Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Erster Timotheusbrief

Erster Brief des Paulus an Timotheus

1 Tim 6,3-10

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

1 Tim 6,3-10



Übersetzung


1 Tim 6,3-10 : 3 Wenn jemand eine andere Lehre verbreitet und sich nicht den gesunden Worten unseres Herrn Jesus Christus und der [der] Frömmigkeit entsprechenden Lehre zuwendet, 4 so ist er aufgeblasen, weiß nichts, krankt vielmehr an Kontroversen und Wortgefechten. Aus ihnen entstehen Neid, Streit, Lästerungen, üble Verdächtigungen 5 – fortwährendes Gezänk von Leuten, die in der Gesinnung verdorben und der Wahrheit beraubt sind und meinen, dass Frömmigkeit [nichts weiter als] eine Einnahmequelle sei. 6 In der Tat ist die Frömmigkeit eine gute Einnahmequelle, wenn sie mit Genügsamkeit verbunden ist: 7 Denn wir haben nichts in die Welt hineingebracht, sodass wir auch nichts hinausbringen können. 8 Wenn wir also Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen. 9 Die aber reich sein wollen, geraten in Versuchung und Schlinge und in viele törichte und schädliche Begierden, welche die Menschen in Verderben und Untergang stürzen. 10 [Die] Wurzel aller Übel ist nämlich [die] Geldgier; einige, die ihr anhängen, sind vom Glauben abgeirrt und haben sich selbst viel Leid zugefügt.



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V. 3


Beobachtungen: Die Ermahnung „Dies lehre und schärfe ein!“, die V. 2 abschließt, bezieht sich auf V. 1-2, stellt aber auch eine Brücke zu V. 3-10 dar. In V. 3-10 werden die Irrlehrer und ihre Lehren zu den rechten christlichen Lehrern und der rechten christlichen Lehre in Kontrast gesetzt. Als rechter Lehrer wird „Timotheus“ hervorgehoben, ihm kommt der Kampf gegen die Irrlehren zu. Bei „Timotheus“ handelt es sich vordergründig um eine Einzelperson, nämlich um den engen Mitarbeiter des Paulus namens Timotheus. Tatsächlich dürfte „Timotheus“ aber die Gesamtheit der Gemeindeleiter repräsentieren, speziell die Bischöfe. „Timotheus“ wird von „Paulus“ instruiert, wie er die Gemeinde leiten soll. Er soll Rechtgläubigkeit, Glaubenswachstum, Stabilität der Gemeinde und Eintracht garantieren. Die Irrlehrer bewirken das Gegenteil: Glaubensabfall und Irrglauben, Glaubenszweifel und Diskussionen um Glaubensinhalte, Schwächung und Zerfall der Gemeinde sowie Zwietracht. All dies wird in V. 3-10 thematisiert, in dem Abschnitt, der die Ermahnungen zum Schluss (Schlussparänese) einleitet. Dabei wird der Fokus auf die Geldgier als „Wurzel aller Übel“ gerichtet. Sowohl der Kontrast zwischen den Irrlehrern und den rechten Lehrern als auch der Fokus auf Geldgier bzw. dem rechten Verhältnis zum Geld durchzieht das ganze Kapitel 6 bis hin zu V. 21.


Die Formulierung „gesunde Worte“ ist der Welt des Körpers und auch des Geistes entnommen. Ein gesunder Körper ist erstrebenswert und verheißt ein langes und unbeschwertes Leben. Wenn auch der Geist gesund ist, dann ist die Grundlage für ein langes, unbeschwertes und glückliches Leben vollkommen. Wenn „Paulus“ von „gesunden Worten“ spricht, dann geht es ihm aber nicht in erster Linie um den Körper und den menschlichen Geist und um diesseitiges Glück, sondern es geht ihm um die ganze Existenz des Menschen, die auch das Jenseits, das Leben nach dem Verscheiden aus dem irdischen Leben, umfasst. Die „Worte unseres Herrn Jesus Christus“ meinen sicherlich das Evangelium, das sowohl von Jesus Christus stammt als auch ganz zentral von ihm handelt. In 1,10-11 hat „Paulus“ von der „gesunden Lehre“ gesprochen und sie direkt mit dem Evangelium in Beziehung gesetzt. Der altgriechische Begriff „euangelion“ („Evangelium“) bedeutet „gute/frohe Botschaft“. Es geht in ihr also um etwas Gutes, Frohes, und zwar um etwas, was mit Wohlergehen und Heil zu tun hat. Die „gesunde Lehre“, die in 6,3 als „der Frömmigkeit entsprechende Lehre“ bezeichnet wird, ist nicht mit der guten/frohen Botschaft identisch, hängt aber mit ihr eng zusammen. Eine Lehre wird gelehrt, nicht verkündigt. Und die gute/frohe Botschaft, das Evangelium, wird verkündigt, nicht gelehrt. Die Verkündigung soll Begeisterung wecken, die Lehre das richtige Glaubensfundament gewährleisten.


Zur Vorstellung einer heilvollen Existenz passt der Heilstitel „Christus“. „Christus“ ist also nicht als Nachname zu verstehen und „Jesus“ als Vorname. „Christus“ bedeutet „Gesalbter“ (griechisch: „christos“). Im AT werden Könige, Priester, Propheten und auch kultische Gegenstände gesalbt. Durch die Salbung mit dem Salböl werden sie der rein profanen Welt enthoben und in den Dienst Gottes gestellt, womit sie in die Sphäre des Heils treten. Wenn Jesus als „Christus“ bezeichnet wird, dann wird er als Heilsbringer (Messias, hebr.: māschiaḥ) verstanden. Jesus Christus ist gemäß Paulus insbesondere deshalb Heilsbringer, weil er für die Menschen gestorben und von den Toten auferstanden ist. Er bewirkt Sündenvergebung und ewiges Leben. Der Verfasser des 1 Tim nimmt für sich als „Paulus“ in Anspruch, die unverfälschte paulinische Theologie und Lehre zu überliefern, weshalb auch er der paulinischen Darstellung des Heilsbringers folgen dürfte.

Wenn Jesus Christus als „Herr“ der Christen bezeichnet wird, dann ist damit ausgesagt, dass „Jesus Christus“ herrscht und die Christen ihm als seine Sklaven dienen. Es ist aber kein despotisches Herrschaftsverhältnis im Blick, sondern ein heilvolles.


„Frömmigkeit“ („eusebeia“) erscheint in 1 Tim 2,2 neben der „Ehrbarkeit“ („semnotês“) als wesentliches Merkmal christlicher Existenz. Sie bezieht sich wohl auf den rechten Glauben, der in enger Beziehung zum rechten Verhalten steht.


Unter dem Gesichtspunkt des Gemeindeaufbaus stellt sich die Frage, ob sich die Lehre nach dem rechten Glauben und damit verbunden auch nach dem rechten Verhalten richten soll, oder ob sich der Glaube und damit verbunden das Verhalten nach der rechten Lehre richten sollen. Der ganze 1 Tim ist von Ermahnungen, Aufforderungen und Belehrungen geprägt, die zuvörderst an „Timotheus“ als Gemeindeleiter gerichtet sind. Die Ermahnungen, Aufforderungen und Belehrungen zielen auf rechten Glauben und Verhalten ab. „Timotheus“ soll recht glauben und sich recht verhalten, aber auch für rechten Glauben und rechtes Verhalten seitens der Gemeindeglieder sorgen. In 1,10-11 und in 6,3 ist dagegen davon die Rede, dass sich die Lehre nach dem Evangelium bzw. nach der „Frömmigkeit“ richten soll, wobei wohl die „Frömmigkeit“ nicht vom Evangelium zu trennen ist (zur engen Verbindung siehe die Beobachtungen zu 3,16). Wir können also sagen, dass beidseitige Abhängigkeit besteht und „Paulus“ je nach Aussageabsicht mal die eine und mal die andere Abhängigkeit hervorhebt.


Weiterführende Literatur: Laut V. Mihoc 2009, 135-152 scheine 6,3-21 eine Sammlung verschiedener Ermahnungen und Anordnungen zu sein. Korrekter sei es aber wohl, den Abschnitt als Briefschluss anzusehen. Paulus behandele in ihm erneut die beiden grundlegenden Themen: die Anprangerung der Gegner und die Ermutigung des Timotheus.


N. Neumann 2009, 127-147 zeigt die Gemeinsamkeiten zwischen der Argumentation in 1 Tim 6,3-12 und der antiken kynischen Denkweise, die sich nach einer ersten Blütezeit im 4. und 3. Jh. v. Chr. zur Zeit der Entstehung des 1 Tim um 100 n. Chr. auf dem Weg zu neuer Popularität befunden habe, anhand der einschlägigen Quellen auf, um auf dieser Basis dann auch die Eigenarten des Abschnittes 1 Tim 6,3-12 umso präziser benennen zu können. Alles in allem stelle sich der Abschnitt als eine Adaption einer zeitgenössischen kynischen Gedankenführung auf den Bereich der frühchristlichen Theologie dar. Die kynische Argumentationsweise stehe vollständig im Dienst der Christologie; sie erhalte dadurch eine wesentlich neue Ausrichtung. Jedoch geschehe dies in einer Weise, in der die Einflüsse, die solches Denken und Argumentieren prägen, immer noch klar erkennbar bleiben.

Studien zur Morallehre der Pastoralbriefe hätten sich laut A. J. Malherbe 2010, 376-405 und 2011, 73-96 auf den Einfluss von Moralphilosophen auf den Verfasser der Pastoralbriefe konzentriert. Gewöhnlich kämen die Stoiker in den Blick, neuerdings auch die Kyniker. Darüber hinaus seien aber noch weitere Einflüsse populärer zeitgenössischer Morallehren wahrscheinlich. Es habe eine Vielzahl manchmal ähnlicher Lehren hinsichtlich des Reichtums gegeben. Diese Vielfalt lege nahe, dass 1 Tim 6,17-19, auf dessen engeren literarischen Zusammenhang (6,3-19) A. J. Malherbe eingeht, nicht von einer bestimmten Morallehre hergeleitet ist, sondern eine Sichtweise neben anderen ist. Auffällig sei die Bedeutung, die dem Genuss beim richtigen Gebrauch des Reichtums gegeben wird.


Zur „eusebeia“ („Frömmigkeit“) als Beispiel für die Adaption, Transformation und Inkulturation hellenistisch-römischer Vorstellungen in den Pastoralbriefen siehe J. Herzer 2007, 309-329. Der Begriff werde in den Pastoralbriefen unterschiedlich verwendet und ein kohärentes „Konzept“ von „eusebeia“ sei nicht zu erweisen. Während er im 1 Tim eine deutliche Affinität zum römischen Pietas-Begriff im Sinne der Loyalität gegenüber gesellschaftlichen Strukturen und Gegebenheiten und einem entsprechend angemessenen Verhalten habe, umschreibe der Begriff im 2 Tim und im Tit die christologisch begründete Lebenshaltung.


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V. 4


Beobachtungen:Tetyphôtai“ ist ein Perfekt Passiv und bedeutet wörtlich übersetzt „aufgebläht worden“ oder „hochmütig gemacht worden“. Dabei weist das Perfekt auf die besondere Bedeutung für die Gegenwart hin. Und das Passiv macht deutlich, dass sich der Irrlehrer nicht selbst aufgebläht hat und nicht durch eigene Aktivität hochmütig geworden ist, sondern dass er aufgebläht bzw. hochmütig gemacht worden ist. Dabei bleibt offen, wer ihn aufbläht bzw. hochmütig gemacht hat. Ist es Gott? Oder ist es der Teufel (vgl. 3,6)? Möglich ist auch ein mediales Verständnis der Verbform „tetyphôtai“. Bei einem solchen hätte sich der Irrlehrer selbst aufgebläht. „Tetyphôtai“ kann auch „mit Rauch erfüllt“ bedeuten. Der Irrlehrer wäre demnach benebelt (im Deutschen würde man in diesem Zusammenhang eher „verblendet“ sagen). Wer benebelt ist, ist nicht mehr fähig, die Realität richtig wahrzunehmen. Die richtige Wahrnehmung der Realität ist aber für die Lehre unerlässlich. Wer benebelt ist, ist zu keiner Erkenntnis fähig und weiß somit nichts.


Der Irrlehrer ist krank. Das haben wir existenziell zu verstehen, nicht nur körperlich oder geistig. Die Krankheit ist ein heilloser Zustand, und zwar hinsichtlich der ganzen Existenz, die auch das Jenseits, das Leben nach dem Verscheiden aus dem irdischen Leben, umfasst.


Der heillose Zustand wird zunächst durch einen Mangel bewirkt, nämlich durch die fehlende heilsame Wirkung „der gesunden Worte unseres Herrn Jesus Christus und der der Frömmigkeit entsprechenden Lehre“. Darüber hinaus ist er aber auch durch „Krankmacher“ bewirkt, nämlich durch „zêtêseis“ und „logomachiai“. „Zêtêseis“ bedeutet „Nachforschungen“, „Untersuchungen“ oder „(Streit-)Fragen“, wobei hier wohl die Übersetzung „Kontroversen“ am besten passt. Diese werden durch Hochmut, Vernebelung (oder: Verblendung) und fehlendes Wissen verursacht. Eine solch miserable Diskussionsgrundlage führt zu verschiedenen Meinungen und Lehren, die eins gemeinsam haben: Sie sind alle von Fragen über Fragen und Grübeleien geprägt. Und weil den Irrlehrern alles so unklar und verworren erscheint, kommen sie auf keinen gemeinsamen Nenner und es entstehen „logomachiai“, also „Wortgefechte“. Aus dem Begriff geht hervor, dass es sich um eine Art Kampf um die richtige Meinung und Lehre handelt. Das Bittere daran ist, dass keine der Meinungen und Lehren richtig ist. Das Ergebnis der ganzen Kontroversen und Wortgefechte ist eine vergiftete Stimmung. Diese führen zu einer Schwächung des menschlichen Geistes und damit auch zu einer Schwächung des menschlichen Körpers, was Krankheiten mit sich bringen kann. Zum Heil führen sie jedoch nicht, weder im Diesseits noch im Jenseits.


„Paulus“ zählt nun auf, was die vergiftete Atmosphäre prägt. Allen Begriffen, die aufgezählt werden, liegen Kontroversen und Wortgefechte zugrunde. Das ist insbesondere im Hinblick auf den „Streit“ („eris“; einige Textzeugen lesen „ereis“, also „Streitereien“) eine wichtige Feststellung. Kontroversen und Wortgefechte entstehen nämlich eigentlich erst, wenn Zwietracht herrscht. Mit dem „Streit“ muss also etwas anderes gemeint sein als die Zwietracht, aus der Kontroversen und Wortgefechte hervorgehen. Vermutlich haben wir den „Streit“ im Sinne von einer „dicken Luft“ zu verstehen, wie sie nach nervenaufreibenden Kontroversen und Wortgefechten herrscht und die Anwesenden nach Sauerstoff lechzen lässt. Wenn verschiedene Irrlehrer und Irrlehren miteinander im Streit liegen, dann herrscht zwischen ihnen Konkurrenz. Jeder versucht den größten Einfluss zu gewinnen und die meisten Anhänger um sich zu scharen. Wenn jemand mehr Einfluss und Anhänger als der nächste hat, dann entstehen Neid und Missgunst. Diejenigen Irrlehrer, die sich und ihre Irrlehre im Hintertreffen sehen, können nicht mit Wissen und klarem Verstand punkten, sondern müssen ihre Konkurrenten schlechtmachen. Sie fangen an zu lästern und üble Verdächtigungen auszustoßen. So könnte jemand lästern, dass die Gefolgschaft eines Konkurrenten ja mehrheitlich der Unterschicht angehört und dumm ist. Oder jemand könnte lästern, dass der Konkurrent ja nur deswegen die Massen anzieht, weil er so hochgestochen redet. Jemand könnte auch die Verdächtigung ausstoßen, dass sein Konkurrent seine Anhänger besticht. Oder er könnte seinen Konkurrenten bezichtigen, dass er nur deswegen mehr Anhänger als die anderen hat, weil er – offen oder insgeheim - immer schlecht über die anderen Irrlehrer redet. Auch überlegene Irrlehrer können sich über die unterlegenen lustig machen: Sie können tönen, dass die Unterlegenen so wenige Anhänger haben, weil ihre Lehre so schlecht ist, weil sie die hebräische Bibel falsch deuten, weil sie rhetorisch nichts drauf haben usw. Und auch sie können üble Verdächtigungen ausstoßen, z. B. dass jemand geistig krank ist, oder dass jemand irgendwelche Verfehlungen begangen hat.


Weiterführende Literatur: Mit den Lasterkatalogen in den Pastoralbriefen befasst sich R. F. Collins 2011, 7-31. Bei dem Lasterkatalog handele es sich um eine literarische Form, die oft von den antiken Moralphilosophen – insbesondere von den Stoikern und Kynikern - verwendet worden sei. Der Lasterkatalog zähle eine Vielzahl von Lastern auf, um diejenigen zu diskreditieren, deren Lebensstil die Moralphilosophen kritisierten. Auch in den Pastoralbriefen fänden sich Lasterkataloge (1 Tim: 5; 2 Tim: 1; Tit: 2). Entscheidend sei die Wirkung der gesamten Aufzählung, nicht die Bedeutung einzelner Laster. Von den vielen in den Pastoralbriefen aufgezählten Lastern handelten nur zwei von der Sexualität. Diese würden jeweils nur einmal erwähnt. Die Verfasser der Pastoralbriefe seien mehr an persönlichen Qualitäten als an abstrakten moralischen Aspekten interessiert. Meist seien die Laster als Adjektive oder Partizipien formuliert, seltener als Nomen.


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V. 5


Beobachtungen: Es stellt sich die Frage, ob das „fortwährende Gezänk“ („diaparatribai“) zur Aufzählung gehört, oder ob es nicht vielmehr eine Zusammenfassung dessen ist, was das Verhalten und die Stimmung der Irrlehrer untereinander prägt. Geht man von ersterer Möglichkeit aus, dann lautet die Übersetzung „Aus ihnen entstehen Neid, Streit, Lästerungen, üble Verdächtigungen [und] fortwährendes Gezänk von Leuten, die …“. Auf dem „fortwährenden Gezänk“ würde als ein Glied der Aufzählung kein besonderes Gewicht liegen. Es würde sich die Frage stellen, was – abgesehen von der betonten Fortdauer – das „Gezänk“ von dem „Streit“ unterscheidet und warum es nicht direkt auf den „Streit“ folgt. Insofern ist letztere Möglichkeit wahrscheinlicher. Zwei Punkte werden wohl hervorgehoben: Erstens, dass das Verhalten und die Stimmung der Irrlehrer untereinander von Gezänk geprägt sind; zweitens, dass dieses Gezänk fortdauert. Und das kann auch gar nicht anders sein, wie die nachfolgende Beschreibung der Persönlichkeit der Irrlehrer deutlich macht.


Gemäß „Paulus“ ist die Persönlichkeit der Irrlehrer davon geprägt, dass sie „in der Gesinnung verdorben und der Wahrheit beraubt sind und meinen, dass Frömmigkeit [nichts weiter als] eine Einnahmequelle sei“. „Paulus“ nennt also drei Punkte, die den Irrlehrern eigen sind.

Der erste Punkt ist, dass sie in der Gesinnung verdorben sind. Was die richtige Gesinnung wäre, wurde in V. 3 deutlich gemacht, nämlich „sich den gesunden Worten unseres Herrn Jesus Christus und der [der] Frömmigkeit entsprechenden Lehre zuwenden“. Das tun die Irrlehrer nicht und deshalb ist ihre Gesinnung verdorben. Durch was oder von wem ihre Gesinnung verdorben ist, wird nicht gesagt, spielt für die Aussage aber auch keine Rolle. Zusätzlich zur Bedeutung „Gesinnung“ kann der Begriff „noos/nous“ auch die Bedeutungen „Verstand“, „Denkkraft“ oder „Einsicht“ haben. Demnach kann man auch sagen, dass die Irrlehrer einen zerrütteten Verstand haben, dass ihre Denkkraft schwach ist und es ihnen an Einsicht mangelt. Andernfalls würden sie ja verstehen, dass es richtig wäre, „sich den gesunden Worten unseres Herrn Jesus Christus und der [der] Frömmigkeit entsprechenden Lehre zuzuwenden“ und einsichtig sein.

Der zweite Punkt ist, dass die Irrlehrer der Wahrheit beraubt ist. Nun könnte man sich die Frage stellen, was denn die „Wahrheit“ ist. Für „Paulus“ stellt sich diese Frage nicht, weil für ihn das Evangelium und die damit zusammenhängende Lehre die „Wahrheit“ sind. Die „gesunden Worten unseres Herrn Jesus Christus und die [der] Frömmigkeit entsprechende Lehre“ dürften sich auf das Evangelium und die damit verbundene rechte Lehre beziehen.

Der dritte Punkt ist, dass die Irrlehrer meinen, dass Frömmigkeit nichts weiter als eine Einnahmequelle sei. Aus diesem Vorwurf können wir schließen, dass die Irrlehrer ihre Lehren entgeltlich vermittelten. Dabei ist jedoch unklar, ob der Vorwurf ist, dass die Irrlehrer für ihre Lehre Geld nehmen, oder ob der Vorwurf ist, dass es ihnen eigentlich nur um eine Erwerbsquelle geht und der Inhalt der Lehre zweitrangig ist. Wenn es sich um einen Vorwurf handelt, dann muss sich das Verhalten der rechten christlichen Lehrer von dem Verhalten der Irrlehrer unterscheiden. Die rechten christlichen Lehrer nehmen also entweder überhaupt kein Geld oder sie nehmen zwar Geld, messen diesem aber keine Bedeutung bei, weil es ihnen auf die rechte Lehre ankommt. Sehen wir „Paulus“ in den theologischen Fußstapfen des Paulus, dann dürfte sein Verhältnis zur entgeltlichen Verkündigung und Lehre ambivalent sein. Zum einen kommt der Verbreitung des Evangeliums und der Sicherung der rechten Lehre höchste Bedeutung zu. Insofern hat Paulus für sich kein Entgelt gefordert und ist wohl auch davon ausgegangen, dass auch andere Missionare dem Beispiel folgen sollten. Andererseits war ihm bewusst, dass auch Missionare von etwas leben und ihren Unterhalt bestreiten müssen. Paulus selbst hat sich seinen Lebensunterhalt mit den Händen verdient und daher unentgeltlich predigen und lehren können. Neben der Handarbeit hat er predigen und lehren können und hat für diese Tätigkeit seinen Lohn im Himmel gesehen. Aber in allen Phasen seiner missionarischen Tätigkeit wird Paulus das Handwerk nicht möglich gewesen sein. Außerdem konnte er schwerlich bei allen Missionaren die gleichen Lebensumstände voraussetzen. Und schließlich musste er auch die besonderen Härten des missionarischen Dienstes berücksichtigen. Insofern hat er die Meinung vertreten, dass den Missionaren der ihnen gebührende Unterhalt zustehe (zur ambivalenten Einstellung gegenüber Unterhalt für die missionarische Tätigkeit siehe insbesondere 1 Kor 9,14-18). Wie auch immer dieser beschaffen war: Der Unterhalt der Missionare musste auf irgendeine Weise gesichert werden, aber nie durfte die missionarische Tätigkeit dem reinen Gelderwerb dienen. Der 1 Tim spiegelt Entwicklungen hinsichtlich der Gemeindeleitung der nachpaulinischen Zeit wider. Im Grunde folgt er der Linie des Paulus: „Paulus“, der Verfasser des 1 Tim, verlangt nicht, dass die Gemeindeleitung unentgeltlich erfolgt. Ganz im Gegenteil: Er macht deutlich, dass den Ältesten eine Vergütung zusteht. Und für gute Gemeindeführung sieht er eine „doppelte Vergütung“ vor (vgl. 5,17-18). Aber eine Vergütung ist noch kein Lohn, keine Erwerbsquelle an sich. Eine Vergütung ist vom finanziellen und zeitlichen Umfang her begrenzter. Sie geht davon aus, dass der eigentliche Broterwerb anderweitig erfolgt. Wenn Paulus den Irrlehrern vorwirft, sie würden die Frömmigkeit als Einnahmequelle betrachten, dann wirft er ihnen vor, dass sie eine Tätigkeit, die dem Grunde nach ein Ehrenamt ist, zu einem Job machen. Aber „Paulus“ ist sich bewusst, dass das Streben nach Geld eine Eigenschaft vieler Menschen ist. Und er hat Sorge, dass die Gemeindeleitung ebenfalls zu einer Einnahmequelle, zu einem Job umfunktioniert wird. Deshalb schärfte er ein, dass die Ältesten nicht geldgierig sein sollen und die Diakone nicht gewinnsüchtig (vgl. 3,3.8).


Die Worte des „Paulus“ klingen wie ein Tatsachenbericht. Sie klingen so, als würden sich die rechten christlichen Lehrer und ihre Lehre glanzvoll von den verruchten Irrlehrern und ihren Irrlehren abheben. Tatsächlich handelte es sich aber bei der (rechten) christlichen Lehre nur um eines von vielen Angeboten auf dem religiösen „Markt der Möglichkeiten“ der Antike, auch wenn es zunehmend an Bedeutung gewann. Jede Lehre dürfte sich als wahr verstanden haben. Auch dürfte jede Lehre von sich behauptet haben, besser als die anderen zu sein. Nicht nur die Irrlehren standen in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, sondern auch die aus Sicht des „Paulus“ rechte christliche Lehre war von dem Konkurrenzverhältnis nicht ausgenommen. Den Worten des „Paulus“ haftet also eine gewisse Polemik an, mit dem Ziel, die rechte christliche Lehre zu bewahren und auf dem religiösen „Markt der Möglichkeiten“ durchzusetzen. Weil „Paulus“ die rechte christliche Lehre für heilsrelevant hielt, war ihm – ebenso wie zuvor Paulus - ihre Bewahrung und Durchsetzung ein Herzensanliegen.


Weiterführende Literatur: Bei einer ausführlichen Betrachtung des gesamten 1 Tim und einzelner Passagen wie 3,1 und 5,17-25 zeige sich laut E. Tamez 2004, 558-578, dass die Kritik an den reichen Gemeindemitgliedern nicht aus der Luft gegriffen sein könne. Hinter ihr stehe etwas, das den historisch-cholerischen Diskurs hervorruft. Nach ihrer Ansicht gebe es in der Gemeinde, von der die Reichen, insbesondere die reichen Frauen, ein wesentlicher Teil seien, Schwierigkeiten mit Machtkämpfen. So sehe der Verfasser des 1 Tim die Macht und den Einfluss von Frauen, insbesondere von reichen Frauen (und Männern) auf die christliche Gemeinde als Problem an. Zu 6,3-10: Die Reichen lehrten nach Ansicht des Verfassers des 1 Tim Vorstellungen, die den Worten Jesu fremd sind, oder stünden in Beziehung zu Lehrenden mit solchen Auffassungen oder unterstützten diese.


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V. 6


Beobachtungen: „Paulus“ streitet nicht ab, dass Frömmigkeit eine Einnahmequelle ist, aber er macht deutlich, dass sie nicht als finanzielle Einnahmequelle zu verstehen ist. Vielmehr handele es sich um eine geistliche Einnahmequelle. Auch wenn es hier nicht so deutlich steht, scheint hier der Gedanke zugrunde zu liegen, dass man sich mit der Frömmigkeit einen Schatz im Himmel erwirbt. Es ist kein Schatz an Geld und irdischen Gütern, sondern er ist ein Schatz, der für ewiges Heil steht. Einen solchen Schatz erwirbt – aus materialistischer Sicht ein Paradox -, wer genügsam ist.


Weiterführende Literatur: S. Bénétreau 2008, 49-60 legt dar, dass sich die beiden Abschnitte 6,6-10 und 6,17-19, in denen es jeweils um Reichtum geht, hinsichtlich Adressaten, Art der Rede, Tonfall und Schwerpunktsetzungen voneinander unterscheiden. Die Kernaussage sei jedoch dieselbe: Habgier stellt für alle, die reich werden möchten oder es schon sind, eine Falle dar. Das, was zähle, seien die Ausrichtung des Herzens und die Prioritäten, die sich der Mensch setzt. Für den Reichen stelle sich darüber hinaus die Frage, wofür das Geld eingesetzt wird.


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V. 7


Beobachtungen: In V. 7 macht „Paulus“ deutlich, warum irdische Genügsamkeit angemessen und sinnvoll ist: Dabei dürfte sich „in die Welt hineinbringen“ auf die Geburt beziehen, „aus der Welt hinausbringen“ auf den Tod. Bei der Geburt kommen wir nackt, ohne alles, auf die Welt, und bei unserem Tod scheiden wir ohne alles aus der Welt. Weder Geld noch materielle Güter können wir mitnehmen. Das ist für einen Menschen, dem es um das ewige Heil und nicht um materiellen Wohlstand auf Erden geht, eine wichtige Tatsache.


Weiterführende Literatur:


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V. 8


Beobachtungen:Diatrophê“ kann „Lebensunterhalt“ oder „Nahrung“ bedeuten, „skepasma“ „Decke“ oder „Kleidung“. Da beide Begriffe zusammen wohl das Lebensnotwendige meinen, liegt die Übersetzung „Nahrung und Kleidung“ nahe. Mit dem Lebensnotwendigen ist wohl auch der Maßstab gegeben, wonach sich die Vergütung für die Ältesten bemessen soll. Es soll das Lebensnotwendige gesichert sein. Ob allein die Vergütung das Lebensnotwendige abdecken soll, ist fraglich, weil eine „doppelte Vergütung“ für gute Gemeindeleitung deutlich über der Abdeckung des Lebensnotwendigen liegen würde. Vielleicht ist vorausgesetzt, dass die Ältesten noch einen zusätzlichen Verdienst haben. Dann könnte die Vergütung ein kleines Zubrot sein, die „doppelte Vergütung“ zur Abdeckung des Lebensnotwendigen reichen. Die Fragen, die sich bezüglich Verdienst, Vergütung und Belohnung von Leistung auftun, lassen erkennen, wie schwer es sich gestaltete und auch heute noch gestaltet, geistliche Arbeit angemessen materiell zu vergelten. „Paulus“ geht bezüglich der Ältesten vom Prinzip der „Genügsamkeit“ („autarkeia“) aus.


Weiterführende Literatur: Mit 6,5-10 und speziell dem Begriff „autarkeia“ („Genügsamkeit“) im Rahmen antiker philosophischer Diskurse befasst sich F. E. Brenk 1990, 39-50. „Autarkeia“ sei ein hinreichend gut definierter philosophischer Begriff gewesen, auch wenn das, was die „autarkeia“ ausmacht, von Schule zu Schule unterschiedlich definiert worden sei. Zudem sei zwischen materiellen und moralischen Dingen zu unterscheiden. Die Verbindung von „eusebeia“ („Frömmigkeit“) und „autarkeia“ („Genügsamkeit“) finde sich zuerst bei Paulus. Zuvor sei „autarkeia“ mit anderen Begriffen verbunden worden. Die ungewöhnliche Verbindung seitens des Paulus habe auf die Kirchenväter Einfluss gehabt.


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V. 9


Beobachtungen: Was bedeutet „reich“? Wie ist „reich“ zu definieren? Ist jemand, der ein großes Haus hat, reich? Ist vielleicht schon jemand reich, der ein kleines Haus hat, immerhin nicht in einer Wohnung wohnt? Oder wie steht es mit Schmuck oder kostbaren Gegenständen? Ist ein Mensch reich, der viel Schmuck und viele wertvolle Gegenstände besitzt? Und wenn es nur eine wertvolle Kette ist? Und ab welchem Geldbesitz gilt ein Mensch als reich? Auf alle diese Fragen lässt sich kaum eine klare Antwort finden. Aber um eine klare Antwort scheint es „Paulus“ auch gar nicht zu gehen. „Reich“ ist auf jeden Fall für ihn ein Mensch, der (deutlich?) mehr als nur Nahrung und Kleidung hat. Wichtiger als eine Definition des Reichtums ist das Wollen, das Streben nach mehr. Wer reich sein will, strebt besonders stark nach mehr. Das ist das glatte Gegenteil von Genügsamkeit. „Paulus“ macht deutlich, dass das Streben nach mehr, nach „Reichtum“, nicht mit einem kirchlichen Leitungsamt vereinbar ist.


Das Streben nach mehr seitens religiöser Lehrer - speziell der Irrlehrer - führt diese in „Versuchung und Schlinge“. Was ist mit dieser etwas merkwürdig anmutenden Formulierung gemeint? Die „Versuchung“ dürfte als Versuchung zu verstehen sein, wie sie von Geld und materiellem Besitz ausgeht. Wer der Versuchung erliegt, strebt weniger nach Verbreitung des Evangeliums oder nach Stärkung der Gemeinde im Glauben als vielmehr nach Geld und materiellem Besitz. Verkündigung und Lehre dienen schließlich nur als Mittel zum Zweck, und zwar zum Zweck der Mehrung von Geld und materiellem Besitz. Wer der Versuchung erliegt, hat schwerwiegende Folgen zu tragen, gerät in eine Schlinge. Das griechische Wort für „Schlinge“ ist „pagis“. Wie haben wir uns die „Schlinge“ vorzustellen? Dem griechischen Wort „pagis“ mag das hebräische Wort „räschät“ zugrunde liegen (vgl. Röm 11,9). „Räschät“ bezeichnet ein Fangnetz, das über das zu erbeutende Tier, z. B. einen Vogel, geworfen wird. Dieses Fangnetz ist ein Bild für das göttliche Gericht. Das erbeutete Tier hat den Tod, mindestens Gefangenschaft zu erwarten, also Unheil. So ergeht es auch dem religiösen Lehrer, der nach Geld und materiellem Besitz strebt: Er hat Unheil zu erwarten, nämlich die Verurteilung bei dem göttlichen Gericht. In 1 Tim 3,7 bringt „Paulus“ die Schlinge mit dem Teufel in Verbindung, wobei der Teufel zugleich als Ankläger und Richter erscheint. Der Teufel kann sich also freuen, wenn ein religiöser Lehrer der Versuchung des Geldes und materiellen Besitzes erliegt.


Sowohl „olethros“ als auch „apôleia“ bedeutet „Verderben“. Haben beide Begriffe eine unterschiedliche Bedeutungnuance, vielleicht „materielles Verderben“ und „geistliches Verderben“, oder wird eine Sache mit zwei Begriffen ausgedrückt (= Hendiadyoin; „hen dia dyoin“ = „eins durch zwei“)? In letzterem Fall könnte eine Betonung des Verderbens vorliegen. Bei der Deutung hilft das Verb „bythizô“ („stürzen“) weiter, das genau genommen „versenken“ bedeutet. Das Verderben wird also mit Wasser, Untergang und Tod in Verbindung gebracht. Ein solches Untergangsszenario dürften die antiken Menschen am ehesten mit der Schifffahrt in Verbindung gebracht haben, zumal in der Hafenstadt Ephesus. In Bezug auf das Versenken eines Schiffes taucht das Verb „bythizô“ auch in den anderen beiden Vorkommen Lk 5,7; 2 Makk 12,4LXX auf. Ein Schiff konnte samt seiner Besatzung durch ein Unwetter oder Klippen versenkt werden. Bei diesem Bild aus der Seefahrt wird deutlich, dass sowohl verschiedene Bedeutungsnuancen als auch Betonung des Verderbens vorliegen können. Das Schiff samt seiner Ladung stellte nämlich wertvollen Besitz dar. Wenn das Schiff samt seiner Ladung unterging, war das ein herber materieller Verlust. Und wenn auch die Besatzung ertrank, war das ein Verderben, das die ganze Existenz betraf und den Tod von Menschen mit sich brachte. „Paulus“ geht es sicherlich in erster Linie um das existenzielle Verderben, nämlich das ewige Verderben, das keine Auferstehung von den Toten und/oder Aufnahme in den Himmel kennt. Darüber hinaus mag er aber auch verdeutlichen, dass wir nichts aus der Welt hinausbringen können (vgl. V. 7). All das Geld und der Besitz haben keinen Nutzen, wie das Schiff mit der wertvollen Ladung, das versenkt wird und die Besatzung mit in den (ewigen) Tod reißt.


Weiterführende Literatur:


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V. 10


Beobachtungen: Im altgriechischen Text findet sich vor „Wurzel“ („rhiza“) kein bestimmter Artikel. Damit heißt es nicht ausdrücklich „Die Wurzel aller Übel“. Insofern liegen zunächst einmal die Übersetzungen „Wurzel aller Übel“ oder „Eine Wurzel aller Übel“ nahe. Letztere Übersetzung befördert aber das Missverständnis, dass es sich nur um eine Wurzel neben anderen handele. Die Aussage des Textes ist aber offensichtlich, dass die Geldgier die Wurzel allen Übels schlechthin ist. Insofern gibt die Übersetzung „[Die] Wurzel allen Übels“ am besten den Sinn des Textes wieder.

„Allen Übels“ ist wohl nicht wörtlich zu nehmen, in dem Sinne, dass ausnahmslos alle Übel auf Geldgier zurückzuführen sind. Wenn beispielsweise ein Mensch aufgrund von Bluthochdruck jähzornig ist, dann ist der Bluthochdruck die Wurzel des Übels Jähzorn. Geldgier muss nicht unbedingt eine Rolle spielen. Aber „Paulus“ ist nicht daran gelegen, seine Aussage mit Ausnahmen abzuschwächen. Vielmehr geht es ihm darum, die grundsätzlichen Folgen der Geldgier zu verdeutlichen: Geldgier wirkt sich grundsätzlich übel aus, und zwar in allen Bereichen des Lebens.


Nicht alle, die der Geldgier anhängen, sind vom Glauben abgeirrt, sondern nur „manche“. Zunächst einmal ist anzumerken, dass mit „Glaube“ der rechte Glaube gemeint ist, also der christliche Glaube, der dem Evangelium entspricht, wie es von Paulus verkündigt und gelehrt wurde und nun von dem Verfasser des 1 Tim weitergegeben wird. Man kann darüber streiten, ob der Verfasser des 1 Tim tatsächlich durchgehend auf der Linie des Apostels Paulus liegt; aus Sicht des Verfassers des 1 Tim ist das unzweifelhaft so und somit bezeichnet er sich selbst als „Paulus“ (vgl. 1,1). Es geht dem Verfasser des 1 Tim nicht um die Aussage, dass alle Geldgierigen vom rechten Glauben abfallen oder bereits vom rechten Glauben abgefallen sind, sondern darum, dass die Irrlehrer (= „einige/manche“) von Geldgier getrieben und daher vom rechten Glauben abgefallen sind. Und wenn sie vom rechten Glauben abgefallen sind, dann bedeutet das, dass sie einst dem rechten Glauben angehangen haben. Es handelt sich bei den Irrlehrern also um Christen, die nicht (mehr) die rechte christliche Lehre verbreiten. Dabei bleibt offen, ob „Paulus“ sie noch als Christen ansieht. Auf jeden Fall sind sie für ihn keine rechten Christen mehr. Offen bleibt auch, ob sich die Irrlehrer selbst noch als Christen ansehen. Sie können ihre eigene Lehre als die wahre christliche Lehre ansehen oder sich nicht mehr als Christen ansehen. In ersterem Fall würden sie weiter als Christen auftreten, in letzterem nicht.


Wörtlich übersetzt lautet der Schluss von V. 10 „sie haben sich mit vielen Schmerzen durchbohrt“. Wie ist das zu verstehen? Wer sich das eigene Fleisch durchbohrt, tut dies mit einem spitzen oder scharfen Gegenstand, nicht aber mit „vielen Schmerzen“. „Viele Schmerzen“ entstehen, wenn sich der spitze oder scharfe Gegenstand ins Fleisch bohrt. Insofern durchbohrt man sich nicht mit „vielen Schmerzen“, sondern man fügt sich „viele Schmerzen“ zu. Nun ist aber die Frage, ob in V. 10 das Substantiv „odynê“ überhaupt „Schmerz“ bedeutet. Als weitere Bedeutungen kommen „Leid“ und „Qual“ infrage. Geben wir diesen Bedeutungen den Vorzug, dann ergibt sich für den Schluss von V. 10 die Übersetzung „… und haben sich selbst viel Leid bereitet/zugefügt“ oder „… und haben sich selbst viele Qualen bereitet/zugefügt“. Die Verwendung der Zeitform Aorist weist darauf hin, dass wir es mit einem Geschehen zu tun haben, das in der Vergangenheit liegt und abgeschlossen ist. Es geht also wohl nicht darum, dass die Geldgier selbst dauerhaft Schmerzen/Leid/Qualen (seelischer Art) bereitet, sondern der Glaubensabfall ist Grund für Schmerzen/Leid/Qualen. Es geht also um die Folgen des Glaubensabfalls für die ganze Existenz der Irrlehrer und vielleicht auch ihrer Anhänger. Aufgrund des Glaubensabfalls haben sich die Irrlehrer aus der heilvollen Machtsphäre Christi ausgeschlossen und haben daher ewiges Verderben statt ewiges Heil zu erwarten. Das dürfte mit „viel Leid“ bzw. „großes Leid“ gemeint sein. Ob mit dem ewigen Verderben auch körperliche oder seelische Schmerzen verbunden sind oder Qualen, wie sie in der Hölle zu erwarten sind, ist unklar. Es wird nicht weiter geschildert, wie wir uns das Verderben vorzustellen haben, und von der Hölle ist nicht die Rede.


Weiterführende Literatur: Die doppelte (6,6-10; 6,17-19) Einarbeitung der Problematik des Reichtums in den Schlussteil des 1 Tim gebe gemäß P. Dschulnigg 1993, 60-77 dieser Thematik ein großes Gewicht. Die Bedeutung werde noch verstärkt durch die Beziehung des Themas auf die Mitte wahrer Frömmigkeit im Sinne der Pastoralbriefe. Das Problem von Genügsamkeit und Reichtum sei kein Randthema des 1 Tim, es gehöre vielmehr ins Zentrum des theologischen Denkens des Verfassers, auch wenn er es derart ausdrücklich erst im Schlussteil zur Sprache bringe. Außerdem falle auf, dass die Pastoralbriefe insgesamt eindringlich das Tun guter Werke fordern. Diese würden ganz praxisnah und alltäglich verstanden; auch mache der Kontext mehrfach deutlich, dass damit materielle Hilfe und Unterstützung angesprochen ist.

Auch Y. Redalié 2000, 153-161 betont das besondere Gewicht, das der Verfasser des 1 Tim dem Thema Reichtum gebe. Er geht der Frage nach, ob die Reichen in der Gemeinde ihren Platz haben, und unter welcher Bedingung sie ihn haben. 1 Tim 6 zeige, dass der Verfasser des 1 Tim der in der antiken Welt verbreiteten Weisheit anhänge, insbesondere der kynisch-stoischen Tradition und der Weisheit Israels. Die beiden vom Verfasser des 1 Tim formulierten Antworten stünden zueinander in einer Spannung und würden zum Nachdenken anregen. Im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit den Irrlehrern fordere er eine strenge Genügsamkeit, die sich an den Grundbedürfnissen ausrichte. Im Hinblick auf die Minderheit der Reichen fordere er das Teilen des Reichtums und Streben nach der wahren Einnahmequelle im Hinblick auf das wahre Leben.



Literaturübersicht


Bénétreau, Samuel; La richesse selon 1 Timothée 6,6-10 et 6,17-19, ETR 83/1 (2008), 49-60

Brenk, Frederick E.; Old wineskins recycled: "Autarkeia" in I Timothy 6,5-10, FN 3/5 (1990), 39- 50

Collins, Raymond F.; How Not to Behave in the Household of God, LS 35/1-2 (2011), 7-31

Dschulnigg, Peter; Warnung vor Reichtum und Ermahnung der Reichen. 1 Tim 6,6-10.17-19 im Rahmen des Schlußteils 6,3-21, BZ 37/1 (1993), 60-77

Herzer, Jens; "Das Geheimnis der Frömmigkeit" (1 Tim 3,16). Sprache und Stil der Pastoralbriefe im Kontext hellenistisch-römischer Popularphilosophie - eine methodische Problemanzeige, ThQ 187/4 (2007), 309-329

Malherbe, Abraham J.; Godliness, Self-Sufficiency, Greed, and the Enjoyment of Wealth. 1 Timothy 6:13-19. Part I, NT 52/4 (2010), 376-405

Malherbe, Abraham J.; Godliness, Self-Sufficiency, Greed, and the Enjoyment of Wealth. 1 Timothy 6:13-19. Part II, NT 53/1 (2011), 73-96

Mihoc, Vasile; The Final Admonition to Timothy (1 Tim 6,3-21), in: K. P. Donfried [ed.], 1 Timothy Reconsidered (Colloquium Oecumenicum Paulinum 18), Leuven 2008, 135-152

Neumann, Nils; Kein Gewinn = Gewinn: Die kynisch geprägte Struktur der Argumentation in 1 Tim 6:3-12, NT 51/2 (2009), 127-147

Redalié, Yann; „Infatti l’amore del denaro è la radice di tutti i mali“ (1 Tm 6,10). L’uso dei beni secondo le Epistole Pastorali (1 Tm 6,3-10.17-19), PSV 42 (2000), 153-161

Tamez, Elsa; Die reichen Frauen und die Machtkämpfe im ersten Timotheusbrief, in: F. Crüsemann u. a. [Hrsg.], Dem Tod nicht glauben, FS L. Schottroff, Gütersloh 2004, 558-578

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