Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Erster Korintherbrief

Der erste Brief des Paulus an die Korinther

1 Kor 13,8-13

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

Wenn Sie diese Bibliographie zum ersten Mal nutzen, lesen Sie bitte die Hinweise zum Gebrauch.

Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

1 Kor 13,8-13

 

 

Übersetzung

 

1 Kor 13,8-13:8 Die Liebe wird niemals hinfällig. Prophetengaben - sie werden zunichte werden, Zungenreden - sie werden aufhören, Erkenntnis - sie wird zunichte werden. 9 Bruchstückhaft nämlich erkennen wir, und bruchstückhaft prophezeien wir. 10 Wenn aber das Vollkommene eintritt, [dann] wird das Stückwerk zunichte werden. 11 Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind, dachte ich wie ein Kind, überlegte ich wie ein Kind. Als ich [jedoch] ein Mann geworden bin, habe ich das Kindliche abgetan. 12 Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels auf rätselhafte Weise; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich ganz erkennen, wie ich auch ganz erkannt wurde. 13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe - diese drei; am größten aber von diesen ist die Liebe

 

 

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V. 8

 

Beobachtungen: Die Liebe ist gegenüber den Gnadengaben herausgehoben, weil sie niemals hinfällig wird. Die Liebe bleibt - keine Macht der Welt bringt sie zu Fall. Anders die göttlichen Gnadengaben: Sie werden alle aufhören bzw. zunichte werden.

Paulus zählt die Liebe nicht zu den Gnadengaben. In Liebe sollen die Gnadengaben ausgeübt werden (vgl. 1 Kor 12,31b - 13,7). Die von Paulus aufgezählten Gnadengaben stehen möglicherweise bei den Korinthern besonders hoch im Kurs, werden von diesen jedoch nicht in Liebe ausgeübt.

 

Weiterführende Literatur: Von der Beobachtung ausgehend, dass 1 Kor 13 den Gedankengang von 1 Kor 12-14 unterbricht, setzt sich W. O. Walker 1998, 484-499 mit der These auseinander, dass 1 Kor 12,31b-13,13 vermutlich eine nichtpaulinische Einfügung sei. Er diskutiert die einzelnen Argumente und kommt zu dem Ergebnis, dass diese These richtig sei. J. Corley 2004, 256-274 setzt sich kritisch mit der von W. O. Walker vorgebrachten Begründung auseinander. Weil der für sekundär gehaltene Abschnitt in den besonders alten und wichtigen Handschriften enthalten sei, lasse sich die These, wie W. O. Walker zugebe, textkritisch nicht begründen. Daher werde die Argumentation auf Beobachtungen zum Vokabular, Inhalt, zur Stellung, zur Form und zum Stil gegründet. Dabei würden jedoch drei entscheidende Aspekte übersehen, nämlich Anspielungen auf die Septuaginta, mögliche Einflüsse seitens der im Entstehen begriffenen Jesus-Tradition sowie eine Beeinflussung des Paulusbriefes durch den kulturellen Kontext. Eine gründliche Untersuchung dieser Aspekte lasse annehmen, dass Paulus tatsächlich Autor des für sekundär gehaltenen Textabschnittes ist, und erhelle darüber hinaus die paulinische Theologie.

 

J. G. Sigountos 1994, 246-260 geht der Frage nach, um welche Textgattung es sich bei 1 Kor 13 handelt. Ergebnis: Es handele sich um ein Enkomion/Encomium, eine Lobrede, wie sie von griechischen Rhetorikern benutzt worden sei, um Tugenden zu preisen. Ausführlich auf das Enkomion/Encomium geht O. Wischmeyer 1981, 195-198 ein, die auf den folgenden Seiten einen Überblick über verschiedene Thesen gibt, um welche Textgattung es sich handele (Auflistung: S. 205). O. Wischmeyer untersucht auf S. 205-223 selbst die Form von 1 Kor 13. Ergebnis: Der Form nach handele es sich bei dem Kapitel am ehesten um einen religiös-ethischen logos. Diese Charakteristik sei als literarhistorische Beschreibung im Umkreis spätjüdischer und nt. Literatur trotz ihrer Unschärfe erhellend. Diese Formbeschreibung gehe davon aus, dass es einerseits bei Paulus keine feste Formennomenklatur gibt, auf die er einfach zurückgreift, und dass wir in seinen Schriften nur eine einzige literarische Großform: den Brief, finden, dass aber andererseits seine Briefe ähnlich wie die Testamente, Lehrschriften, Apokalypsen etc. des Judentums Sammelbecken überlieferter, relativ fester Form-Inhalt-Komplexe sind.

J. F. M. Smit 1991, 193-216 geht der Gattungsfrage im Lichte antiker Rhetorik nach. Ergebnis: Der Stil, die Auswahl und Abfolge der erörterten Motive, die Mittel und die Zielsetzung der Strategie entsprächen eindeutig den Regeln, wie sich in Handbüchern im Hinblick auf das genus demonstrativum finden.

 

Eine Exegese von 1 Kor 13 bietet O. Wischmeyer 1981, 39-162.

 

T. Callan 1985, 125-140 befasst sich mit der Prophetie in der griechisch-römischen Religion und im Ersten Korintherbrief. Ergebnis: Paulus sei in einer ähnlichen Situation wie Philo von Alexandrien. Er werde mit einer Gemeinde konfrontiert, die nicht zwischen Zungenrede und Prophetie unterscheidet und davon ausgeht, dass Prophetie von Trance begleitet werde. Im Gegensatz dazu unterscheide Paulus beides sehr wohl. Er definiere Prophetie als etwas, was − anders als die Zungenrede - nicht von Trance begleitet wird. Er tue dies aufgrund seiner Treue zum AT und auch, weil es ihm erlaube, verstehbare inspirierte Rede zu fördern, die die Gemeinde erbaut.

 

Auf das Wortfeld der Liebe im paganen und biblischen Griechisch geht T. Söding 1992, 284-330 ein.

 

E. Cuvillier 2000, 349-362 geht davon aus, dass die Liebe gleichzeitig als Anfechtung des korinthischen Spiritualitätsverständnisses, neues Daseinsverständnis und eschatologischer Horizont des Lebens in Christus zu verstehen sei. In der paulinischen Vorstellung von der Liebe halle die Kreuzestheologie (vgl. 1 Kor 1,18-25) wider.

B. H. Young 1997, 106-113 legt dar, dass die in 1 Kor 13 thematisierte Liebe eng mit den Geistesbezeugungen der Kapitel 12 und 14 verbunden sei.

 

E. Stuart 1991, 264-266 greift die These von G. Shaw auf, dass das, was oftmals für eine Theologie der Liebe und Freiheit gehalten wird, in Wirklichkeit mit der Absicht geschrieben worden sei, die Leser dazu zu bringen, unterwürfig die Autorität des Schreibers zu akzeptieren. E. Stuart setzt an der Beobachtung an, dass G. Shaw sich neben Passagen des Markusevangeliums auch auf die paulinischen Briefe berufe, jedoch den Ersten Korintherbrief vernachlässige. Sie versucht zu zeigen, dass gerade 1 Kor 13 eine Passage mit höchst manipulativer Absicht sei: Ihre Botschaft sei, dass die Korinther nur durch Paulus die Liebe Gottes in Christus erfahren könnten, weil nur Paulus, jedoch kein anderer Lehrer, diese Liebe besitze. Kurz: Paulus sei die Liebe. Gegen diese These wendet sich C. J. Waters 1991, 75. Ihrer Meinung nach betone Paulus nicht seine eigene Autorität, sondern die Gleichheit der Missionare, seine grundlegende Schwachheit, die herausragende Stellung des Evangeliums und die herausragende Stellung Christi. Er müsse sich verteidigen, damit seine Lehre nicht untergraben wird.

 

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V. 9

 

Beobachtungen: Paulus legt dar, was für die Zeit vor dem Eintreten des Vollkommenen typisch ist: das Bruchstückhafte und damit Unvollkommene. Die Christen haben zwar Gnadengaben verliehen bekommen, können sie jedoch nur bruchstückhaft ausüben.

 

Weiterführende Literatur:

 

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V. 10

 

Beobachtungen: V. 10 besagt nur, dass das Stückwerk dem Vollkommenen weichen muss. Dass damit auch die Gnadengaben an sich aufhören und deren Ausübung damit nicht vervollkommnet wird, geht jedoch aus V. 8 hervor.

 

Der Ausdruck "to teleion“ bezeichnet sowohl das Ende als auch das Vollkommene. Wann das "Vollkommene“ hereinbricht und was darunter zu verstehen ist, bleibt offen. Am ehesten ist an die Wiederkunft Christi zu denken, mit der die unvollkommene Welt − und damit auch jegliche unvollkommene Geistesgabe - ein Ende findet. Eine dritte Bedeutung des Begriffs "to teleion“ leitet zu V. 11 über: Erwachsensein. Ein Kind befindet demnach sich in der unvollkommenen Entwicklungsphase, ein Erwachsener dagegen hat die vollkommene Entwicklung im Hinblick auf Geist und Körper erreicht. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass auch Erwachsene sich weiter entwickeln.

 

Weiterführende Literatur: W. A. Grudem 1982, 210-219 legt dar, dass die Prophetie bis zur Wiederkunft Christi andauere, jedoch nicht darüber hinaus. Ähnlich C. Roux 1985, 38-39.

R. F. White 1992, 173-181 vergleicht die Meinungen von W. A. Grudem 1988, 230-243 ("noncessationist argumentation“) und R. B. Gaffin 1979, 109-111 ("cessationist argumentation“) zur Erkenntnis und zum Ende der Prophetie. W. A. Grudem gehe davon aus, dass die Gabe der Prophetie so lange erhalten bleibe und der Kirche nutze, bis das Vollkommene eintrifft, also Jesus Christus wiederkehrt. R. B. Gaffin 1979 vertrete zwar im Gegensatz zu verschiedenen anderen Vertretern des "cessationist argumentation“ auch die Ansicht, dass das Eintreffen des Vollkommenen mit der Parusie Christi übereinstimmt (und nicht mit der Vollendung des nt. Kanons), doch sei damit nicht gesagt, dass die Gabe der Prophetie tatsächlich bis zur Parusie andauert. Zu bedenken sei nämlich, dass der unvollkommene Erkenntniszustand nicht an die Gabe der Prophetie gekoppelt ist. R. Fowler White unterstützt hinsichtlich der unbekannten Dauer der Gabe der Prophetie die Ansicht von R. B. Gaffin.

M. J. Houghton 1996, 344-356 legt dar, dass nicht jeder, der davon ausgeht, dass mindestens eine Geistesgabe gegenwärtig nicht mehr existiert ("cessationism“), sich zur Stützung der These auf 1 Kor 13,8-13 berufe. M. J. Houghton meint jedoch, dass der Text diese These durchaus stütze, sofern man V. 8 zum Ausgangspunkt der Auslegung mache. Ein Überblick über die verschiedenen Thesen, was unter dem Begriff "das Vollkommene“ zu verstehen ist, findet sich auf S. 349: a) die Vollendung des nt. Kanons; b) die Reife der Kirche am Ende des apostolischen Zeitalters; c) der Tod der Gläubigen und ihre unmittelbare Gegenwart bei dem "Herrn“ (vgl. 2 Kor 5,8); d) die Entrückung der Kirche; e) die Wiederkunft Christi; f) der ewige Zustand; f) das Eschaton samt den endzeitlichen Ereignissen.

 

W. Schrage 1998, 97-107 fragt nach dem, was "bleibt“ und was "hinfällt“, anders ausgedrückt, nach Kontinuität und Diskontinuität zwischen "Stückwerk“ und "Vollkommenem“. Wird in der eschatologischen Vollendung das gegenwärtig gegebene Fragmentarische komplettiert bzw. nur der unvollkommene Modus des schon Gegebenen überholt? Oder wird er grundsätzlich vom Kommenden abgelöst, so dass hier ein ähnlich radikaler Bruch zwischen Alt und Neu anzunehmen ist wie beim Übergang vom vorchristlichen zum christlichen Leben. W. Schrage sieht verschiedene Linien, die nicht leicht auf einen Nenner zu bringen seien. Paulus habe seine Eschatologie nicht systematisch ausgeformt. Paulus gehe davon aus, dass die eschatologische Wirklichkeit der Liebe inklusive Glaube und Hoffnung keine geschichtliche Grenze hat. Daneben träten aber auch Aussagen über das radikale Ende der pneumatisch-charismatischen Phänomene, die einen unübersehbaren Bruch mit aller Gegenwart markieren; positiv gewendet: Das kommende "Vollkommene“ sei ein Neuanfang nach einer Zäsur. Hinsichtlich dieser Vorstellung sei Paulus jedoch wiederum zu Abstrichen gezwungen.

 

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V. 11

 

Beobachtungen: Aus seiner eigenen Erfahrungswelt betrachtet Paulus nun die Kindheit unter dem Aspekt der Unvollkommenheit. Sein ganzes Reden, seine ganze Vorstellungswelt und sein ganzes Reflexionsvermögen waren kindlich und damit unvollkommen. Mit dem Übergang zum Mannesalter hat er jedoch das Kindliche und damit auch Unvollkommene abgetan. Wir Menschen, die wir vor dem Einbruch des Vollkommenen leben, befinden uns also im übertragenen Sinne noch in der Kindheit. Erst mit dem Einbruch der Vollkommenheit am Weltende erfolgt der Übergang ins Erwachsenenalter.

 

Weiterführende Literatur:

 

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V. 12

 

Beobachtungen: Paulus vergleicht nun das Sehen - und damit verbunden das Erkennen - vor dem Eintreten des Vollkommenen mit demjenigen nach dem Eintreten des Vollkommenen. Jetzt sehen wir wie mittels eines Spiegels. Damit ist zunächst einmal die Mittelbarkeit des Sehens verbunden. Wer in den Spiegel blickt, sieht nicht direkt, sondern nur auf indirektem Wege mittels des Spiegels. Damit ist das Sehen aber unvollkommen. In welchem Maße es unvollkommen ist, hängt von der Qualität des Spiegels ab und von dem Grad der Verschmutzung. Zu beidem sagt Paulus jedoch nichts.

 

Mit dem Eintritt des Vollkommenen erfolgt das Sehen auf direkte Weise, und zwar von Angesicht zu Angesicht. Das bedeutet: Die Erkenntnis wird vollkommen. Dies widerspricht aber genau genommen V. 8-10, wonach die Erkenntnis mit dem Eintritt des Vollkommenen aufhören wird. Damit ist eigentlich eine Vervollkommnung ausgeschlossen. Der Widerspruch lässt sich vielleicht damit lösen, dass Paulus in V. 8-10 menschliche Erkenntnis im Blick hat und diese - bewusst oder unbewusst - von der vollkommenen (göttlichen) Erkenntnis unterscheidet, so wie er auch menschliche und göttliche Weisheit nicht gleichsetzt (vgl. 1 Kor 2,6-16).

Was Paulus - er nennt sich wahrscheinlich stellvertretend für alle Christen, wobei die Nichtchristen nicht in den Blick kommen - schließlich vollkommen erkennt, bleibt offen. Auf jeden Fall steht Gott im Mittelpunkt, wie die Gegenseitigkeit des Erkennens nahe legt. Auch Gott hat Paulus bzw. die Christen erkannt, wobei die Zeitform Aorist ein in der Vergangenheit erfolgtes, einmaliges Erkennen vermuten lässt. Wie sollte Gott aber plötzlich zu der vollkommenen Erkenntnis bezüglich der Christen gelangt sein? Und: Warum steht das Verb nicht im Perfekt, wo doch sicherlich die vollkommene Erkenntnis Gottes anhält? Die Antwort mag lauten, dass es um ein erwählendes Erkennen geht. Die Gnadenwahl Gottes hat aus Heiden oder Juden Christen gemacht. Paulus sieht sich - wie alle anderen Christen auch - als erwählt an. Bei dieser Interpretation bleibt jedoch zu fragen, wieso Paulus das kognitive Erkennen mit dem erwählenden Erkennen in Zusammenhang bringt.

 

Wie kommt Paulus auf das Bild des Spiegels? Am wahrscheinlichsten ist, dass er Num 12,6-8 im Blick hat. Gemäß diesem Text genießt Mose das Privileg, mit Gott direkt kommunizieren zu können. Die Propheten dagegen müssen mit mittelbarer und damit auch rätselhafter Kommunikation in Visionen/Auditionen und Träumen vorlieb nehmen. Dabei heißt es in V. 8 (vgl. Textvariante zum masoretischen Text): "Mund zu Mund rede ich mit ihm in Gestalt, und nicht in Rätseln“. Dabei entspricht das hebräische Wort für "Gestalt“ demjenigen für "Spiegel“ - nur die (erst aus dem Mittelalter stammende) Punktation ist verschieden (mar’ä / mar’â). Ersetzt man in der Übersetzung von Num 12,8 das Wort "Gestalt“ durch "Spiegel“, so wird aus dem unmittelbaren Sehen ein mittelbares: Mose hätte dann nämlich nicht mit Gott von Angesicht zu Angesicht kommuniziert, sondern nur mittels eines Spiegels. Damit hätte er sich aber nicht von den Propheten unterschieden - es sei denn, man nimmt an, dass sein Spiegel einen klareren Blick als derjenige der Propheten ermöglichte.

 

Weiterführende Literatur: M. Johnson 1991, 222-237 gibt zunächst einen Überblick über die verschiedenen Auslegungen des Verses, die im Laufe der Jahrhunderte vorgebracht wurden. Dann legt er seinen eigenen, neuartigen Standpunkt dar, wobei er auf den Zusammenhang, die Bedeutung, den Wortlaut und die Struktur des Bildes eingeht. Zuletzt untersucht er, inwieweit es Übereinstimmung mit anderen ntl. Texten gibt. M. Johnson vertritt die Ansicht, dass der Vers mittels des Konzeptes des Doppelgängers, der in die Zukunft versetzt ist, interpretiert werden könne.

 

Laut E. G. Dafni 2009, 475-490 entwickele Paulus seine Gedanken zu äußerst dichten theologischen Aussagen mittels schöpferischer Zusammenziehung von alttestamentlichem Sprach- und Gedankengut aufgrund der Septuaginta (LXX). Für ein genaueres Verständnis dieses Sachverhalts sei 1 Kor 13,12 eine große Hilfe. Diesem Vers liege insbesondere Ex 33,11 zugrunde, der in den biblischen Büchern Numeri und Deuteronomium abgewandelt worden sei. Während Ex 33,11 das elementare Verhältnis zwischen Gott und Mose ("wie ein Freund zu seinem Freund spricht“) ausdrücke, gebe es an den übrigen Stellen einen größeren Abstand zwischen Gott und dem Angesprochenen. Paulus scheine in 1 Kor 13,12 der atl. Abwandlungsprozess der ursprünglichen Aussage im hebräischen Text sowie in der Septuaginta bewusst zu sein. Bei seinem eigenen Umformulierungsprozess gebe er aber Septuaginta-Mustern den Vorzug. In diesem Sinne gehe er schöpferisch mit dem sprachlichen und gedanklichen Gut aller atl. Belege um, mit dem Ziel, das Verhältnis von Gottesschau und Gotteserkenntnis möglichst präzise zu formulieren.

 

F. G. Downing 1984, 176-177 liest die Formulierung "wir sehen jetzt mittels eines Spiegels auf rätselhafte Weise“ auf dem Hintergrund der Umwelt des 1. Jhs. n. Chr., die oft nur ungenügend bei der Interpretation berücksichtigt werde.

 

C. Roux 1985, 38-39 macht deutlich, dass bei der Formulierung "auf rätselhafte Weise“ − entgegen der häufig vorgebrachten Vermutung − kaum unklare und schwer zu interpretierende Prophetien im Blick sein können, weil Paulus im folgenden Kapitel die Klarheit der prophetischen Rede betone. Vielmehr gehe es Paulus um die Begrenztheit der Prophetie angesichts der Tatsache, dass die vollkommene Einsicht noch aussteht.

 

Indem Paulus das Bild vom Spiegel verwendet, mache er sich laut H. W. Hollander 2010, 395-403 eine wohlbekannte hellenistische Metapher zu eigen, um den indirekten, teilweisen und unvollständigen Charakter der menschlichen Erkenntnis von Gott zu beschreiben. Die Formulierungen "auf rätselhafte Weise“ und "von Angesicht zu Angesicht“ seien atl. Beschreibungen von Moses einzigartiger Kommunikation mit Gott entnommen, wie sie sich in Num 12,8 und Dtn 34,10 finden. Paulus gehe davon aus, dass unsere zukünftige Erkenntnis Gottes dem einzigartigen und direkten Charakter von Moses Kommunikation mit Gott entsprechen werde.

 

M. Fishbane 1986, 63-75 befasst sich mit biblischen Texten, in denen sich das Bild vom Spiegel findet (v. a. Ez 43,3; Num 12,8; 1 Kor 13,12). Auf S. 73-74 widmet er sich konkret 1 Kor 13,12 (falsch: 13,8). Diesem Vers liege vermutlich nicht griechisches Gedankengut zugrunde, sondern eine midraschartige Auslegung von Num 12,8, speziell des Wortes mr’ ("Gestalt“, "Spiegel“). Paulus nehme die Zeit vorweg, in der wir Gott direkt, "von Angesicht zu Angesicht“ sehen. Die in Leviticus Rabba I.14 zitierten Rabbinen wiesen dagegen die Vorstellung einer direkten Schau Gottes zurück. Sie gingen davon aus, dass der höchste Grad der prophetischen Erkenntnis Mose zukomme; aber selbst Mose könne Gottes Angesicht nicht direkt schauen, sondern nur in einem klaren Spiegel.

 

R. Seaford 1984, 117-120 sieht zwar eine Beeinflussung des V. 12 durch Num 12,8, liest den Vers jedoch auf dem Hintergrund der Initiationsriten antiker Mysterienkulte.

 

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V. 13

 

Beobachtungen: Unklar ist, ob das "nun“ im logischen oder im zeitlichen Sinn zu deuten ist. Auch ist fraglich, wie das Verb "bleiben“ zu verstehen ist. Geht es um ein Bleiben im Sinne von Übrigbleiben/Verbleiben, oder ist ein Bleiben bis in alle Ewigkeit gemeint? Gegen letztere Deutung spricht, dass im griechischen Text nicht ausdrücklich von "bis in alle Ewigkeit“ die Rede ist. Außerdem würde sich die Frage stellen, was denn die Christen nach Eintritt des Vollkommenen glauben und was sie hoffen sollen. Ist das Glauben nicht in das Schauen und die Hoffnung in die Erfüllung übergegangen? Wahrscheinlicher ist also, dass ein Verbleiben in der jetzigen Zeit vor dem Eintritt des Vollkommenen gemeint ist. Es (ver)bleiben als grundlegende Geisteswirkungen im Leben der Christen in der jetzigen Zeit Glaube, Hoffnung und Liebe. Und weil alle Gnadengaben in Liebe ausgeübt werden sollen und die Liebe nicht vergeht, ist sie größer, d. h. höher zu schätzen, als Glaube und Hoffnung.

Der Glaube wird in 12,9 ausdrücklich als Gnadengabe genannt, die Hoffnung jedoch nicht. Das heißt aber nicht unbedingt, dass die Hoffnung keine Gnadengabe ist, denn Paulus scheint bei der Aufzählung der Gnadengaben keinen Wert auf die Vollständigkeit zu legen. Die Liebe gehört nicht zu den gewöhnlichen Gnadengaben, wie aus 14,1 hervorgeht. Sofern man davon ausgeht, dass auch sie von Gott gegeben ist, kann man sie als "höhere Geistesgabe“ bezeichnen.

 

War in 1 Kor 13,7 aufgrund des vorhergehenden Zusammenhangs unklar geblieben, ob sich das Glauben/Vertrauen und Hoffen in erster Linie oder gar nur auf die Besserung des Menschen im Umgang mit dem Nächsten bezieht, so ist in V. 13 ein solch enger Bezug unwahrscheinlich. Vielmehr ist hier das Glauben und Hoffen allgemeiner im Hinblick auf Gott bzw. die Trinität und das Heilsgeschehen und im Hinblick auf die endzeitlichen Ereignisse zu verstehen. Ein Bezug auf den zwischenmenschlichen Umgang ist aber möglicherweise eingeschlossen.

 

Weiterführende Literatur: J. Lambrecht 1994, 79-103 befasst sich mit folgenden Fragen: a) In welchem Maße hat Paulus 1 Kor 13 und den gesamten Rahmen 12-14 nach einem rhetorischen Muster strukturiert? Inwieweit ist 13,12 eschatologisch zu interpretieren? Bezüglich letzterer Frage würden seitens der Ausleger drei verschiedene Thesen vertreten: a) 13,8-13 beziehe sich nicht auf die Parusie und endzeitliche Vollendung (gemäß J. Lambrecht Minderheitenmeinung); b) nicht nur V. 8-12, sondern auch V. 13 sei eschatologisch zu interpretieren; c) die in den V. 8-12 thematisierte Liebe sei zwar unvergänglich und damit eschatologisch zu interpretieren, nicht jedoch V.13, wo es bei der Trias Glaube, Hoffnung und Liebe um Realitäten des gegenwärtigen Lebens gehe (u. a. von J. Lambrecht befürwortete These). Neben diesen Fragen befasst sich J. Lambrecht mit verschiedenen weiteren Aspekten des Textes. Zu den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten von V. 13 siehe auch O. Wischmeyer 1981, 144-147.

Eine detaillierte rhetorische und strukturelle Analyse von 1 Kor 13 bietet C. Focant 1996, 199-245, die sich dabei auch intensiv mit der Sekundärliteratur zur Frage, welche Funktion 1 Kor 13 im Rahmen der Kapitel 12-14 hat, auseinandersetzt. Auch C. R. Holladay 1990, 80-98 bietet eine rhetorische und strukturelle Analyse. Sie könne Form, Funktion und Inhalt von 1 Kor 13 erhellen.

 

W. Weiß 1993, 196-217 befasst sich mit der Trias Glaube − Liebe − Hoffnung. Zunächst führt er in die Fragestellung ein und wendet sich dann der Analyse von 1 Thess 1,3 und 5,8 zu. Im zweiten Teil macht er auf Anzeichen innerhalb des Ersten Thessalonicherbriefs aufmerksam, die auf eine breitere Verwendung der drei Begriffe über den Rahmen der Trias hinaus weisen können. Im dritten Teil geht er auf die Frage nach der Herkunft der Trias ein. Viertens entwickelt er das paulinische Verständnis der Trias im Ersten Thessalonicherbrief. Zum Schluss kommt er vom Ergebnis dieser Betrachtung aus auf 1 Kor 13,13 zurück. Ausführlich widmet sich auch T. Söding 1992, 104-144 der Trias im Ersten Korintherbrief.

Laut M. Stare 2003, 223-235 gelte die Trias Glaube, Hoffnung und Liebe als Summe des authentisch Christlichen. In Glaube, Hoffnung und Liebe kämen nach Paulus die entscheidenden Grundvollzüge des Christseins zum Ausdruck. Das bedeute, dass die Beziehungen der Christen zu Gott; Christus und den Mitmenschen gerade in Glaube, Hoffnung und Liebe zu erkennen sind. Dieser Ausrichtung der Menschen zu Gott, Christus und Mitmenschen gehe die Zuwendung Gottes und Christi zu den Menschen voraus. Dabei sei anhand von 1 Thess 1,3; 5,8; 1 Kor 13,13 der Frage nachzugehen, ob die paulinische Trias auch diese grundlegende Dimension, die in der Ausrichtung Gottes und Christi zu den Menschen bestehe, enthält. Ergebnis: In 1 Thess 1,3; 5,8 liege der Akzent auf der Hoffnung, die auf die Situation der Thessalonicher und ihre Erwartung der baldigen Parusie (Wiederkunft Jesu) ausgerichtet sei. Die Herkunft der handelnden Subjekte Glaube, Liebe und Hoffnung gehe auf Gott selbst zurück. In 1 Kor 13,13 liege der Akzent auf der Liebe. Die Darstellung der Liebe in 1 Kor 13 trage die Züge der Selbstmitteilung Gottes und seiner Liebe (vgl. Ex 34,6-7), die in Jesus Christus, in dessen Tod und Auferstehung, am deutlichsten sichtbar geworden seien und die für immer das Fundament für das Leben der Christen blieben.

 

R. G. Tanner 1982, 481-490 liest u. a. 1 Kor 13 auf dem Hintergrund der stoischen Philosophie.

 

 

Literaturübersicht

 

Callan, Terrance; Prophecy and Ecstasy in Greco-Roman Religion and in 1 Corinthians, NT 27 (1985), 125-140

Corley, Jeremy; The Pauline Authorship of 1 Corinthians 13, CBQ 66/2 (2004), 256-274

Cuvillier, Elian; Entre théologie de la Croix et éthique de l’excès: Une lecture de 1 Corinthiens 13, ETR 75/3 (2000), 349-362

Dafni, Evangelia G.; 1 Korinther 13,12 und das Alte Testament, in: C. J. Belezos et al. [eds.], Saint Paul and Corinth, Athen 2009, vol. I, 475-490

Downing, F. Gerald; Reflecting the First Century: 1 Corinthians 13,12, ET 95/6 (1984), 176- 177

Fishbane, Michael; Through the Looking Glass: Reflections on Ez 43:3, Num 12:8 an 1 Cor 13:8, HAR 10 (1986), 63-75

Focant, Camille; 1 Corinthiens 13:analyse rhétorique et analyse de structures, in: R. Bieringer [ed.], The Corinthian Correspondence (BETL 125), Leuven 1996, 199-245

Gaffin, Richard B.; Perspectives on Pentecost: New Testament Teaching on the Gifts of the Holy Spirit, Phillipsburg 1979

Grudem, Wayne A.; The Gift of Prophecy in 1 Corinthians, Washington D. C. 1982

Grudem, Wayne A.; The Gift of Prophecy in the New Testament and Today, Lanham 1988

Holladay, Carl R.; 1 Corinthians 13: Paul as Apostolic Paradigm, in: D. L. Balch et al. [eds.], Greeks, Romans and Christians, FS A. M. Malherbe, Minneapolis 1990, 80-98

Hollander, Harm W.; Seeing God "in a riddle“ or "face to face“: An Analysis of 1 Corinthians 13.12, JSNT 32/4 (2010), 395-403

Houghton, Myron, A Reexamination of 1 Corinthians 13:8-13, BS 611/153 (1996), 344-356

Johnson, Michael; Face to Face, Proceedings EGL & MWBS 11 (1991), 222-237

Lambrecht, Jan; The Most Eminent Way: A Study of 1 Cor 13, in: J. Lambrecht [ed.], Pauline Studies (BETL 115), Leuven 1994, 79-103 (= The Most Eminent Way: A Study of 1 Cor 13, in: T. Fornberg, D. Hellholm [ed.], Text and Contexts, FS L. Hartman, Oslo 1995, 275-304)

Stare, Mira; “Die grössere unter diesen ist die Liebe” − Überlegungen zur paulinischen Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe, in: A. Vonach, G. Fischer [Hrsg.], Horizonte biblischer Texte (OBO 196), FS J. M. Oesch, Fribourg − Göttingen 2003, 223-235

Roux, Christine; Prophétie et ministère prophétique selon Saint Paul, Hok 29 (1985), 33-53

Schrage, Wolfgang; Was bleibt und was fällt. Zur Eschatologie in 1 Kor 13,8-13, in: M. Trowitzsch [Hrsg.], Paulus, Apostel Jesu Christi, FS G. Klein, Tübingen 1998, 97-107

Seaford, Richard, 1 Corinthians 13,12, JTS 35/1 (1984), 117-120

Sigountos, James G.; The Genre of 1 Corinthians 13, NTS 40 (1994), 246-260

Smit Joop F. M.; The Genre of 1 Corinthians 13 in the Light of Classical Rhetoric, NT 33/3 (1991), 193-216

Söding, Thomas; Das Wortfeld der Liebe im paganen und biblischen Griechisch. Philologische Beobachtungen an der Wurzel agapê, ETL 68 (1992), 284-330

Stare, Mira; “Die grössere unter diesen ist die Liebe” − Überlegungen zur paulinischen Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe, in: A. Vonach, G. Fischer [Hrsg.], Horizonte biblischer Texte (OBO 196), FS J. M. Oesch, Fribourg − Göttingen 2003, 223-235

Stuart, Elizabeth; “Love is …Paul”, ET 102/9 (1991), 264-266

Tanner, R. G.; St. Paul and Stoic Physics, Studia Evangelica VII (TU 126), Berlin 1982, 481- 490

Walker, William O.; Is First Corinthians 13 a Non-Pauline Interpolation?, CBQ 60/3 (1998), 484-499

Waters, Cecil J.; “Love is … Paul” − A Response, ET 103/3 (1991), 75

Weiß, Wolfgang; Glaube - Liebe - Hoffnung. Zu der Trias bei Paulus, ZNW 84 (1993), 196- 217

White, R. Fowler; Richard Gaffin and Wayne Grudem on 1 Cor 13:10: A Comparison of Cessatonist and Noncessatonist Argumentation, JETS 35/2 (1992), 173-181

Wischmeyer, Oda; Der höchste Weg. Das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes (StNT 13), Gütersloh 1981

Young, Brad H.; Paul the Jewish Theologian: A Pharisee among Christians, Jews and Gentiles, Peabody 1997

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