnischen Zuhörer dagegen, die den jüdischen Engelsglauben nicht kannten, werden wohl eher an einen Boten gedacht haben, und zwar an einen Boten eines ihnen bisher fremden Gottes.
Es ist unklar, ob Paulus einen Engel seines Gottes in einem Traum oder in einer Audiovision zu sich herantreten sah. Die Offenheit liegt darin begründet, dass nicht der Traum oder die Audiovision an sich von Interesse ist, sondern nur die Worte des Engels eine Rolle spielen.
Das Verb "latreuô“ bedeutet "dienen“, wobei hier ganz konkret der Gottesdienst gemeint ist. Dabei bleibt jedoch offen, wie man sich den Gottesdienst konkret vorzustellen hat: Ist an "verehren“ oder "anbeten“ oder "liturgische Handlungen in einem formalen Gottesdienst“ oder an den "gottgefälligen Lebenswandel“ gedacht?
Weiterführende Literatur: D. R. MacDonald 1999, 88-107 stellt zahlreiche Ähnlichkeiten der Schiffbrucherzählungen in der Apg und in der Odyssee des Homer (Buch 5 und 12) fest. So fänden sich auch in der Odyssee Wir-Berichte. Der Ablauf und das Vokabular der Schiffbrucherzählungen in der Apg und in der Odyssee des Homer ähnelten sich. Auch in der Odyssee werde die Rettung angekündigt, wenn auch nicht von einem Engel, sondern von der Meeresgöttin. Die Rettung erfolge sowohl in der Apg als auch in der Odyssee mittels des Schwimmens auf Planken. Sowohl Paulus als auch Odysseus würden auf der unbekannten Insel der Rettung von den Einheimischen freundlich aufgenommen und schließlich fälschlicherweise für einen Gott gehalten. Und schließlich erführen beide Helden bei ihrer Abreise Ehren. Nicht historische Fakten seien also Grundlage der Schiffbrucherzählung des Paulus, sondern literarische Fiktion. Lukas habe die Vorlage des Homer nicht nur imitiert, sondern christlich umgewandelt. Seine Absicht sei es gewesen, durch den Bezug des Schiffsbruchs des Paulus auf die Schiffbrüche des Odysseus Paulus und seinen Gott mittels eines Vergleichs zu erhöhen. Anders als Poseidon und Zeus sei der Gott des Paulus nicht für den Sturm verantwortlich, sondern nur für die Rettung. Odysseus verliere die Hoffnung, Paulus bleibe voller Vertrauen. Nur der Gott des Paulus rette sämtliche Schiffbrüchigen. Und schließlich werde bei Homer zwar der Held glänzend dargestellt, aber die Apg überrage die Odyssee hinsichtlich der Tugend des Paulus und seines Gottes.
Gemäß B. Heininger 1996, 290-297 sei die Stimmung der paulinischen Rede Apg 27,21-26 jedoch von der ihrer profanen Parallelen grundverschieden. Handele es sich in den profanen Parallelen durchweg um Klagen angesichts des bevorstehenden Todes, denen in den Epen Homers und Vergils das Eingreifen der Gottheit − auch in Gestalt einer Erscheinung − erst nachfolge, gründe die sich von Paulus zum Ausdruck gebrachte Hoffnung auf eine bereits geschehene nächtliche Erscheinung. Es werde in 27,21-26 das Motiv vom unerkannt an Bord weilenden, Rettung bringenden Passagier sichtbar, das auf den größeren Rahmen des lukanischen Paulusportraits in Apg 27 verweise. Paulus werde funktional einem Engel Gottes gleichgestellt.
( Nach oben ) ( Literaturübersicht )
Beobachtungen: Die Formulierung "du musst“ ("se dei“) lässt erkennen, dass der Engel nicht nur eine Zukunftsvorhersage macht, sondern Geschehnisse vorhersagt, die einem ganz bestimmten Plan entsprechen. Bei dem Plan dürfte es sich wohl um einen Plan Gottes handeln, in dem Paulus eine herausragende Rolle spielte.
Dass "Du musst vor den Kaiser treten“ zum Plan Gottes gehörte, wird hier das erste Mal geäußert. Bisher hatte es nur "Du musst auch in Rom Zeugnis ablegen“ geheißen (vgl. 23,11).
Fraglich ist, ob in 27,24 an den Kaiser (Nero) in Person gedacht ist oder nur an ein kaiserliches Gericht.
Wie hat man sich vorzustellen, dass Gott dem Paulus alle, die mit ihm segelten, geschenkt hat? Konnte Paulus mit ihnen nun nach Gutdünken verfahren, wie mit geschenkten Dingen umgehen? Waren sie nun gleichsam seine Sklaven, die ihm zu dienen hatten? Wenn dies der Fall ist: Hatten sie ihm zu dienen, wie man einem Herrscher dient, oder standen die Mitsegler nun im geistlichen Dienst des Paulus, ließen sich taufen und predigten fortan mit Paulus das Evangelium? Der Abschnitt gibt nichts von alledem her. Mit Blick auf V. 26 kann höchstens gesagt werden, dass die Mitsegler gemeinsam mit Paulus vor dem Tod gerettet werden. "Dem Paulus geschenkt“ ist also wahrscheinlich im Sinne von "gemeinsam mit Paulus vor dem Tod bewahrt werden“ zu verstehen, wobei aus der Zeitform Perfekt ("kecharistai“) die besondere Bedeutung für die gegenwärtige Lage im "Wirbelsturm“ hervorgeht. Es bleibt offen, ob Paulus vor dem Herantreten des Engels für die Mitsegler gebetet hatte, sodass sich sein Gott auch der Andersgläubigen erbarmte.
Weiterführende Literatur: C. Burfeind 2000, 75-91 versucht zu zeigen, dass die Theologie des Lukas eine Rom-kritische Pointe habe. Während die Heidenmission auf der ersten Missionsreise des Paulus theologisch legitimiert werde und die Unabhängigkeit dieser Heidenmission von der Synagoge auf der zweiten Missionsreise, werde mit dem Bericht von der Romreise des Paulus die politische Relevanz dieser Universalisierung der Christusverkündigung deutlich: Im gesamten Prozessgeschehen vor römischen Behörden und schließlich in Rom selbst bezeuge Paulus, dass der Christus auch der "Herr“ ("Kyrios“) ist. Die Verkündigung des Gottesreiches betreffe das Römische Reich und relativiere dessen Herrschaftsanspruch. Das zu verkündigen müsse Paulus nach Rom.
( Nach oben ) ( Literaturübersicht )
Beobachtungen: Die Worte des Engels und der Gott des Paulus waren vertrauenswürdig. Vertrauen konnte aber nur Paulus, dem zum einen die Erscheinung des Engels zuteil geworden war und der zum anderen auch an den von den Juden und Christen verehrten Gott glaubte. Die − mindestens mehrheitlich - heidnischen Mitsegelnden konnten den Worten des Engels und dem Gott der Juden und Christen nicht vertrauen, sondern mussten sich von dem vertrauenden Paulus ermutigen lassen.
Weiterführende Literatur: Möge Apg 27 auch detaillierte Orts- und Zeitangaben umfassen, die auf einen exakten Reisebericht schließen lassen könnten, möge dem erzählten Geschehen auch ein historischer Kern (vielleicht einige Notizen aus paulinischen Kreisen stammend) − eine ausführlicher Augenzeugenbericht liege kaum vor − zugrunde liegen, so sei der Duktus des gesamten, als Einheit gesehenen Kapitels laut R. Kratz 1997, 320-350 doch in erster Linie auf symbolisch-theologische (Be-)Deutung hin angelegt. Ein historischer Bericht lasse sich als Quelle unter Herauslösung der der lukanischen Redaktion zugeschriebenen Paulusszenen nicht herausarbeiten. Es sei aber nicht ausgeschlossen, dass Lukas als Endredaktor auf reichhaltiges Quellenmaterial zurückgegriffen hat. Seesturm- und Schiffbruchdarstellungen seien in antiker Literatur und mündlicher Tradition in reichem Angebot zuhanden, geradezu zur literarischen Gattung geworden. Veranlassung der lukanischen Darstellung müsse eine Notiz (in welchem Umfang auch immer) über die Gefangenschaftsreise des Paulus nach Rom, und damit über das gefährliche Mittelmeer gewesen sein. Zum Verständnis von Apg 27: Es gehe um die Rettung des christlichen Missionars durch Gott. Diesem seinem Verkündiger, der nicht zugrunde gehen könne, sondern in Rom vor den Kaiser treten müsse, um das Evangelium Christi ungehindert in der damaligen Weltmetropole verkündigen zu können, habe Gott auch das Leben der Mitfahrenden geschenkt. Paulus sei gleichsam der zweite − ins Positive verkehrte − Jona, der nicht vor seinem Gott davonlaufe, nicht von den Heiden beschämt werden müsse, sondern in vorbildlicher Weise zu seinem Gott stehe, ihn gläubig bekenne und dadurch den Reisegefährten Mut einflöße, ihre Rettung, ihr Heil herbeiführe.
Auch S. M. Praeder 1984, 683-706 sieht eine Beziehung zwischen Apg 27,1-28,16 und der antiken Literatur mit ihren Reiseberichten, Vorhersagen von Sturm und Schiffbruch und Sturmszenen sowie ihrer Sorge um Sicherheit auf Seereisen. Das den gesamten Abschnitt durchziehende gemeinsame theologische Thema sei die Sendung des in Jesus Christus und seiner Kirche gegründeten göttlichen Heils zu den Heiden.
C. H. Talbert, J. H. Hayes 1995, 321-326 befassen sich mit folgenden Fragen: Welcher theologische Inhalt hat sich den Lesern der Sturmberichte Lk 8,22-25 und Apg 27 erschlossen? Wie fügen sich diese beiden Sturmberichte in das lukanische Gesamtwerk ein? Ergebnis (zu Apg 27): Der Schiffbruch und der Angriff der Schlange seien keine Strafe Gottes gewesen. Die Rettung des Paulus sei nicht auf dessen Leistung, sondern auf den Plan Gottes zurückzuführen. Gott erweise Paulus als Gerechten, nicht als Sünder. Dem entspreche, dass in 23,12-26,32 auch Menschen die Unschuld des Paulus bekräftigten. Diese Aspekte fügten sich nahtlos in den weiteren literarischen und theologischen Horizont des lukanischen Gesamtwerkes ein.
( Nach oben ) ( Literaturübersicht )
Beobachtungen: Auch das Stranden an irgendeiner Insel dürfte dem Plan Gottes entsprechen, denn auch dies "muss“ geschehen. Dieses Geschehnis hatte jedoch der Engel nicht ausgesagt, zumindest gehörte es nicht zu den Worten des Engels V. 24. So ist zunächst davon auszugehen, dass Paulus das Stranden an einer Insel aus den Worten des Engels "Gott hat dir alle geschenkt, die mit dir segeln“ geschlossen hat. Allerdings hätten diese Worte auch so gedeutet werden können, dass die Segler nach dem "Wirbelsturm“ bis nach Phönix weitersegeln und dort über den Winter das Schiff reparieren bzw. reparieren lassen konnten, um dann im Frühjahr ihre Reise fortzusetzen. Von einem Verlust des Schiffes hatte der Engel nämlich nichts gesagt, zumindest nicht in den in V. 24 übermittelten Worten. Wie ist Paulus darauf gekommen, dass das Schiff "umkommen“ könnte (vgl. V. 22)? Möglicherweise hatte er dies daraus geschlossen, dass das Schiff aufgrund der Schäden und verlorenen Geräte nicht mehr manövrierfähig war. Wenn das Schiff nicht mehr manövrierfähig war, an ein vorbeikommendes Segelschiff, das die Schiffbrüchigen hätte retten können, aufgrund der Witterung und Entfernung vom Ufer nicht mehr zu denken war, dann musste das Schiff auf eine Sandbank oder irgendeine Landmasse auflaufen. Nur so war nämlich das Überleben auf dem weiten Meer möglich, denn begrenzte Nahrungsmittel- und Trinkwasservorräte setzten dem Aufenthalt auf dem treibenden Schiff einen engen zeitlichen Rahmen. Bei der Landmasse konnte es sich um eine Insel, aber auch um den Strand oder die Felsen der Küste des Festlandes handeln. Eine Reparatur des Schiffes scheint nach dem Auflaufen nicht realistisch gewesen zu sein, so dass es für eine Rettung und Weiterreise nach Rom notwendig war, dass die Gestrandeten von anderen Menschen angetroffen und Richtung Rom mitgenommen wurden. Erstaunlicherweise zog Paulus die Möglichkeit des Auflaufens auf die Küste des Festlandes, z. B. Nordafrikas, gar nicht in Erwägung, obwohl unter den Mitseglern zuvor noch die panische Angst geherrscht hatte, man könne in die Große Syrte vor der libyschen Küste und auf die dortigen Sandbänke geraten. Gemäß der Angst der Mitsegler war es also nicht utopisch, bis nach Nordafrika abgetrieben zu werden. Paulus sprach dagegen nicht von der Küste Nordafrikas, sondern von einer Insel, und zwar von irgendeiner. Entweder hielt Paulus ein dermaßen weites Abtreiben nach Süden für unrealistisch und eine entsprechende Sorge für übertriebene Angst, oder ihm hatte der Engel seines Gottes gesagt, dass das Schiff auf eine Insel auflaufen werde. Den Namen der Insel hätte der Engel Paulus aber nicht mitgeteilt.
Das Verb "ekpiptô“ kann im Sinne von "auflaufen“ oder im Sinne von "gespült werden“ gedeutet werden, je nachdem welchen Grad der Beschädigung des Schiffes man beim Stranden annimmt: Ein beschädigtes Schiff läuft auf eine Insel auf, die Trümmer eines Schiffes werden auf eine Insel gespült.
Die Reaktion der Mitsegelnden des Paulus auf die Rede wird nicht erwähnt: Glaubten sie ihm? Oder entgegneten sie ihm etwas? Oder ließen sie sich taufen? Die Reaktion der Mitsegelnden ist hier wohl nicht von Bedeutung.
Es lässt sich wohl nur allgemein sagen, dass die bevorstehende Zerstörung des Schiffes bei den Mitsegelnden des Paulus Schrecken ausgelöst haben dürfte - einen Schrecken, der jedoch durch die frohe Botschaft der Rettung des Lebens abgemildert wurde.
Weiterführende Literatur:
Literaturübersicht
[ Hier geht es zur Übersicht der Zeitschriftenabkürzungen ]
Barrett, Charles Kingsley; Paul Shipwrecked, in: B. P. Thompson [ed.], Scripture: Meaning and Method, FS A. T. Hanson, Hull 1987, 51-64
Burfeind, Carsten; Paulus muß nach Rom. Zur politischen Dimension der Apostelgeschichte, NTS 46 (2000), 75-91
Heininger, Bernhard; Paulus als Visionär: Eine religionsgeschichtliche Studie (Herders biblische Studien 9), Freiburg i. Br. 1996
Kratz, Reinhard; Rettungswunder: Motiv-, traditions- und formkritische Aufarbeitung einer biblischen Gattung (Europäische Hochschulschriften: Reihe XXIII, Theologie; Bd. 123), Frankfurt a. M. u. a. 1997
MacDonald, Dennis R.; The Shipwrecks of Odysseus and Paul, NTS 45/1 (1999), 88-107
Praeder, Susan Marie; Acts 27:1-28:16: Sea Voyages in Ancient Literature and the Theology of Luke-Act, CBQ 46/4 (1984), 683-706
Spencer, F. Scott; Paul’s Odyssey in Acts: Status Struggles and Island Adventures, BTB 28/4 (1998), 150-159
Talbert, C. H., Hayes, J. H.; A Theology of Sea Storms in Luke-Acts, SBL.SPS 34 (1995), 321-326