1 Kor 10,23 - 11,1
Übersetzung
1 Kor 10,23 - 11,1: 23 Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist förderlich; alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. 24 Niemand suche das Seine, sondern [jeder] das des anderen. 25 Alles, was auf dem Markt verkauft wird, könnt ihr essen, ohne wegen des Gewissens Nachforschungen anzustellen. 26 Des Herrn nämlich ist die Erde und ihre Fülle. 27 Wenn euch einer von den Ungläubigen einlädt und ihr hingehen wollt, so könnt ihr alles essen, was euch vorgesetzt wird, ohne wegen des Gewissens Nachforschungen anzustellen. 28 Wenn aber jemand zu euch sagt: "Das ist Opferfleisch“, [dann] esst nicht [davon] mit Rücksicht auf den, der den Hinweis gab, und auf das Gewissen. 29 Mit dem Gewissen aber meine ich nicht das eigene, sondern das des anderen. Denn warum sollte meine Freiheit von einem anderen Gewissen gerichtet werden? 30 Wenn ich mit Dank genieße, weshalb sollte ich gescholten werden, wofür ich danke? 31 Ob ihr also esst oder trinkt oder sonst was tut, tut alles zur Ehre Gottes! 32 Erregt keinen Anstoß, weder bei Juden noch bei Griechen noch bei der Gemeinde (des) Gottes, 33 so wie auch ich allen in allem zu Gefallen lebe, indem ich nicht meinen eigenen Nutzen suche, sondern den der Vielen, damit sie gerettet werden. 1 Werdet meine Nachahmer, wie auch ich Christi [Nachahmer bin]!
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Beobachtungen: V. 23 greift 6,12 auf. Paulus’ Aussage, dass alles erlaubt sei, scheint jedoch 10,14-22 zu widersprechen, wonach Christen ja gerade nicht an heidnischen Kultmählern teilnehmen sollen, weil sie sonst zu "Genossen der Götzen“ werden. Ist also anzunehmen, dass das Wort "alles“ Ausnahmen nicht ausschließt? Oder sollte man noch weiter gehen und sagen, dass der Erste Korintherbrief aus verschiedenen Briefen zusammengesetzt ist oder gar nichtpaulinische Einschübe enthält?
Paulus sagt zwar, dass nicht alles förderlich ist, doch sagt er nicht, für wen nicht alles förderlich ist. Das folgende Verb "aufbauen“ lässt an die Gemeinde denken, die es aufzubauen gilt. Was genau unter "aufbauen“ zu verstehen ist, bleibt offen. Das Verb enthält jedoch die Aspekte der Vergrößerung und Stabilität bzw. Stabilisierung.
Weiterführende Literatur: Eine Auslegung von 10,23-11,1 bietet D. Newton 1998, 371-382, der die Meinung vertritt, dass gewöhnlich in zu geringem Maße der griechisch-römische Hintergrund der Diskussion um das Essen von Götzenopferspeise beachtet werde. Zu bedenken sei die Komplexität der Debatte hinsichtlich der mehrdeutigen Begrifflichkeit, der Grenzfragen und der unterschiedlichen Auffassungen.
J. F. M. Smit 1997, 377- 388 fragt nach der Funktion des Abschnitts 10,23-11,1. Bisher seien im Wesentlichen drei Meinungen vorgebracht worden: a) Es handele sich um eine Wiederholung von 8,1-13, die den gesamten Abschnitt 8,1-11,1 abschließt. b) Es handele sich um eine Zusammenfassung, in der Paulus kurz Rückschau über die gesamte Abhandlung über Götzenopfer hält. c) Es handele sich um einen Anhang, um eine abschließende Anmerkung. J. F. M. Smit hält alle diese Vermutungen für unpassend und vertritt stattdessen die Meinung, dass 10,23-11,1 mögliche Einwände vorwegnehme und widerlege. Eine solche Vorwegnahme folge meist der eigentlichen Argumentation und gehe der abschließenden Zusammenfassung unmittelbar voraus.
Mit dem Verb "aufbauen“ ("oikodomein“) in V. 23 befasst sich eingehend I. Kitzberger 1986, 85-97.
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Beobachtungen: Paulus lehnt Ich-Fixierung, das Suchen des eigenen Nutzens ab, eben weil es nicht "aufbaut“, sondern Zwietracht und Instabilität fördert. Stattdessen sollen Christen den Nutzen des anderen suchen. Wer der andere ist, sagt Paulus nicht. Am ehesten ist an andere Gemeindeglieder zu denken, doch ist nicht ausgeschlossen, dass auch auf Nichtchristen Rücksicht genommen werden soll.
Weiterführende Literatur: W. L. Willis 1985, 232-233 vertritt die Ansicht, dass sowohl V. 24 als auch die V. 28-33 an die Starkgläubigen gerichtet seien.
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Beobachtungen: Paulus sagt, dass die Christen alles, was auf dem Markt verkauft wird, essen können. Bei dem Markt handelt es sich um einen allgemeinen Markt ("macellum/makellos“), der in einer überdachten Säulenhalle stattfand, und auf dem neben anderen Dingen auch Fleisch angeboten wurde.
Wenn ein korinthisches Gemeindeglied auf einem solchen Markt einkaufen geht, so weiß er nicht, was von heidnischen Opfern stammt und was nicht. Er soll auch nicht nachforschen, damit er das Verspeisen des Gekauften auch mit dem Gewissen, der kritisch urteilenden Instanz, vereinbaren kann. Wenn der christliche Käufer nicht weiß, dass das Gekaufte von heidnischen Opfern stammt, so wird er auch nicht zum "Genossen der Götzen“. Im Gegensatz zu der in 10,14-22 geschilderten Situation kommt er ja nicht mit dem heidnischen Kult in Kontakt.
Weiterführende Literatur: Eine Auslegung von 10,25-11,1 bietet D. Newton 1998, 375-382.
D.-A. Koch 1999, 194-219 befasst sich kritisch mit der These, dass eine Unterscheidung zwischen Götzenopferfleisch, also aus heidnischen kultischen Schlachtungen stammendes Fleisch, und "normalem“ Fleisch nicht angebracht sei, weil man im Fleischmarkt (macellum) sowieso nur Götzenopferfleisch habe bekommen können. Zur Beantwortung der Frage untersucht er, ob der oftmals als Beleg für diese These herangezogene Fleischmarkt von Pompeji tatsächlich als das Beispiel eines römischen Fleischmarktes gelten kann. D.-A. Koch stellt unterschiedliche Gebäudetypen vor, deren Grundrisse auch abgebildet sind, und fragt nach der Funktion der Fleischmärkte. Dann geht er den religiösen Elementen des Gebäudetyps macellum und der Frage kultischer Schlachtungen nach. Für Korinth stelle sich der Sachverhalt wie folgt dar: Nicht nur durch die Bemerkung des Paulus in 1 Kor 10,25, sondern auch durch Inschriften sei die Existenz eines Fleischmarktes grundsätzlich gesichert. Die bisherigen, noch unvollständigen Ausgrabungen hätten jedoch zu keinem wirklich sicheren Ergebnis geführt. Erster Anwärter für die Identifizierung eines Fleischmarktes sei immer noch die sog. Nordagora. Sowohl in Korinth als auch an anderern Orten sei das Fleisch, das zum Verkauf kam, von unklarer Herkunft gewesen, der Fleischmarkt in Pompeji sei ein Ausnahmefall.
D. W. J. Gill 1992, 389-393 legt dar, dass sich die Existenz eines "Fleischmarktes“ ("macellum/makellos“) zwar aus der fragmentarischen Macellum-Inschrift erschließen lasse, nicht jedoch aus der Loukios-Inschrift. Erstere Inschrift besage, dass − wahrscheinlich in der Regierungszeit des Kaisers Augustus - Mitglieder der örtlichen sozialen Oberschicht in Korinth einen Fleischmarkt gestiftet haben. Die Loukios-Inschrift, die "Loukios Lanios“ (oder auch: Kanios) laute, müsse nicht als "Loukios, der Fleischer“ übersetzt werden. Lese man "Loukios Kanios“, so könne man "Kanios“ als Namensbestandteil ansehen oder auch als Toponym, das auf die Herkunft aus der Stadt Kana hinweise. Das Aussehen des Fleischmarktes müsse daraus erschlossen werden, was man von antiken Fleischmärkten an anderen Orten weiß. W. L. Willis 1985, 229 meint, dass es in einer Stadt von der Größe Korinths vermutlich mehrere "macella“ gegeben habe.
Mit der sozialen Oberschicht in Korinth befasst sich D. W. J. Gill 1993, 323-337, der knapp auf Gerichtshöfe, Kopfbedeckungen, Gruppenbildung beim Herrenmahl, Christen als Wohltäter, das "Haus“ des Stephanas und auf Einladungen zum Abendessen eingeht.
Ausführlich auf die Bedeutung des griechischen Begriffs syneidêsis ("Gewissen“) geht P. W. Gooch 1987, 244-254 ein.
A. T. Cheung 1999, 108-164 vertritt die Ansicht, dass nicht nur die aktive Teilnahme am heidnischen Opferkult negativ bewertet werde, sondern auch das Essen von mit diesem Opferkult verbundenen Nahrungsmitteln. Nicht nur das Essen in Götzentempeln, sondern das Essen jeglicher mit Götzenkult verbundenen Speise, auch wenn sie auf dem Markt gekauft wurde, werde von Paulus als Sünde betrachtet. Denn einerseits veranlasse es die "Schwachen“ zum Straucheln, andererseits mache es die Korinther Christen zu Partnern der Dämonen. Paulus verlange zwar nicht, dass die Adressaten nach der Herkunft der Lebensmittel fragen, doch sollten sie sich von diesen enthalten, sofern klar sei, dass sie mit der Götzenverehrung im Zusammenhang stehen.
W. Schrage 1996, 13-27 macht sich aus neutestamentlicher Sicht Gedanken zum Thema "Totaler Markt und Menschenwürde“. Auf S. 21 geht er auch auf 1 Kor 10,25 ein. Demnach sei christliche Freiheit nicht libertär-libertinistisch. Wenn Fleischgenuss einem Schwachen zum Anstoß wird, gelte es zu verzichten.
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Beobachtungen: Paulus begründet die christliche Freiheit mit einem Zitat von Ps (23/)24,1 LXX. Der "Herr“ - vermutlich ist Jesus Christus gemeint - ist demnach "Herr“ über die Erde und ihre Fülle. Zur Erde und ihrer Fülle gehören auch sämtliche auf dem Markt angebotenen Dinge. Die Götzen kommen nicht in den Blick. Sie sind eben nicht "Herren“, sondern unbedeutend.
Mit Ps 24,1 begründeten die Rabbinen, dass niemand essen solle, bevor er eine Segnung gesprochen hat (vgl. TosBer IV,1).
Weiterführende Literatur: A. Lindemann 1996, 216-217 fragt nach der Funktion des wörtlichen Zitats von Ps (23/)24,1a LXX in 1 Kor 10,26. Seiner Ansicht nach begründe es die unmittelbar vorausgegangene Aussage von V. 25. Der durch das Zitat eingeführte Gedanke sei entweder, dass das auf dem Markt zu Kaufende von vornherein keine religiöse Qualität besitzt, also profan ist, insofern es einfach zur "Erde und ihrer Fülle“ gehört; oder das zitierte Psalmwort werde im Gegenteil streng wörtlich genommen, so dass gesagt wäre, dass Gott (oder Christus) "die Erde und ihre Fülle“ in seiner Hand hat. A. Lindemann tendiert zur ersten Möglichkeit hin.
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Beobachtungen: Paulus verbietet nicht Kontakte zwischen Heiden und Juden, denn er weiß, dass diese in einer multireligiösen Gesellschaft nicht zu vermeiden sind.
Wenn ein Christ von einem Heiden zum Mahl eingeladen wird, ist die Situation ähnlich wie auf dem Markt: Auch diesmal weiß der Christ nicht, was von heidnischen Opfern stammt und was nicht. Wiederum soll er auch nicht nachforschen, um sein Gewissen zu beruhigen, sondern darf alles essen, was aufgetischt wird. Auf diese Weise kommen dem Götzenopfer und den Götzen keine Aufmerksamkeit zu und es wird auch Zwietracht mit dem heidnischen Gastgeber vermieden.
Offen bleibt, wohin die Einladung erfolgt, denn das Mahl kann im Tempelgebäude (vgl. 8,10), im Haus des Gastgebers oder auch an einem anderen Ort stattfinden.
Weiterführende Literatur: Einen Forschungsüberblick über die Frage, wo und bei welcher Gelegenheit das Mahl stattfindet, bietet W. L. Willis 1985, 235-240. Die wesentlichen drei Forschungsmeinungen seien: a) Es handele sich um ein kultisches Mahl im Anschluss an eine heidnische Opferzeremonie, das in einem der Räume des Tempelkomplexes stattgefunden habe (vgl. 8,10; 10,14-21). b) Es handele sich um eine Mahlzeit in einem privaten Haus. c) Es handele sich um eine gleichsam religiöse, gemeinschaftliche Mahlzeit an einem Kultort, die jedoch nicht mit einer heidnischen Opferzeremonie verbunden sei.
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Beobachtungen: Eine besondere Lage tritt ein, wenn jemand ausdrücklich darauf hinweist, dass es sich bei dem aufgetischten Fleisch um Opferfleisch handelt.
Wer mag den Hinweis geben? Zunächst ist an den Gastgeber zu denken, der ja am besten in seiner Küche Bescheid weiß, dann aber auch an einen anwesenden nichtchristlichen Gast oder auch an einen christlichen Gast. Es fällt auf, dass der Hinweisgeber nicht den abwertenden Begriff "Götzenopferfleisch“ ("eidôlothyton“), sondern den positiven Begriff "(heiliges) Opferfleisch“ ("hierothyton“) benutzt. Das lässt annehmen, dass er ein Heide ist, aber es kann auch sein, dass ein christlicher Gast positiv formuliert, um nicht den heidnischen Gastgeber und andere anwesende Heiden zu verletzen.
Paulus kommt es nicht in erster Linie darauf an, wer die Information gibt, sondern dass sie gegeben wird.
In dem besonderen Fall der Information soll der eingeladene Christ nicht vom Fleisch essen. Zunächst einmal soll er im Hinblick auf den Hinweisgeber Verzicht üben. Wenn auf den Hinweisgeber Rücksicht genommen werden soll, so ist daraus zu schließen, dass diesem wichtig ist, dass der Eingeladene zumindest informiert ist, vielleicht auch seine Konsequenzen daraus zieht. Der Hinweisgeber ist also für religiöse Problemstellungen durchaus sensibilisiert. Aber warum soll auf ihn Rücksicht genommen werden? Zwei Möglichkeiten lassen sich anführen: Entweder will er nicht, dass ein Christ das heilige Opferfleisch entheiligt, indem dieser davon isst. Dann hätte der Hinweis "Das ist Opferfleisch“ die Funktion, dem christlichen Gast deutlich zu machen, dass dieses Fleisch nicht für ihn bestimmt ist. Es kann aber auch sein, dass der Hinweisgeber stark verwundert und irritiert wäre, wenn der christliche Gast trotz der Information essen würde. Er könnte ihm vorwerfen, dass er seinen eigenen Glauben nicht ernst nimmt.
Weiterführende Literatur: Die Frage, wer der Informant ist, diskutiert W. L. Willis 1985, 240-243. Er hält den Sachverhalt aufgrund der nur bruchstückhaft vorliegenden Informationen für unklar.
D. Newton 1998, 175-257 befasst sich mit Gestalt und Funktion von Nahrungsmitteln im kultischen Zusammenhang und geht dabei auch auf die entsprechende Begrifflichkeit ein. Der vorchristliche griechische Begriff "hierothytos/n“ beziehe sich auf etwas, das einer Gottheit geweiht oder geopfert ist. Der jüdische bzw. christliche Begriff "eidôlothyton“, der in der vorpaulinischen Literatur nicht auftauche (Ausnahme: 4 Makk LXX; unsichere Datierung) sei dagegen von anti-heidnischer, polemischer Natur: die von Heiden verehrten Götter würden als "Götzen“ abqualifiziert, (Vgl. die Übersetzung "Opferfleisch“ für "hierothyton“ und "Götzenopferfleisch“ für "eidôlothyton“).
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Beobachtungen: Nicht nur auf den Hinweisgeber soll der christliche Gast Rücksicht nehmen, sondern auch auf das Gewissen. Paulus macht sogleich deutlich, dass es nicht um sein eigenes Gewissen geht, sondern um das des "anderen“. Wer der "andere“ ist, bleibt offen. Es kann sich zwar um den Hinweisgeber handeln, doch würde Paulus dann zwischen dessen Person und Gewissen unterscheiden. Das wäre eine merkwürdige Doppelung. Ein Possessivpronomen, das deutlich macht, dass es sich um das Gewissen des Hinweisgebers handelt, fehlt - wie auch in V. 25.27, wo allerdings trotzdem der Bezug auf den christlichen Marktbesucher bzw. Eingeladenen klar ist. So wie in V. 29 vom Gewissen die Rede ist, scheint es an keine bestimmte Person gebunden zu sein; es kann im Prinzip jeder haben. Vielleicht ist diese Offenheit von Paulus beabsichtigt. Wichtig ist ihm die Rücksichtnahme auf den Hinweisgeber (und möglicherweise sein Gewissen) und auf das Gewissen jeder beliebigen (anderen) anwesenden Person. Diese kann Christ oder auch Nichtchrist sein, wobei Paulus im Ersten Korintherbrief jedoch nur dann das Gewissen erwähnt, wenn er von Christen spricht (vgl. 8,7-13; 10,25.27). Das spricht eher für einen Bezug nur auf Christen.
Paulus spricht im Hinblick auf sich selbst von "Freiheit“, im Hinblick auf den anderen von "Gewissen“. Wenn er selbst frei ist, so darf er trotz der warnenden Information auch das Opferfleisch essen. Ein "Gewissen“ kann nicht eine fremde "Freiheit“ richten, sondern kann nur eigenes Handeln beurteilen.
Weiterführende Literatur: Laut T. Söding 1994, 69-92 scheine der Götzenopferstreit, den der Apostel in 1 Kor 8-10 zu schlichten versucht, auf den ersten Blick eine Nebensächlichkeit zu sein, die allenfalls von historischem Interesse ist. Bei näherem Zusehen gebe er sich aber als Paradigma paulinischer Ethik zu erkennen, das von überraschender Aktualität ist. Es gehe um einen Konflikt zwischen "progressiven“ und "konservativen“ Kräften in einer christlichen Gemeinde; es gehe um das Verständnis und den Gebrauch christlicher Freiheit; es gehe um die Frage, wie sich Christen in einer synkretistischen Umwelt verhalten sollen; und es gehe um das Problem, wie sich eine ethische Norm im Evangelium begründen lässt.
Die Frage, wie die V. 29b-30 zu interpretieren sind, behandelt W. L. Willis 1985, 246-250. Die Meinungen ließen sich in drei Gruppen aufteilen: a) Es handele sich um einen Einwand der starkgläubigen Christen gegen die Beschränkungen seitens des Paulus. b) Der schwachgläubige Christ werde dazu angehalten, keinen Vorteil aus der Nachsicht des starkgläubigen Christen zu ziehen. c) Es handele sich bei den Fragen um weitere Ausführungen der Gründe des Paulus für zurückhaltendes Essverhalten.
Um die Absicht der Fragen herauszufinden, analysiert D. F. Watson 1989, 301-318 den literarischen und rhetorischen Kontext der Fragen und − unter rhetorischen Gesichtspunkten − auch den unmittelbaren Zusammenhang 10,23-11,1. Danach werden bisher vorgebrachte Erklärungen für die Fragen vorgestellt und einer kritischen Bewertung unterzogen. Abschließend wird auf verschiedene Typen rhetorischer Fragen eingegangen.
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Beobachtungen: Paulus spricht nun vermutlich - das "Ich“ betonend - aus der Sicht eines "starken“ Gläubigen. Dieser ist sich bewusst, dass es nicht darauf ankommt, was er isst, sondern in welcher geistigen Haltung er isst. Wenn er beim Genießen des Fleisches - oder jeglichen anderen Speise - dankt, dann kann er dafür nicht gescholten werden.
Wahrscheinlich bezieht sich der Dank darauf, dass des "Herrn“ die Erde und ihre Fülle ist, samt Opferfleisch. Diese Aussage würde 8,7-13 entsprechen, nicht jedoch 10,14-22, wo das Essen von heidnischem Opferfleisch verboten wird. Lässt sich die Diskrepanz damit begründen, dass in 10,14-22 von einem engeren Bezug des Mahles mit dem heidnischen Opferkult ausgegangen wird?
Paulus sagt nicht, von wem er gescholten werden könnte. In Frage kommt jede beim Mahl anwesende Person, gleich ob Christ oder Nichtchrist. Im Falle eines Nichtchristen kann es sich jedoch nur um einen "Glaubensschwachen“ handeln (vgl. 8,7-13). Dieser würde nämlich davon ausgehen, dass für einen Christen auch wesentlich ist, was er isst. Ein Heide könnte Paulus dafür schelten, dass er seinen eigenen Glauben nicht ernst nimmt.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Paulus geht nun zu den Forderungen über. Er vertritt zunächst die Sicht eines "starken“ Gläubigen: Christen ist es erlaubt, alles zu essen, doch sollen sie es mit der richtigen geistigen Haltung tun und Gott ehren. Zu dieser Ehre Gottes gehört sicherlich auch der Dank. Die Achtung auf die rechte Haltung ist nicht nur beim Essen wesentlich, sondern auch beim Trinken und sonstigen Tun.
Weiterführende Literatur: Eine Auslegung von 10,31-11,1 findet sich bei W. L. Willis 1985, 250-257.
E. de la Serna 1990, 85-98 versucht zu zeigen, dass Paulus von dem befreiungstheologischen Dreischritt des "sehen-urteilen-handeln“ Gebrauch gemacht habe. Nachdem sich Paulus einem Problem, das die Gemeinde beschäftigt, gegenübergestellt sieht (> sehen), gehe er dazu über, dieses vom christlichen Glauben her zu analysieren, indem er das AT und die Worte Jesu heranzieht. Auf dieser Grundlage arbeite er ein theologisches Urteil aus, von dem aus er dann Antworten auf das gestellte Problem suche (> urteilen). Von hier aus nun versuche Paulus für die Gemeinde annehmbare Schlussfolgerungen zu ziehen (vgl. 1 Kor 10,14.31; 11,27.33), indem er sie zu einem veränderten Leben ruft (> handeln).
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Beobachtungen: Alles zur Ehre Gottes zu tun ist aber nur eine Forderung, die Paulus sogleich durch eine zweite Forderung ergänzt: Christen sollen keinen Anstoß erregen, weder in der eigenen Gemeinde, in der es ja auch Glaubensschwache gibt, noch bei Juden und Griechen. Damit nennt Paulus drei Gruppen, mit denen Christen in Korinth in erster Linie in Kontakt kamen; es fehlen allerdings die Römer, die in der römischen Veteranenkolonie Korinth zahlreich vertreten gewesen sein dürften. Möglicherweise stehen die "Griechen“ für alle Heiden, mit denen die korinthischen Gemeindeglieder in Kontakt kommen; die Römer und orientalischen Einwohner wären in dem Fall mitgemeint.
Die "Gemeinde (des) Gottes“ umfasst im engeren Sinne die christliche Gemeinde in Korinth, im weiteren Sinne die gesamte Kirche.
Die Betonung der Rücksichtnahme auch gegenüber Juden und Heiden lässt die religiösen Spannungen im antiken Korinth erahnen. Den Juden erschienen die Christen als irregeleitete Abtrünnige, die einen am Kreuz gestorbenen und damit verfluchten Juden als Messias verehrten, die Heiden hielten die Christen für eine jüdische Splittergruppe, die einen politischen Aufrührer verehrten und die heidnischen Götter und den Kaiserkult ablehnten. Da ist es naheliegend, dass Paulus daran gelegen war, die Christenfeindlichkeit nicht weiter zu schüren..
Weiterführende Literatur: D.-A. Koch 1998, 35-54 fragt danach, wie die christliche Gemeinde hinsichtlich des Essens von Götzenopferfleisch eine für Juden und Griechen gleichermaßen akzeptable Verhaltensweise entwickeln können, wo doch gerade in dieser Frage die Differenz besonders stark war: die Juden vermieden im Gegensatz zu den heidnischen Griechen jeden Kontakt mit Götzenopferfleisch. Hat Paulus nicht eben noch (V. 28) die Anweisung gegeben, sich von der Praxis der nichtchristlichen Umwelt zu distanzieren? Ergebnis: Es gehe für Christen nicht darum, sich der jeweiligen (extrem entgegengesetzten) Haltung gegenüber dem Götzenopferfleisch anzuschließen, zumal ja gleichzeitig auch noch jeder Anstoß für die "Gemeinde Gottes“ vermieden werden solle. Die Gemeinde habe sich so an der Ehre Gottes zu orientieren, dass sie nach außen keinen (nach diesem Maßstab!) berechtigten Anstoß bieten kann. Mit der Orientierung an der Ehre Gottes sei ein in positiver Weise identitätsstiftendes Gesamtverständnis wirksam.
A. Lindemann 1996, 63-96 macht den Versuch, die in Korinth zur Zeit des Paulus gegebene Lebenswirklichkeit der christlichen Gemeinde und der zu ihr gehörenden Menschen zu rekonstruieren. Zugleich wird danach gefragt, welches die ekklesiologischen Voraussetzungen sind, von denen her Paulus mit Hilfe seiner Briefe diese Lebenswirklichkeit zu beeinflussen, ja zu verändern versucht hat. Im Anschluss an methodologische Überlegungen zum Umgang mit den Quellen stellt A. Lindemann die inneren Strukturen der korinthischen Gemeinde dar und beschreibt dann die in den Paulusbriefen erkennbare Einbindung der korinthischen Christen in ihre nichtchristliche Umwelt. Dabei wird die enge Verflochtenheit der Christen mit der nichtchristlichen Welt betont.
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Beobachtungen: Paulus stellt sich selbst als Vorbild dar. Dabei erscheint sein Anpassungsbemühen radikalstmöglich: Er lebt nicht nur allen zu Gefallen, sondern auch in allem. Die offensichtlichen Schwierigkeiten einer solchen Haltung erwähnt er an dieser Stelle nicht.
Paulus nennt sogleich den Grund für sein Verhalten. Es geht ihm nicht um eigenen Nutzen - wie immer der auch beschaffen sein mag -, sondern um den Nutzen der vielen. Konkret heißt dies: Paulus möchte viele retten, wobei sicherlich die Rettung im Jüngsten Gericht bei der Wiederkunft Christi im Blick. Paulus bestimmt nicht näher, wer "die vielen“ sind. Eine Begrenzung auf die Kirche der Christen ist sicherlich nicht angemessen, weil die Mission ja über die Christengemeinde hinaus weist und die Bekehrung der Juden und Heiden zum Ziel hat (vgl. 9,19-23). Da Paulus will, dass möglichst alle Menschen bekehrt werden, dürften mit "den vielen“ alle Menschen gemeint sein. Dass er dennoch statt von "allen“ von "vielen“ spricht, dürfte damit zusammenhängen, dass er auch Ablehnung seiner Predigt erfahren hat und weiß, dass die Bekehrung aller Menschen Ziel und Wunsch ist, jedoch möglicherweise nicht Realität wird.
Die Anpassung ist insofern allen Menschen von Nutzen, als durch sie unnötige Schwierigkeiten und Widerstände bei der Ausbreitung des Evangeliums vermieden werden. So wird ermöglicht, dass alle Menschen das Evangelium hören und es annehmen können.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Die Adressaten sollen Paulus’ Nachahmer werden. Paulus kennen viele korinthische Gemeindeglieder persönlich, Jesus Christus nicht. Daher kann Paulus ihnen mit seinem eigenen Glauben und seiner eigenen Lebensweise veranschaulichen, was es heißt, Jesus Christus nachzufolgen. Wer Paulus nachahmt, ahmt letztendlich auch Jesus Christus nach, denn Paulus versteht sich als Nachahmer Christi.
Weiterführende Literatur: Das Verhältnis von göttlicher Gnade und menschlicher ethischer Aktivität thematisiert J. B. Webster 1986, 95-120.
Zur Nachahmung Christi siehe O. Merk 1989, 172-206, der die Nachahmung nach paulinischem Verständnis durch Gehorsam und nicht durch ein hervorragendes sittliches Beispiel bestimmt sieht.
Enge thematische Parallelen zwischen 1 Kor 4,6-21 und 1 Kor 8,1-11,1 sieht C. E. Still 2004, 17-41: 4,6-7 // 8,1-3: Hochmut anderen Menschen gegenüber; 4,8 // 8,4-6: eschatologische Überheblichkeit; 4,9-13 // 8,13-9,27 (besonders 9,12b.15-18): das Muster für Nachahmung; 4,14.18-21 // 10,1-22 (besonders 10,11.22): Warnungen vor dem Gericht; 4,15-17 // 10,33-11,1: Aufforderung zur Nachahmung. In Kor 1-4 werde die theologische Grundlage der Antworten des Paulus auf die in 1 Kor 5-15 zur Sprache kommenden Probleme gelegt.
Literaturübersicht
[ Hier geht es zur Übersicht der Zeitschriftenabkürzungen ]
Cheung, Alex T.; Idol Food in Corinth: Jewish Background and Pauline Legacy (JSNT.S 176), Sheffield 1999
de la Serna, Eduardo, “Ver-Juzgar-Actuar” en San Pablo?, RBib 52 N. E. 38/2 (1990), 85-98
Gill, David W. J,; The Meat-Market at Corinth (1 Corinthians 10:25), TynB 43/2 (1992), 389- 406
Gill, David W. J.; In Search of the Social Elite in the Corinthian Church, TynB 44 (1993), 323-337
Gooch, Paul W.; “Conscience” in 1 Corinthians 8 and 10, NTS 33 (1987), 244-254
Kitzberger, Ingrid; Bau der Gemeinde: Das paulinische Wortfeld oikodomê, Würzburg 1986
Koch, Dietrich-Alex; "Seid unanstößig für Juden und für Griechen und für die Gemeinde Gottes“ (1 Kor 10,32). Christliche Identität im makellon in Korinth und bei Privateinladungen, in: M. Trowitzsch [Hrsg.], Paulus, Apostel Jesu Christi, FS G. Klein, Tübingen 1998, 35-54
Koch, Dietrich-Alex; "Alles, was En makellô verkauft wird,esst…“ Die macella von Pompeji, Gerasa und Korinth und ihre Bedeutung für die Auslegung von 1 Kor 10,25, ZNW 90,3-4 (1999), 194-219
Lindemann, Andreas; Die paulinische Ekklesiologie angesichts der Lebenswirklichkeit der christlichen Gemeinde in Korinth, in: R. Bieringer [ed.], The Corinthian Correspondence (BETL 125), Leuven 1996, 63-96
Lindemann, Andreas; Die Schrift als Tradition. Beobachtungen zu den biblischen Zitaten im Ersten Korintherbrief, in: K. Knackhaus u. a. [Hrsg.], Schrift und Tradition, FS J. Ernst, Paderborn 1996, 199-225
Merk, Otto; Nachahmung Christi. Zu ethischen Perspektiven in der paulinischen Theologie, in: H. Merklein [Hrsg.], Neues Testament und Ethik, FS R. Schnackenburg, Freiburg i. Br. − Basel − Wien 1989, 172-206
Newton, Derek; Deity and Diet: The Dilemma of Sacrificial Food at Corinth (JSNT.S 169), Sheffield 1998
Schrage, Wolfgang; Totaler Markt und Menschenwürde: Biblisch-theologische Reflexionen aus neutestamentlicher Sicht, in: R. Weth [Hrsg.], Totaler Markt und Menschenwürde: Herausforderungen und Aufgaben christlicher Anthropologie heute, Neukirchen-Vluyn 1996, 13-27
Smit, Joop F. M.; The Function of First Corinthians 10,23-30: A Rhetorical Anticipation, Bib. 78/3 (1997), 377-388
Söding, Thomas; Starke und Schwache − Der Götzenopferstreit in 1 Kor 8-10 als Paradigma paulinischer Ethik, ZNW 85/1-2 (1994), 69-92
Still, E. Coye; Divisions over Leaders And Food Offered to Idols: The Parallel Thematic Structures of 1 Corinthians 4:6-21 and 8:1-11:1, TynB 55/1 (2004), 17-41
Watson, Duane F.; 1 Corinthians 10:23-11:1 in the Light of Greco-Roman Rhetoric, JBL 108 (1989), 301-318
Webster, John B.; The Imitation of Christ, TynB 37 (1986), 95-120
Willis, Wendell Lee; Idol Meat in Corinth. The Pauline Argument in 1 Cor 8 and 10 (Society of Biblical Literature: Dissertation Series 68), Chico, California 1985