Apg 27,27-32
Übersetzung
Apg 27,27-32:27 Als aber die vierzehnte Nacht kam, seit wir in der Adria umhertrieben, vermuteten die Matrosen gegen Mitternacht, dass ein Land auf sie zukomme. 28 (Und) Sie warfen das Senkblei und maßen zwanzig Faden. Und als sie ein wenig weitergefahren waren und es wieder warfen, maßen sie fünfzehn Faden. 29 Und da sie fürchteten, wir könnten irgendwo auf Klippen auflaufen, warfen sie vom Heck vier Anker aus und wünschten, es möge Tag werden. 30 Als die Matrosen vom Schiff zu fliehen versuchten und [dafür] das Beiboot unter dem Vorwand ins Meer herabließen, sie wollten vom Bug Anker ausbringen, 31 sagte (der) Paulus zu dem Hauptmann und den Soldaten: "Wenn die nicht auf dem Schiff bleiben, könnt ihr nicht gerettet werden.“ 32 Da kappten die Soldaten die Haltetaue des Beibootes und ließen es herunterfallen.
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Beobachtungen: Die vierzehnte Nacht ist von der Abfahrt von "Gute/Schöne Häfen“ ("Kaloi limenes“) an gerechnet. Schon bald nach der Abfahrt war das Segelschiff in einen "Wirbelsturm“ geraten und durch Schäden und Ausrüstungsverluste zunehmend manövrierunfähig geworden. Einen Hafen hatte es seitdem nicht mehr ansteuern können.
V. 27 ist Bestandteil des sich durch 27,1-37 ziehenden dritten Wir-Berichtes (die ersten beiden umfassten 16,10-17 sowie 20,5-15; 21,1-18). Dass das "wir“ in 27,27-32 nur in V. 27 (und außerdem noch in V. 29) auftaucht, kann plausibel damit begründet werden, dass der Sprecher zwar zu den auf der "Adria“ Umhertreibenden gehörte, bei den folgenden Handlungen aber nur Zuschauer war. Der Wechsel zwischen "sie“ und "wir“ ist also an dieser Stelle kein Hinweis darauf, dass in 27,1-37 und konkret in 27,27-32 ein Wir-Bericht mit einem anderen Bericht verwoben wurde.
Geht man davon aus, dass der Sprecher des ersten Wir-Berichtes mit dem des zweiten identisch ist, dann lässt sich aus den ersten beiden Wir-Berichten nichts zum Sprecher im dritten Wir-Bericht herleiten, weil der Sprecher in den ersten beiden Wir-Berichten nur berichtet, ohne selbst seine Identität preiszugeben. Vermutlich ist er mit keiner der in den ersten beiden Wir-Berichten namentlich genannten Personen zu identifizieren. Also ist darauf zu achten, ob sich aus dem in 27,1-37 enthaltenen Wir-Bericht Schlüsse auf die Identität des Sprechers ziehen lassen. Bis V. 27 war dies nicht der Fall.
Dass das Schiff auf der "Adria“ herumtrieb, erstaunt insofern, als nach unserem heutigen Verständnis die Adria das Meer zwischen dem Balkan und Italien ist. Als letzte geographische Position war in 27,16 die Insel Kauda genannt worden, womit vermutlich die vor der kretischen Südwestküste gelegen Insel Gavdos gemeint war. Der Blick der Schiffbrüchigen richtete sich angstvoll noch weiter nach Süden, nämlich zur Syrte (= Großen Syrte; vgl. 27,17). In dieser weiten Bucht des Mittelmeeres an der Nordküste Libyens fürchtete man die Sandbänke, auf denen man das Schiff wohl schon auflaufen sah. Wie kam das Schiff plötzlich in die Adria? Hatte der Wind auf Südost gedreht, so dass das Schiff plötzlich nach Nordosten getrieben worden war? Das ist unwahrscheinlich, denn erstens ist von einem solchen Wechsel der Windrichtung keine Rede, zweitens würde sich die Frage stellen, wie denn das Schiff plötzlich von den Gewässern Kretas in das Meer zwischen dem Balkan und Italien gekommen ist, und drittens wäre das Schiff ja geradezu auf das Ziel, Rom in Italien, zu getrieben worden. Wahrscheinlicher ist, dass sich der Begriff "Adria“ auch auf das Mittelmeer südwestlich oder westlich von Kreta nach Malta oder Süditalien hin bezog. Tatsächlich rechneten antike Geographen dieses Gebiet des Mittelmeeres, das auch das Ionische Meer einschloss, zur Adria. Dann wäre das Schiff zwischen Kreta, der Peloponnes, Süditalien und Malta umhergetrieben worden.
Das Verb "hyponoeô“ ("vermuten“) ist im Sinne von "aus einer Beobachtung/Wahrnehmung einen Schluss ziehen“ zu deuten, wobei sich in diesem Falle die Vermutung als richtig herausstellen sollte.
Es stellt sich die Frage, woraus die Matrosen gegen Nacht schließen konnten, dass ein Land auf sie zukomme. Bei Tag wäre am ehesten daran zu denken gewesen, dass die Matrosen etwas gesehen hatten, was zu diesem Schluss führte: vielleicht schemenhaft am Horizont das Land selbst, vielleicht aber auch von der Küste stammendes Treibgut oder Tiere, die auf Küstennähe hinwiesen. Da es aber mitten in der Nacht war und damit dunkel, ist weniger an das Sehen als vielmehr an das Hören zu denken. Vielleicht hatten die Matrosen gewöhnlich in Küstennähe vorkommende Tiere gehört. Möglich ist aber auch, dass sie aus dem Tosen der Brandung das Nahen von Land erschließen konnten.
Der Begriff "chôra“ bezeichnet eine unbestimmte Landmasse. Dass es sich bei dieser Landmasse um eine Insel handelte, ist nicht gesagt. V. 27 beschreibt die Wahrnehmung der Dinge seitens der Matrosen. Diese konnten die Landmasse wahrscheinlich nicht sehen und auch nicht genau verorten, weshalb sie nicht konkret an eine Insel gedacht haben dürften. Für sie war wahrscheinlich auch nicht entscheidend, ob es sich um eine Insel handelte oder nicht, denn sie dachten wohl in erster Linie an die Gefahr, die dem Schiff durch die Landmasse samt möglichen Klippen drohte. Dass die Landmasse als eine Gefahr wahrgenommen wurde und auf diese die Aufmerksamkeit gerichtet war, lässt auch die Formulierung "dass ein Land auf sie zukomme“ annehmen, denn die Landmasse kam wie eine Gefahr auf das Segelschiff mit den Matrosen zu. Bei der ebenfalls möglichen Formulierung "dass das Schiff auf ein Land zutreibe“ wäre die Fixierung der Aufmerksamkeit auf die nahende Gefahr nicht so deutlich geworden. Dass es sich bei der Landmasse um eine Insel handeln würde, hatte Paulus vorhergesagt, aber auch Paulus hatte nur unbestimmt von "irgendeiner Insel“ gesprochen.
Weiterführende Literatur: Einen Forschungsüberblick über die Frage, wie die Wir-Stücke zu erklären sind, bietet J. Börstinghaus 2010, 282-304. Grundsätzlich habe man fünf Möglichkeiten erwogen, die Wir-Stücke zu erklären: a) Der traditionelle Ansatz: Man nehme an, dass der Verfasser durch das Wir anzeige, welchen Geschehnissen er als Augenzeuge und somit historischer Paulusbegleiter selbst beigewohnt hat. b) Der quellenkritische Ansatz: Man nehme an, dass der Verfasser eine Quelle, die bestimmte Phasen der Paulusreisen schilderte und im sog. "Wir-Stil“ verfasst war, ganz oder auszugsweise bzw. gekürzt zitiert und die 1. Pers. Pl. übernommen habe. c) Der Anspruch des Verfassers: Man nehme an, dass der Verfasser durch die Wir-Passagen einen (unberechtigten) Anspruch auf Augenzeugenschaft oder zumindest auf Erfahrung als Seereisender im östlichen Mittelmeerraum erhebe. d) Die literarische Erklärung: Man nehme an, dass Wir-Passagen ein literarisches Stilmittel seien, das auch sonst belegbar ist; der Verfasser habe sich dieses Stilmittel zunutze gemacht. e) Die theologische Erklärung: Man nehme an, dass der Verfasser die Wir-Passagen mit einer (im weiteren Sinne) theologischen Aussageabsicht eingesetzt habe. J. Börstinghaus sehe derzeit keine in jeder Hinsicht schlüssige und befriedigende Lösung für das Wir-Problem und versuche daher auf S. 304-345, wenigstens für das Wir-Stück 27,1-28,16, einen neuen (?) Erklärungsversuch zu unterbreiten. Dabei knüpft er an die Idee eines Rechenschaftsberichtes an. Diese sei von D.-A. Koch konsequent auf das eine Wir-Stück Apg 20,5-21,18 bezogen worden. Das sei ebenso neu wie die präzisen Überlegungen zu Abfassungs- und Verwendungszweck des Dokuments. D.-A. Koch 1999, 367-390 vertrete die plausible These, dass das zweite Wir-Stück (Apg 20,5-21,18) und nur dieses (ohne die Abschiedsrede in Milet 20,18-35), aber mit der Liste der Teilnehmer an der Kollektendelegation (20,4) auf einem Rechenschaftsbericht basiere, der auch in der 1. Pers. Pl. abgefasst gewesen sei. Dieser Rechenschaftsbericht habe dazu gedient, nach der Rückkehr von den einzelnen Gemeinden Rechenschaft über die Durchführung der Kollekte zu geben. In Analogie zu diesem Rechenschaftsbericht der Kollektendelegation nimmt J. Börstinghaus einen Rechenschaftsbericht an, in dem die wohl von der Gemeinde in Cäsarea dem Paulus als Geleit mitgeschickten Männer über ihr Tun und Lassen während der Reise nach Rom Bericht erstatteten, nachdem sie zu ihrer Gemeinde nach Cäsarea zurückgekehrt waren. Dieser Rechenschaftsbericht werde nur eine dürre Ansammlung von Informationen zum Inhalt gehabt haben, die Lukas aber als Gerüst einer großen Seereiseerzählung gedient haben dürften. Diese habe er dann, durch verbreitete Seefahrtserzählungen beeinflusst, relativ selbstständig und frei gestaltet, dabei aber die Erzählperspektive aus der 1. Pers. Pl. aus dem Bericht übernommen. Dem Lukas vorliegenden Rechenschaftsbericht seien in erster Linie die Orts- und Personennamen in 27,1-9.12 sowie in 28,1.11-16 zuzuweisen. Darüber hinaus könnten in dem Bericht auch einzelne Informationen über den Fahrtverlauf enthalten gewesen sein, wahrscheinlich auch die Zahlenangabe 276 in 27,37.
C. J. Hemer 1985, 79-109 deutet den Wir-Bericht in Apg 27-28 als Ausdruck der "Unmittelbarkeit“ der Erfahrung des Verfassers.
C.-J. Thornton 1991, 200-367 legt dar, dass Lukas nicht habe im Sinne der antiken Geschichtsschreibung Augenzeugenschaft für bestimmte Ereignisse beanspruchen wollen. Andernfalls hätte es genügt, im Proömium darauf hinzuweisen, dass er Paulus auf einigen seiner Reisen begleitet hatte und darum teilweise aus eigener Anschauung berichten könne. Aufgrund der detaillierten Darstellung der Europa-, Jerusalem und Romreise hätten die Leser selbstverständlich gewusst, wo der Erzähler am Geschehen beteiligt war. Allenfalls hätte er am gegebenen Ort jeweils hinzugefügt, dass er dies oder jenes miterlebt habe. Dies sei aber nicht seine Absicht gewesen. Vielmehr wolle sich Lukas einem relativ begrenzten und überschaubaren Kreis von Lesern gegenüber als Zeuge dafür verstanden wissen, dass und wie sich in entscheidenden Momenten der Geschichte des Christentums der göttliche Plan verwirklichte.
J. Wehnert 1989, 182-183 geht davon aus, dass sich Lukas bei den Wir-Passagen eines Stilmittels der jüdischen Literatur bediene, nämlich der (nachträglichen) Autorisierung eines Textes, und auf diese Weise seine um unbedingte Zuverlässigkeit bemühte Darstellung absichere (vgl. S. 182-183). Zu 27,1-28,16: Die sporadische bzw. ganz fehlende Verwendung des "Wir“ in den Abschnitten 27,13-44; 28,3-6.8-10a werfe die Frage auf, ob es sich hierbei um sekundäre Erweiterungen des Romreiseberichts handelt. Für diese Möglichkeit spreche vor allem, dass der Reisebericht 27,1-8 eine glaubwürdige und folgerichtige Fortsetzung erst in 28,11ff. finde: Das dreimonatige Überwintern von Schiff und Besatzung hätte in diesem Fall auf Kreta stattgefunden. Für diese Möglichkeit spreche weiter, dass das alexandrinische Schiff mit Fahrtziel Italien von 27,6 mit dem alexandrinischen Schiff mit Fahrtziel Syrakus - Rhegion − Puteoli von 28,11-13 fraglos identisch sein kann, so dass sich die historische Frage nach einem Schiffbruch des Paulus vor Malta erübrige. Der Aufenthalt auf Malta habe wohl nur drei Tage und nicht drei Monate gewährt. Ansonsten sei der Widerspruch zwischen den Zeitangaben "drei Tage“ (vgl. 28,7) und "drei Monate“ (vgl. 28,11) unlösbar. Als Resultat hält J. Wehnert fest, dass zwischen der Reisebeschreibung 27,1-8; 28,1-2.7.10-16 und den lukanischen Ergänzungen (den Pauluspassagen samt dem Seeabenteuer 27,9-44 sowie den Wundergeschichten 28,3-6.8-9; sämtlich mit dem Wir-Bericht nur lose oder gar nicht verknüpft) deutlich unterschieden werden müsse. Statt des von Lukas berichteten Schiffbruchs vor Malta sei in der Tradition wohl nur von einer (etwa dreimonatigen) Überwinterung auf Kreta die Rede gewesen, nach deren Ende die Fahrt nach Italien (mit dreitägigem Zwischenaufenthalt auf Malta) bestimmungsgemäß fortgesetzt worden sei (vgl. S. 44-45.110-112.193-196). Eine kritische Auseinandersetzung mit der literarkritischen Analyse von J. Wehnert bietet A. Suhl 1991, 21-28.
Zur Einteilung des Mittelmeeres in eine Vielzahl Meeresräume und zur Ausdehnung der Adria (Mare Ionium vel Adriaticum) siehe P. Pomey 1997, 26-27.
Laut H. Warnecke 2000, 25-27 (vgl. H. Warnecke 1987, 69-74) hätten die antiken Menschen unter dem Begriff "Adria“ den Meeresraum zwischen der Apenninen- und der Balkanhalbinsel verstanden. Es sei zwar zu bemerken, dass im Altertum die Meeresgrenzen im zentralen Mittelmeerraum fließend waren, insbesondere die Südgrenze der Adria; aber diese habe im Westen nie weiter südwärts als bis zur Südspitze Kalabriens (auch nicht unter Einbeziehung des Ionischen Meeres) gereicht. Die südwärts fortschreitende Ausdehnung des Adria-Begriffs auf weite Teile des Sizilischen und Libyschen Meeres sei erst in christlicher Zeit und zu Beginn des Mittelalters erfolgt. J. Wehnert 1990, 67-99 vertritt dagegen die Ansicht, dass Lukas die Bezeichnung "Adria“ für den Seeraum zwischen Kreta und Malta zu verwenden scheine. Er stimmt H. Warnecke nur dahingehend zu, dass die Meeresgrenzen in der Antike fließend gewesen seien, fügt jedoch hinzu: und damit erst recht der Sprachgebrauch. A. Suhl 1991, 9 merkt an, dass die Beobachtung, dass die Ausdehnung des Begriffs "Adria“ erst in christlicher Zeit begann, keineswegs beweise, dass sie für die Leser der Apg schon als selbstverständlich vorausgesetzt werden muss.
H. Warnecke 2000, 30-31 (vgl. H. Warnecke 1987, 44-45) legt dar, dass das treibende Schiff innerhalb von zwei Wochen (vgl. 27,27) den etwa 500 Seemeilen (= etwa 900 Kilometer) langen Seeweg von Kreta nach Malta nicht habe zurücklegen können, zumal es bereits am ersten Tag die Segel gestrichen und zur Verringerung der Drift die Treibanker ausgeworfen hatte (vgl. 27,17). Zudem sei die Oberflächenströmung im zentralen Mittelmeerraum ganzjährig in der Sizilischen Straße (zwischen Sizilien und Tunesien) mit durchschnittlich 0,75 sm/h gegenläufig, d. h., sie bewege sich kontinuierlich von West nach Ost. Ferner betrage die Lebensdauer von Sturmtiefs höchstens eine Woche, weshalb das abgetakelte Paulus-Schiff mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 3 Knoten (= etwa 5,5 km/h) westwärts gedriftet sein müsste, um Malta zu erreichen. Das entspreche aber nahezu der Leistung, die antike Frachtschiffe bei günstigem Wind unter vollen Segeln liefen. Die von den Befürwortern der Malta-Theorie postulierte weite Westdrift sei also Seemannsgarn, und es gebe folglich auch keinen antiken, mittelalterlichen oder neuzeitlichen Beleg, dass ein Schiff durch Stürme vom kretischen Seeraum in die Nähe Maltas getrieben worden sei. Dem widerspricht J. Börstinghaus 2010, 441-442: Das Schiff von Mahdia, das im 1. Jh. v. Chr. auf der Fahrt von Athen nach Rom an die tunesische Küste verschlagen wurde, belege die Möglichkeit einer weiten Südwestabdrift aus dem Ionischen Meer bis nach Afrika.
B. Schwank 1990, 44-49 merkt zur Kephallenia-Hypothese von H. Warnecke kritisch an, dass Apg 27,27 nicht davon spreche, dass das Schiff auf einer Insel strandete, kurz nachdem es in die Adria getrieben worden war, sondern davon, dass es in dieser "Adria“ schon seit vierzehn Tagen herumgetrieben wurde und dass diese Irrfahrt in der vierzehnten Nacht endlich ihr Ende fand. Von einer geographisch exakten und vollständigen Schilderung dieses Teils der Romfahrt könne keine Rede sein. Das Wort "Adria“ werde in einem ganz weiten, nicht üblichen Sinn gebraucht.
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Beobachtungen: Bei der "orguia“ handelt es sich um ein maritimes Längenmaß, nämlich den Faden. Er misst etwa 1,80 Meter und entspricht dem Klafter, also dem Maß zwischen den ausgestreckten Armen eines erwachsenen Mannes. Dementsprechend bedeutet das Verb "oregô“, von dem "orguia“ abgeleitet ist, "ausstrecken“.
Das Verb "diistêmi“ bedeutet gewöhnlich "getrennt aufstellen“, "trennen“ oder "spalten“ In V. 28 liegt jedoch die abweichende Bedeutung "weiterfahren“ vor, wobei die Weiterfahrt bewirkte, dass das Senkblei an zwei getrennten, d. h. verschiedenen Stellen ausgeworfen wurde.
Mittels des Senkbleis − ein an einer langen Schnur befestigtes schweres Gewicht, gewöhnlich ein Bleistück - wollte die Schiffsbesatzung die Wassertiefe messen und so herausfinden, ob sich das Schiff einer Landmasse näherte. Wenn sich vor ihm ein Hafen befunden hätte, hätte das Land für die Schiffsbesatzung die Rettung dargestellt. Tatsächlich ist aber von einem Hafen keine Rede. Eine Landmasse ohne Hafen stellte aber aufgrund der sinkenden Wassertiefe eine große Gefahr für das Schiff dar, das nun auf der Landmasse aufzulaufen bzw. an ihr zu zerschellen drohte.
Schon beim ersten Auswurf des Senkbleis war eine niedrige Wassertiefe gemessen worden, nämlich gerade mal 36 Meter (= 20 Faden). Als beim zweiten Auswurf eine noch niedrigere Wassertiefe, nämlich nur noch 27 Meter (= 15 Faden), festgestellt wurde, schrillten bei der Schiffsbesatzung alle Alarmglocken.
Weiterführende Literatur: Eine Abbildung eines Senkbleis aus dem 1. Jh. n. Chr. bieten P. Pomey, A. Tchernia 1997, 14.
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Beobachtungen: Eine Textvariante bietet statt "kata tracheis topous“ ("auf felsige Stellen“, d. h. "auf Klippen“) "kata bracheis topous“ ("auf seichte Stellen“ = "auf Sandbänke“?), denkt also nicht an Klippen, auf die das Schiff aufzulaufen drohte, sondern vermutlich an Sandbänke.
Das "wir“ in V. 29 taucht zwar unvermittelt auf, ist aber ebenso wie in V. 27 erklärbar. Die Matrosen waren zwar diejenigen, die an erster Stelle handelten und sich fürchteten, aber die Gefahr, auf Klippen aufzulaufen, betraf dann doch alle Personen auf dem Schiff. Weil auch der Sprecher betroffen war, fließt an dieser Stelle seine Sichtweise in die Schilderung ein, weshalb es "wir“ statt "sie“ heißt.
Die Schreiber einer Textvariante scheinen sich an dem plötzlich auftauchenden "wir“ gestört zu haben und glätten den Text zu "sie könnten irgendwo auf Klippen auflaufen“.
Wenn vom Heck vier Anker ausgeworfen werden konnten, bedeutet dies, dass das Schiff auf jeden Fall mit mindestens vier Ankern versehen war, von denen sich wiederum mindestens vier am oder auf dem Heck befanden.
Mittels des Auswerfens der Anker sollte das drohende Auflaufen und möglicherweise auch Zerschellen des Schiffes auf den Klippen verhindert werden. Dass die Anker vom Heck und nicht vom Bug ausgeworfen wurden, ist vermutlich damit zu begründen, dass der Wind ja das manövrierunfähige Schiff von hinten voran blies und bei einem Auswerfen der Anker vom Bug zu befürchten war, dass sich das Schiff querstellte und Wind und Wogen die Breitseite bot.
Das Verb "euchomai“ kann sowohl "wünschen“ als auch "bitten“ oder "flehen“ bedeuten. So bleibt im Hinblick auf V. 29 offen, ob die Matrosen für sich − ausgesprochen oder unausgesprochen − wünschten, es möge Tag werden, oder ob sie ihren Gott bzw. ihre Götter baten oder anflehten, es möge Tag werden.
Das Herbeisehnen des Tags dürfte darin begründet liegen, dass man im Tageslicht wenigstens die drohende Gefahr sehen konnte. In der Dunkelheit konnten die Matrosen die drohende Gefahr nicht genau einschätzen und außerdem wurden Rettungsmaßnahmen erschwert.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Der Begriff "skaphê“ bezeichnet hier vermutlich ein Beiboot. Es dürfte sich um dasjenige handeln, das die Schiffbrüchigen im "Wirbelsturm“ nur mit Mühe in ihre Gewalt bekommen und an Bord des Segelschiffes gehievt hatten (vgl. 27,16-17).
Auch am Bug des Schiffes befanden sich mehrere Anker, wobei die genaue Anzahl nicht genannt wird. Wenn man diese Anker zu den mindestens vier Ankern des Hecks hinzu zählt, kommt man auf eine Gesamtzahl von mindestens sechs Ankern.
Die Anker des Bugs wollten oder konnten die Matrosen jedoch nicht wie die vier Anker des Hinterdecks ohne weiteres ergreifen und auswerfen, sondern sie wollten oder mussten zunächst das Beiboot ins Meer herablassen, um dann die Anker auszubringen (ekteinein). Es ist möglich, dass das Beiboot dafür benötigt wurde, an die Anker zu kommen, um diese dann auszubringen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass man zwar auch ohne Beiboote an die Anker des Bugs kam, diese aber nicht einfach auswerfen wollte, weil man sie in größerer Entfernung des Segelschiffes ausbringen wollte. Um an den gewünschten Ort der Anker zu kommen, musste man das Beiboot benutzen.
Das Sichern des Schiffes auch mittels der Anker des Bugs und das Ausbringen dieser in einer gewissen Entfernung vom Schiff war sinnvoll, weil dadurch das Schiff stabilisiert wurde und sich nicht querstellen und Wind und Wogen die Breitseite bieten konnte. Es handelte sich also um eine Sicherheitsmaßnahme, die das Auswerfen der Anker des Hecks ergänzen sollte.
Dass man diese sinnvolle Sicherheitsmaßnahme durchführen wollte, war jedoch gemäß dem Wortlaut von V. 30 nur ein Vorwand, den die Matrosen zu ihrer geplanten Flucht mit dem Beiboot vorbrachten. Allerdings verwundert, dass sich die Matrosen in der nächtlichen Finsternis mit dem Beiboot in fremde Gewässer in der Nähe von Klippen begeben wollten. Mit dem Beiboot konnten sie im vermutlich noch starken Wind kentern oder ebenfalls auf die Klippen auflaufen und dort zerschellen. Entweder handelte es sich also um eine Panikreaktion der Matrosen, die unter allen Umständen von dem manövrierunfähigen, vermutlich Leck geschlagenen und in Kürze strandenden oder/und zerschellenden Segelschiff flüchten wollten, oder die Matrosen setzten darauf, mit einem noch manövrierfähigen und wendigeren Beiboot der drohenden Gefahr irgendwie entkommen zu können.
Angesichts des doch sehr gewagt erscheinenden Fluchtversuchs kann man auch zu dem Schluss kommen, dass diese nicht nur vorgeblich, sondern tatsächlich Anker vom Bug mittels des Beibootes ausbringen wollten. Dass es sich bei dem Ausbringen um einen Vorwand handelte, wäre demnach die Sichtweise der Soldaten gewesen.
Sofern die Matrosen tatsächlich vom Segelschiff flüchten wollten, stellt sich die Frage, ob sie mit dem Beiboot erst noch Anker vom Bug ausbringen wollten, oder ob sie sofort die Flucht antraten. Sollte letzteres der Fall sein, hätten die Matrosen höchst unverantwortlich gegenüber den auf dem Segelschiff verbleibenden Schiffbrüchigen gehandelt, denn sie hätten diese nur unzureichend mittels Ankern gesichert und des Beiboots beraubt Wind und Wogen überlassen.
Weiterführende Literatur: Zum Ankerversuch siehe C. Reynier 2006, 117-120. Die antiken Schiffe seien mit bis drei bis vier Meter hohen Ankern ausgestattet gewesen, die mehr als zwei Tonnen wiegen konnten. Die − vermutlich zwei − Anker des Bugs hätten wohl wegen der Größe und des hohen Gewichts nicht auf dem Deck gelegen, sondern seien am Äußeren des Schiffes, am Davit (Hebevorrichtung) befestigt gewesen. Laut P. Pomey 1997, 87-88 sei der größte uns bekannte Anker aus Blei 4,20 Meter lang und 1850 Kilogramm schwer gewesen, der größte Anker aus Eisen 3,50 Meter lang. Die Anker römischer Schiffe seien aus Stein, Blei oder Eisen gefertigt gewesen, wobei bei manchen Ankern Schaft, Flunken und/oder Stock aus verschiedenen Materialien bestanden hätten. Zur Befestigung der Anker an der Schiffsflanke siehe P. Pomey, A. Tchernia 1997, 15-16. Zur Geschichte der Anker, zu den verschiedenen Ankertypen und zur Herstellung aus Stein, Holz oder Eisen siehe D. Haldane 1990, 19-24. Bis in das 1. Jh. n. Chr. hinein seien zugleich Holz- und Eisenanker verwendet worden. Mit zunehmender Entwicklung der Eisengewinnung und −verarbeitung seien jedoch Holzanker verdrängt worden.
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Beobachtungen: Es fällt auf, dass Paulus als Gefangener sehr selbstbewusst handelte und geradezu die Rolle einer Führungspersönlichkeit übernahm. Paulus konnte sich herausnehmen, mit dem Brustton der Überzeugung sowohl zu den Soldaten als auch zum Hauptmann zu sprechen, ohne von diesen zurechtgewiesen zu werden. Dieses inzwischen doch beachtliche Maß an Respekt hatte sich Paulus wahrscheinlich dadurch erworben, dass sich seine Warnung vor der Abfahrt von "Gute/Schöne Häfen“ ("Kaloi limenes“; vgl. 27,9-10) als berechtigt herausgestellt hatte. Auch mag die Soldaten und den Hauptmann die enge Verbindung des Paulus zu seinem Gott, die immerhin zum Erscheinen eines Boten/Engels des Gottes und zu einer weiteren Vorhersage (vgl. 27,23-26) geführt hatte, beeindruckt haben. Inwieweit die Soldaten und der Hauptmann den Gedanken akzeptierten, dass das Geschehen einem Plan Gottes folge, ist unklar.
Den Grund für die Behauptung, dass die auf dem Schiff Verbliebenen, zuvörderst die Soldaten und der Hauptmann, bei einer Flucht der Matrosen nicht gerettet werden könnten, nennt Paulus nicht. Zunächst ist daran zu denken, dass die Matrosen für das Umgehen der drohenden Gefahr des Auflaufens des Segelschiffes auf die Klippen oder für die Rettung der Schiffbrüchigen nach dem Auflaufen auf den Klippen und/oder für das Erreichen des Landes nach der Überwindung der größten Gefahr gebraucht wurden. Dann wären die Fähigkeiten der Matrosen unerlässlich gewesen. Bei dieser Deutung würde sich jedoch die Frage stellen, ob die Umsetzung des göttlichen Plans der Rettung des Paulus samt der Schiffbrüchigen wirklich von den Matrosen abhängen sollte. War der Gott des Paulus nicht auch ohne die Matrosen in der Lage, seinen Plan durchzuführen? Sollten die Fähigkeiten und die Macht der Matrosen tatsächlich größer sein als die Fähigkeiten und die Macht Gottes?
Warum Paulus nicht zu dem Kapitän und/oder zu dem Schiffseigner sprach, ist unklar. Bei dem Schiffseigner ist daran zu denken, dass sich dieser nicht auf dem Schiff befand, sondern in "Gute/Schöne Häfen“ ("Kaloi limenes“) geblieben war (vgl. Beobachtungen zu 27,11). Ganz sicher wird sich aber der Kapitän auf dem Schiff befunden haben. Hatte der Kapitän seine Befehlsgewalt über die Matrosen verloren? Das mag angesichts seiner Fehlentscheidung, von "Gute/Schöne Häfen“ wieder abzufahren (vgl. 27,11-12), der Fall gewesen sein. Vielleicht wusste Paulus auch, dass die von panischer Angst getriebenen Matrosen nicht mehr für Befehle seitens des Kapitäns empfänglich sein würden. Oder machte der Kapitän mit den Matrosen gemeinsame Sache? Wie auch immer: Die Soldaten und der Hauptmann schienen die richtigen Ansprechpartner zu sein, wenn es darum ging, tatkräftig die Flucht der Matrosen vom Schiff zu verhindern. Vielleicht dachte Paulus schon von vornherein an das Kappen der Haltetaue. Dafür schienen die Schwerter der Soldaten und des Hauptmanns, die diese vermutlich bei sich trugen, prädestiniert zu sein.
Weiterführende Literatur: Möge Apg 27 auch detaillierte Orts- und Zeitangaben umfassen, die auf einen exakten Reisebericht schließen lassen könnten, möge dem erzählten Geschehen auch ein historischer Kern (vielleicht einige Notizen aus paulinischen Kreisen stammend) − eine ausführlicher Augenzeugenbericht liege kaum vor − zugrunde liegen, so sei der Duktus des gesamten, als Einheit gesehenen Kapitels laut R. Kratz 1997, 320-350 doch in erster Linie auf symbolisch-theologische (Be-)Deutung hin angelegt. Ein historischer Bericht lasse sich als Quelle unter Herauslösung der der lukanischen Redaktion zugeschriebenen Paulusszenen nicht herausarbeiten. Es sei aber nicht ausgeschlossen, dass Lukas als Endredaktor auf reichhaltiges Quellenmaterial zurückgegriffen hat. Seesturm- und Schiffbruchdarstellungen seien in antiker Literatur und mündlicher Tradition in reichem Angebot zuhanden, geradezu zur literarischen Gattung geworden. Veranlassung der lukanischen Darstellung müsse eine Notiz (in welchem Umfang auch immer) über die Gefangenschaftsreise des Paulus nach Rom, und damit über das gefährliche Mittelmeer gewesen sein. Zum Verständnis von Apg 27: Es gehe um die Rettung des christlichen Missionars durch Gott. Diesem seinem Verkündiger, der nicht zugrunde gehen könne, sondern in Rom vor den Kaiser treten müsse, um das Evangelium Christi ungehindert in der damaligen Weltmetropole verkündigen zu können, habe Gott auch das Leben der Mitfahrenden geschenkt. Paulus sei gleichsam der zweite − ins Positive verkehrte − Jona, der nicht vor seinem Gott davonlaufe, nicht von den Heiden beschämt werden müsse, sondern in vorbildlicher Weise zu seinem Gott stehe, ihn gläubig bekenne und dadurch den Reisegefährten Mut einflöße, ihre Rettung, ihr Heil herbeiführe.
Auch S. M. Praeder 1984, 683-706 sieht eine Beziehung zwischen Apg 27,1-28,16 und der antiken Literatur mit ihren Reiseberichten, Vorhersagen von Sturm und Schiffbruch und Sturmszenen sowie ihrer Sorge um Sicherheit auf Seereisen. Das den gesamten Abschnitt durchziehende gemeinsame theologische Thema sei die Sendung des in Jesus Christus und seiner Kirche gegründeten göttlichen Heils zu den Heiden.
C. H. Talbert, J. H. Hayes 1995, 321-326 befassen sich mit folgenden Fragen: Welcher theologische Inhalt hat sich den Lesern der Sturmberichte Lk 8,22-25 und Apg 27 erschlossen? Wie fügen sich diese beiden Sturmberichte in das lukanische Gesamtwerk ein? Ergebnis (zu Apg 27): Der Schiffbruch und der Angriff der Schlange seien keine Strafe Gottes gewesen. Die Rettung des Paulus sei nicht auf dessen Leistung, sondern auf den Plan Gottes zurückzuführen. Gott erweise Paulus als Gerechten, nicht als Sünder. Dem entspreche, dass in 23,12-26,32 auch Menschen die Unschuld des Paulus bekräftigten. Diese Aspekte fügten sich nahtlos in den weiteren literarischen und theologischen Horizont des lukanischen Gesamtwerkes ein.
Laut F. S. Spencer 1998, 150-159 handele die Apg nicht nur von der bemerkenswerten Wandlung des Paulus vom Erzfeind des Evangeliums hin zu dessen leidenschaftlichstem und dynamischstem Verkündiger, vor allem unter Heiden, sondern auch vom fortwährenden Kampf des Paulus um das Bekennen und Bewahren der neuen Identität angesichts widriger menschlicher, natürlicher und übernatürlicher Kräfte. Neben der Christuserscheinung auf dem Weg nach Damaskus (vgl. Apg 9) kämen auch den Ereignissen auf den Inseln Zypern (vgl. Apg 13) und Malta (vgl. Apg 28) am Anfang und am Ende der Missionsreisen besondere Bedeutung im Hinsicht auf die Entwicklung von Paulus' Charakter und Status zu. Im Rahmen seines Aufsatzes kommt F. S. Spencer auf verschiedene Aspekte der besonderen Bedeutung der Inseln in der Antike zu sprechen: Inseln hätten als Orte der Zuflucht, des Exils, der Erhöhung und heidnischer Bewohner gegolten. Auch Paulus erfahre Zypern als sicheres, lichtes Gebiet inmitten ungestümer Mächte der Finsternis um ihn herum. Für Paulus sei Zypern zwar kein Ort des Exils, aber doch der Auszeichnung, werde ihm doch Erstaunen und Respekt − sogar Glaube - entgegengebracht. Und schließlich werde er auf Zypern zum göttlich befähigten Führer der Verbreitung des Evangeliums und schließlich auch zum führenden Heidenmissionar. Der absolute Höhepunkt der Erhöhung des Paulus komme schließlich auf Malta. Er sei zwar ein Gefangener, werde aber verschiedentlich mit Respekt behandelt. In einer Zeit, als Paulus nicht missionarisch tätig sein konnte und in einem heftigen Unwetter mit den anderen Reisenden jegliche Hoffnung auf Rettung verlor (vgl. 27,20), habe er sich wieder als dynamischer Führer und Wohltäter herausgestellt, der aller Unbill trotzte. So habe er nicht nur seinen Mitreisenden wieder Mut gemacht, sondern sei zu großer Ehre gekommen (vgl. 28,10). Nach den Ereignissen auf Malta bis zum Ende der Apg habe er sich trotz seiner Gefangenschaft wieder wie ein Führer verhalten und das Evangelium verkündigt.
D. R. MacDonald 1999, 88-107 stellt zahlreiche Ähnlichkeiten der Schiffbrucherzählungen in der Apg und in der Odyssee des Homer (Buch 5 und 12) fest. So fänden sich auch in der Odyssee Wir-Berichte. Der Ablauf und das Vokabular der Schiffbrucherzählungen in der Apg und in der Odyssee des Homer ähnelten sich. Auch in der Odyssee werde die Rettung angekündigt, wenn auch nicht von einem Engel, sondern von der Meeresgöttin. Die Rettung erfolge sowohl in der Apg als auch in der Odyssee mittels des Schwimmens auf Planken. Sowohl Paulus als auch Odysseus würden auf der unbekannten Insel der Rettung von den Einheimischen freundlich aufgenommen und schließlich fälschlicherweise für einen Gott gehalten. Und schließlich erführen beide Helden bei ihrer Abreise Ehren. Nicht historische Fakten seien also Grundlage der Schiffbrucherzählung des Paulus, sondern literarische Fiktion. Lukas habe die Vorlage des Homer nicht nur imitiert, sondern christlich umgewandelt. Seine Absicht sei es gewesen, durch den Bezug des Schiffsbruchs des Paulus auf die Schiffbrüche des Odysseus Paulus und seinen Gott mittels eines Vergleichs zu erhöhen. Anders als Poseidon und Zeus sei der Gott des Paulus nicht für den Sturm verantwortlich, sondern nur für die Rettung. Odysseus verliere die Hoffnung, Paulus bleibe voller Vertrauen. Nur der Gott des Paulus rette sämtliche Schiffbrüchigen. Und schließlich werde bei Homer zwar der Held glänzend dargestellt, aber die Apg überrage die Odyssee hinsichtlich der Tugend des Paulus und seines Gottes.
C. K. Barrett 1987, 51-64 setzt sich kritisch mit der Meinung auseinander, dass Paulus wie die anderen Apostel ein "Gottesmann“ gewesen und als Nachfolger seines Meisters Jesus mit der gleichen göttlichen Kraft versehen und von dem gleichen göttlichen Geist wie dieser geleitet gewesen sei. Laut C. K. Barrett werde zwar verschiedentlich suggeriert, dass Paulus ein "Gottesmann“ sei, tatsächlich sei er es jedoch nicht. So sei beispielsweise die Aussage in V. 31 mit dem gesunden Menschenverstand zu erklären.
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Beobachtungen: Diese Fragen bezüglich der Macht − oder besser: Machtlosigkeit - Gottes scheinen sich die Soldaten nicht gestellt zu haben, denn sie kappten sofort die Haltetaue des Beibootes. Die Worte des Paulus waren ihnen also geradezu Befehl zum Handeln.
Dass die Soldaten nicht schon sofort nach dem Herablassen des Beibootes zum Handeln schritten und die Haltetaue kappten, spricht gegen die Möglichkeit, dass V. 30 die Sichtweise der Soldaten wiedergibt. Hätten die Soldaten nämlich tatsächlich den Matrosen unberechtigterweise einen Fluchtversuch unterstellt, hätten sie im Bewusstsein der Bedeutung der Matrosen diesen sicherlich sofort unterbunden und die Haltetaue des Beibootes gekappt. Dass sich die Soldaten nicht der Bedeutung der Matrosen bewusst waren, ist unwahrscheinlich. Dass Paulus ihnen die Bedeutung der Matrosen erst bewusst machen musste, lässt sich nur so erklären, dass die Soldaten dem Vorwand geglaubt hatten und erst durch die Worte des Paulus gewahr wurden, dass die Matrosen in Wirklichkeit vom Schiff zu flüchten gedachten.
Unklar ist, wo sich das Beiboot beim Kappen der Taue befand. Gemäß V. 30 war das Beiboot mindestens ein gewisses Stück das Segelboot herabgelassen worden. Soweit es noch nicht ganz ins Meer herabgelassen worden war, wäre es nach dem Kappen der Haltetaue ins Meer gefallen. Im Meer wäre es vermutlich abgetrieben. Das Verb "ekpiptô“ kann auch "abtreiben“ bedeuten. Insofern ist auch möglich, dass das Beiboot schon ins Meer herabgelassen worden war, bevor die Soldaten die Haltetaue kappten. Dann wäre das Beiboot nicht heruntergefallen, sondern nur abgetrieben. Da das Kappen der Taue das Ziel hatte, die Flucht der Matrosen zu vereiteln, kann sich kein Matrose im Beiboot befunden haben, denn dann wären die im Schiff befindlichen Matrosen abgetrieben und eben nicht auf dem Segelschiff verblieben. Wie die Matrosen nach dem Herablassen des Beibootes dieses vom Segelboot aus zu besteigen gedachten, bleibt offen. War das Segelschiff so niedrig, dass sie vom Deck aus ohne Hilfsmittel das ins Meer herabgelassene Beiboot besteigen konnten? Oder benötigten sie für das Besteigen des Beibootes ein Hilfsmittel wie eine Leiter?
Es fällt auf, dass nicht das Beiboot für die Rettung wichtig war, sondern die Matrosen. Da stellt sich die Frage, wie denn die Matrosen schließlich die Rettung ohne ein Beiboot, das die Schiffbrüchigen am Ende auch durch flachere Gewässer hätte an das rettende Land bringen können, bewerkstelligen sollten.
Diese Ungereimtheit lässt daran denken, dass die Herausstellung der Bedeutung der Matrosen in der Darstellung der Apg in erster Linie theologisch zu begründen ist: Die vordergründige Herausstellung der Bedeutung der Matrosen hatte nämlich zum Verlust des Beibootes geführt. Mit dem Verlust des Beibootes war den Menschen auf dem manövrierunfähigen Segelschiff ein wichtiges Hilfsmittel für die Rettung genommen worden. Nun war also erst recht Vertrauen auf Gott vonnöten. Zwar glaubten die Schiffsbrüchigen vermutlich an verschiedene Götter, aber die Erzählung der Apg gibt unmissverständlich zu erkennen, dass der rettende Gott der Gott des Paulus, also der Gott der Juden und Christen, sein würde.
Weiterführende Literatur:
Literaturübersicht
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Barrett, Charles Kingsley; Paul Shipwrecked, in: B. P. Thompson [ed.], Scripture: Meaning and Method, FS A. T. Hanson, Hull 1987, 51-64
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Pomey, Patrice; Les navires, in: P. Pomey [éd.], La Navigation dans l’Antiquité, Aix-en- Provence 1997, 60-101
Pomey, Patrice; Tchernia, André; Le voyage de saint Paul, in: P. Pomey [éd.], La Navigation dans l’Antiquité, Aix-en-Provence 1997, 10-17
Praeder, Susan Marie; Acts 27:1-28:16: Sea Voyages in Ancient Literature and the Theology of Luke-Act, CBQ 46/4 (1984), 683-706
Reynier, Chantal; Paul de Tarse en Méditerranée. Recherches autour de la navigation dans l’Antiquité (Ac 27-28,16) (LeDiv 206), Paris 2006
Schwank, Benedikt; “Als wir schon die vierzehnte Nacht auf der Adria trieben” (Apg 27,27), EuA 66/1 (1990), 44-49
Spencer, F. Scott; Paul’s Odyssey in Acts: Status Struggles and Island Adventures, BTB 28/4 (1998), 150-159
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Talbert, C. H., Hayes, J. H.; A Theology of Sea Storms in Luke-Acts, SBL.SPS 34 (1995), 321-326
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Warnecke, Heinz; Paulus im Sturm: über den Schiffbruch der Exegese und die Rettung des Apostels auf Kephallenia, Nürnberg, 2., veränd. Aufl. 2000
Wehnert, Jürgen; Die Wir-Passagen der Apostelgeschichte: ein lukanisches Stilmittel aus jüdischer Tradition (Göttinger Theologische Arbeiten 40), Göttingen 1989
Wehnert, Jürgen; Gestrandet. Zu einer neuen These über den Schiffbruch des Apostels Paulus auf dem Wege nach Rom (Apg 27-28), ZThK 87/1 (1990), 67-99