2 Kor 1,23-2,4
Übersetzung
2 Kor 1,23-2,4:23 Ich aber rufe (den) Gott als Zeugen gegen mein Leben an, dass ich, [nur] weil ich euch schonen wollte, nicht wieder nach Korinth kam. 24 [Es ist] nicht [so], dass wir über euren Glauben herrschen, sondern wir sind Mitarbeiter [an] eurer Freude; denn im Glauben steht ihr. 1 Ich hatte nämlich bei mir dies beschlossen: nicht noch einmal in Kummer zu euch zu kommen. 2 Denn wenn ich euch betrübe, wer wäre dann derjenige, der mich froh machte, außer dem, der von mir betrübt wurde? 3 Und eben dies habe ich geschrieben, damit mir nicht, wenn ich gekommen wäre, Kummer bereitet worden wäre von denen, die mich [eigentlich] hätten erfreuen sollen; im Vertrauen auf euch alle, dass meine Freude [auch] euer aller [Freude] ist. 4 Denn aus viel Trübsal und Herzensbeklemmung habe ich euch unter vielen Tränen geschrieben, nicht damit ihr betrübt würdet, sondern damit ihr die Liebe erkennt, die ich ganz besonders zu euch habe.
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Beobachtungen: Paulus betont die Richtigkeit seines Grundes für den abgesagten Besuch, indem er Gott als Zeugen anruft. Die Formulierung "gegen mein Leben“ macht deutlich, dass eine Falschaussage gravierende negative Folgen für Paulus’ Leben haben kann. Das dem deutschen Wort "Leben“ zugrunde liegende griechische Wort "psychê“ kann auch mit "Seele“ übersetzt werden. Eine solche Übersetzung leistet jedoch dem Missverständnis Vorschub, dass eine Seele im Blick sei, die den leiblichen Tod überdauert. Aus 1 Kor 2,6-16 geht hervor, dass ein "psychischer Mensch“ in Paulus’ Augen ein irdisch gesinnter Mensch ist. Für die göttliche Weisheit, die in erster Linie das Kreuzigungsgeschehen und darüber hinaus auch die Auferweckung und schließlich das ewige Leben umfasst, ist der "pneumatische Mensch“, d. h. der geisterfüllte, offen. Wenn Paulus also in 2 Kor 1,23 das Wort "Leben“ benutzt, so denkt er wohl nicht daran, dass im Falle einer Falschaussage sein ewiges Leben gefährdet sein könnte, sondern er denkt an eine gravierende negative Folge für sein irdisches Leben. Die Formulierung "gegen mein Leben“ entspricht einer Selbstverfluchung für den Fall einer Falschaussage.
Paulus ist nur deshalb nicht nach Korinth gekommen, weil er die Korinther schonen wollte. Aus dieser Aussage geht hervor, dass der Besuch nicht harmonisch verlaufen wäre und Paulus Druck ausgeübt hätte. Das Verb "nicht wiederkommen“ lässt offen, ob Paulus nach seinem Missionsbesuch nicht wieder nach Korinth gekommen ist, oder ob er zwischenzeitlich den Korinthern einen Besuch abgestattet hat, nach welchem er nicht wiedergekommen ist.
Weiterführende Literatur: L. L. Welborn 2001, 31-60 untersucht unter Berücksichtigung antiker Theorien, wie Paulus in 2 Kor 1,1-2,13; 7,5-16 die Emotionen der Adressaten anspricht.
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Beobachtungen: Dass sich Paulus überhaupt anmaßt, Druck auszuüben und in das Glaubensleben der korinthischen Gemeindeglieder einzugreifen, kann als Herrschsucht seitens des Apostels aufgefasst worden. Es ist also möglich, dass Paulus von verschiedenen Gemeindegliedern vorgeworfen wurde, er wolle über den Glauben anderer Christen herrschen. Gegen einen solchen Vorwurf verwahrt sich Paulus, denn nicht er selbst ist der "Herr“, sondern Jesus Christus (bzw. Gott). Allein Jesus Christus (bzw. Gott) herrscht über die Christen.
Paulus versteht sich vielmehr als "Mitarbeiter“, und zwar an der Freude der Adressaten. Das Wort "Mitarbeiter“ betont das gleichrangige und gemeinschaftliche Tun. Das Tun betrifft die Freude der Adressaten“, wobei der Begriff "Freude“ wohl über die rein profane persönliche Freude hinausreicht. Es geht vermutlich um die Freude angesichts des geheiligten Lebens im Lichte der verheißenen Auferweckung der Entschlafenen und Entrückung der noch Lebenden bei der Wiederkunft Christi. Die Freude ist also eschatologisch geprägt und betrifft alle Christen gleichermaßen.
Die Formulierung "denn im Glauben steht ihr“ gesteht den Adressaten eine gewisse Eigenständigkeit im Glauben zu. Es ist also nicht so, dass für die Fortdauer ihres Glaubens Paulus unabdingbar ist.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Aus V. 1 geht hervor, dass Paulus nach seinem Missionsbesuch mindestens einmal wieder in Korinth gewesen sein muss, denn der Missionsaufenthalt war ja angesichts der Gemeindegründung nicht von Kummer geprägt. Bei dem zwischenzeitlich erfolgten Besuch in Korinth ist Paulus wohl in Kummer (wegen korinthischer Gemeindeglieder?) angereist.
Im Hinblick auf 2 Kor 1,15 bedeutet dies: Wenn der ursprünglich geplante, dann jedoch von Paulus abgesagte neuerliche Besuch ein "zweiter Gunsterweis“ gewesen wäre, dann kann Paulus nicht alle Aufenthalte gleichermaßen als "Gunsterweis“ gegenüber den Korinthern ansehen; andernfalls hätte er den geplanten Besuch als "dritten Gunsterweis“ bezeichnen müssen. Und tatsächlich ist ja der Charakter der verschiedenen Aufenthalte sehr verschieden. Der Missionsaufenthalt diente als erster Korinth-Aufenthalt überhaupt der Gemeindegründung. Der folgende Aufenthalt (oder auch: die folgenden Aufenthalte) war ein Besuch einer bereits gegründeten Gemeinde. Da auch alle anderen Aufenthalte Besuche sein werden - eine Gemeindegründung erfolgt ja pro Stadt nur einmal, sofern sich die Gemeinde nicht wieder auflöst - liegt es nahe, nur die Besuche als "Gunsterweise“ zu zählen. Andererseits können auch die Besuchsaufenthalte sehr verschieden sein: sie können harmonisch verlaufen, aber auch von Zwietracht und Kummer geprägt sein. Daher ist es auch möglich, dass Paulus zwischen den verschiedenen Besuchen unterscheidet und einen Besuchsaufenthalt, der in Kummer erfolgt ist, nicht als "Gunsterweis“ ansieht. Der "erste Gunsterweis“ wäre dann der Missionsaufenthalt, der "zweite Gunsterweis“ der geplante, dann aber doch abgesagte Besuch.
Als Reihenfolge der Ereignisse ist anzunehmen: 1. Abfassung des Ersten Korintherbriefs (vermutlich in Ephesus) mit dem Hinweis auf einen geplanten Besuch und die entsprechenden Reisepläne (vgl. 1 Kor 16,5-9); 2. bei Abänderung der ursprünglichen Reisepläne (mindestens ein) Zwischenbesuch, der in Trübsal verlaufen ist und bei dem Paulus vermutlich einen weiteren Besuch angekündigt hat; 3. Rückkehr des Paulus, wahrscheinlich nach Ephesus in der Provinz Asien (Asia); 3. Todesgefahr des Paulus in der Provinz Asien (Asia), die er erstmals in 2 Kor 1,8 den Korinthern mitteilt. Aufgrund der in Korinth erlebten Trübsal hat Paulus zwischenzeitlich den weiteren, geplanten Besuch abgesagt.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Es macht in Paulus’ Augen nur dann Sinn, nach Korinth zu reisen, wenn abzusehen ist, dass der Besuch in Freude abläuft. Wenn aber Paulus schon mit Vorwürfen anreist, so ist kaum zu erwarten, dass die korinthischen Glaubensbrüder und -schwestern erfreut reagieren. Vielmehr werden sie betrübt sein. Und wenn sie betrübt sind, dann werden sie Paulus nicht erfreuen. Da stellt sich die Frage: Wer soll Paulus in Korinth erfreuen, wenn die von ihm selbst betrübten Gemeindeglieder dazu nicht in der Lage sein werden? Wenn aber von beiden Seiten nur Kritik, Vorwürfe, Kränkung und Frust zu erwarten sind, weshalb sollte Paulus dann nach Korinth reisen?
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Paulus ist der Ansicht, dass sich Glaubensgeschwister gegenseitig erfreuen und nicht betrüben sollten. Die Freude, die dabei entsteht, ist dabei nicht eine rein individuelle Freude, sondern eine geteilte Freude: ein Christ nimmt an der Freude des anderen Anteil. Dass der Freude des Paulus dabei herausgehobene Bedeutung zukommt, lässt sich damit erklären, dass die Adressaten zu Paulus als ihrem Gemeindegründer eine besondere Beziehung haben und sie ihm ihr Christsein verdanken. Von daher ist zu erwarten, dass dessen Freude auch zugleich ihre Freude ist.
Um die missliche Lage zu vermeiden, dass der geplante Besuch beiden Seiten nur Kummer bereitet hätte, hat Paulus "eben dies“ geschrieben. Was ist mit "eben dies“ gemeint? Zunächst ist an 2 Kor 1,1-2,2 zu denken, dann aber auch an den Ersten Korintherbrief, den dem Zweiten Korintherbrief unmittelbar vorausgehenden biblischen Brief. Schließlich ist aber auch zu bedenken, dass es neben den erhaltenen biblischen Briefen weiteren Schriftverkehr zwischen Paulus und den verschiedenen Gemeinden gegeben haben dürfte; es kommt also auch ein Verweis auf einen Brief in Frage, der nicht im NT enthalten ist - oder nur derart, dass er nachträglich in einen anderen Brief eingearbeitet worden ist.
Aus V. 3 geht hervor, dass das Geschriebene, auf das der Apostel verweist, einen Ersatz für den abgesagten Besuch darstellte. Auf den Beschluss hin, nicht noch einmal in Kummer zu den Korinthern zu kommen, erfolgte die Abfassung des Schreibens. Es sollte allgemeinen Kummer vermeiden. Das Bewusstsein, dass ein Besuchsaufenthalt für beiderseitigen Kummer sorgen könnte, ist allerdings erst durch den unglücklichen Zwischenbesuch geschärft worden, der schon in Kummer begonnen hatte. Da dieser Zwischenbesuch nach der Abfassung des Ersten Korintherbriefes stattgefunden hat, dürfte kein Verweis auf den Ersten Korintherbrief vorliegen.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Auch die Information, dass das Geschriebene aus großer Trübsal und Herzensbeklemmung sowie unter Tränen geschrieben wurde, spricht gegen einen Verweis auf den Ersten Korintherbrief. Einen solch niedergeschlagenen und emotionalen Charakter hat dieser Brief nämlich nicht. Er befasst sich eher sachlich mit den ethischen Problemen, die im Rahmen des korinthischen Gemeindelebens aufgekommen sind. Auch ein Verweis auf 2 Kor 1,1-2,2 ist eher zweifelhaft, weil auch dieser Briefabschnitt mit seinem Gotteslob und der Selbstrechtfertigung des Apostels nicht wirklich einen niedergeschlagenen und emotionalen Charakter macht. Am ehesten ist folglich an ein Schreiben zu denken, das sich nicht in der Sammlung der neutestamentlichen Briefe findet oder in diese nachträglich eingebaut wurde. Weil das Schreiben unter Tränen verfasst wurde, liegt die Bezeichnung "Tränenbrief“ nahe. In diesem Brief dürfte die "Betrübnis“ Thema gewesen sein, die Paulus in 2 Kor 2,2 anspricht, und der eigentlich Christen geziemenden Freude gegenüberstellt. Ausgangspunkt des Schreibens könnte gewesen sein, dass es Paulus selbst war, der in Kummer angereist ist und so wesentlich zur Betrübnis beigetragen hat. Aufgrund dieser negativen Erfahrungen hat Paulus - möglicherweise im "Tränenbrief“ - den zunächst geplanten Besuch abgesagt und sich daraufhin den Vorwurf eingehandelt, er sei bei seinen Planungen unzuverlässig (vgl. 2 Kor 1,17).
Die beiden griechischen Begriffe "thlipsis“ und "synochê kardias“ bezeichnen einen sehr ähnlichen Gemütszustand. Die "thlipsis“ ist eine Bedrängnis, die "synochê kardias“ eine Beklemmung oder Ängstigung des Herzens. Beide Begriffe bezeichnen also einen Gemütszustand des Kummers und der Sorge. Die Tränenausbrüche sind deutlich sichtbares äußeres Zeichen des kummer- und sorgenvollen Gemütszustandes.
Paulus macht deutlich, dass er das Schreiben, auf das er verweist, nicht verfasst hat, um die Adressaten zu betrüben. Er hat es vielmehr aus besonderer Liebe zu ihnen verfasst. Dabei lässt sich der emotionale und niedergeschlagene Charakter des Schreibens damit erklären, dass Paulus Sorge hat, dass seine geliebten korinthischen Glaubensbrüder und -schwestern sich nicht angemessen auf die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft Christi vorbereiten könnten - und das, obwohl sie "Heilige“ sind bzw. sein sollten. Gerade weil sie gefährdet sind, sich vom vorbildlichen Verhalten zu entfernen und damit ihr Heil zu riskieren, liebt er sie ganz besonders. Es ist in gewisser Weise die besondere Liebe der "verlorenen Schafe“ und die Sorge um sie (vgl. Lk 15).
Weiterführende Literatur: Mit der Funktion der im Kummer geschriebenen Selbstempfehlung auf dem Hintergrund antiker brieflicher Konventionen befasst sich D. E. Fredrickson 2001, 161-179, der konkret zwei Fragen nachgeht: Was lässt sich zu dem rhetorischen Charakter des "Tränenbriefes“ sagen? Inwiefern können die Kenntnisse bezüglich des rhetorischen Charakters uns dabei helfen, den Anlass und die argumentativen Ziele von 2 Kor 1-7 zu rekonstruieren? D. E. Fredrickson kommt zu dem Ergebnis, dass der "Tränenbrief“ strenge moralische Zurechtweisung vermittele und versuche, den Kummer nahe zu bringen, um die Adressaten zur Reue zu bewegen. Da Paulus von verschiedenen Kritikern Offenheit bezüglich seiner Aussagen und seines Verhältnisses zu den Korinthern abgesprochen worden sei, komme dem Thema "Offenheit“ zentrale Bedeutung zu.
Literaturübersicht
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Fredrickson, David E.; "Through many tears“ (2 Cor 2:4): Paul’s Grieving Letter and the Occasion of 2 Corinthians 1-7, in: T. H. Olbricht et al. [eds.]; Paul and Pathos (SBLSS 16), Atlanta, Georgia 2001, 161-179
Welborn, Laurence L.; Paul’s Appeal to the Emotions in 2 Corinthians 1.1-2.13; 7.5-16, JSNT 82 (2001), 31-60