2 Kor 10,7-11
Übersetzung
2 Kor 10,7-11: 7 Seht auf das, was vor Augen liegt! Wenn jemand (von sich) überzeugt ist, Christus anzugehören, so bedenke er bei sich auch dies, dass wir ebenso Christus angehören wie er selbst. 8 Ja, selbst wenn ich mich [noch] etwas mehr der Vollmacht rühmen würde, die uns der Herr gegeben hat zu [eurer] Erbauung und nicht zu eurer Zerstörung, so würde ich nicht zuschanden werden. 9 Dass ich [ja] nicht den Anschein erwecke, ich wollte euch durch die Briefe einschüchtern. 10 Denn [seine] Briefe, [so] sagt man, sind zwar wuchtig und kraftvoll, aber [sein] leibliches Auftreten ist schwächlich und [seine] Rede kläglich. 11 Dies bedenke solch einer: Wie wir als Abwesende mit dem Wort durch Briefe sind, so sind wir es auch als Anwesende mit der Tat.
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Beobachtungen: V. 7-11 gehört zu dem größeren Abschnitt 10,1-18, in dem sich Paulus gegen Angriffe auf seine Person zur Wehr setzt. In V. 1-6 standen die Vorwürfe im Mittelpunkt, Paulus sei nur in seinen Briefen beeindruckend und er lebe in fleischlicher, also nicht in geistlicher Weise. Die Erwiderung des Apostels war an seine Gegner innerhalb der korinthischen Gemeinde gerichtet. Inwieweit diese von außergemeindlichen Einflüssen negativ beeinflusst sind, ließ sich aus V. 1-6 nicht erschließen.
Fraglich ist, ob in V. 7-10 verstärkt außergemeindliche Widersacher des Apostels in den Blick kommen. In V. 7 appelliert Paulus an die eigene Urteilsfähigkeit der korinthischen Gemeindeglieder. Sie sollen auf das sehen, was vor Augen liegt. Die Korinther sollen also das beurteilen, was sie selbst wahrnehmen können. Dazu gehört nicht nur das persönliche Auftreten des Apostels, sondern viel mehr, nämlich das gesamte Dasein und Wirken des Apostels und seiner Widersacher, soweit es in der korinthischen Gemeinde wahrnehmbar ist.
Paulus appelliert jedoch nicht nur an die Urteilsfähigkeit der korinthischen Gemeindeglieder, sondern auch an diejenige eines anonym bleibenden "jemand“. Dabei handelt es sich um eine beliebige Person, die von sich meint, Christus anzugehören. Paulus lässt offen, ob diese Person tatsächlich Christus angehört, denn dies können die korinthischen Gemeindeglieder und der anonyme "jemand“ mittels ihrer eigenen Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit selbst herausfinden. Paulus macht nur deutlich, dass er selbst mit Sicherheit Christus angehört. Da die Kirche als ein "Leib Christi“ (vgl. 1 Kor 12) keine Spaltungen verträgt, ist zu folgern, dass ein Gegner des Apostels Christi nicht Christus angehören kann.
Paulus erwähnt ganz nebenher, dass er seine Vollmacht zur Erbauung der korinthischen Gemeinde erhalten hat und nicht zu ihrer Zerstörung. Seine Vollmacht dient folglich dem Gemeindeaufbau und damit der Festigung und Ausbreitung des Evangeliums. Über den Grund, warum Paulus nebenher eine doch recht bissige Bemerkung einflechtet, lässt sich nur spekulieren. Am ehesten ist anzunehmen, dass auch Konkurrenten des Apostels aktiv sind, denen indirekt gemeindezerstörendes Verhalten vorgeworfen wird.
Weiterführende Literatur: L. Aejmelaeus 2000 kommt in seinem Buch bezüglich der Argumentation des Paulus mit den Begriffen "Schwachheit“ und "Kraft“ zu folgendem Ergebnis: Der Apostel verfolge zwei Ziele: Auf der einen Seite versuche er zu bewirken, dass die korinthischen Gemeindeglieder ihre falschen Auffassungen und Einstellungen von echter christlicher Kraft und Schwachheit verändern. Auf der anderen Seite versuche er sich im "Tränenbrief“ so effektiv wie möglich gegen die gegen ihn gerichtete Kritik zu verteidigen. Seine Ziele versuche Paulus durch drei verschiedene Argumentationsweisen zu erreichen: 1) Paulus drohe den Gemeindegliedern mit zukünftigen Strafmaßnahmen (vgl. 10,1-6; 12,19-13,6). 2) Paulus versuche zu beweisen, dass er bei richtiger Bewertung für "kraftvoll“ gehalten werden sollte (vgl. 10,7-11,15; 12,11-18). 3) Paulus gebe zu, dass er aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet in der Tat "schwach“ gewesen sei, diese Schwachheit ihrer Natur nach jedoch für positiv gehalten werden müsse (vgl. 11,16-12,10; 13,7-10).
H.-G. Sundermann 1996, 39-45 äußert sich zum rhetorischen Genus von 11,1-12,18 wie folgt: 11,1-12,18 gebe sich vordergründig als forensische Rede in einem Gerichtsverfahren zu erkennen, auf das sich Paulus − wenn auch zum Schein − in der Rolle des Angeklagten einlasse, der sich vor der richterlichen Instanz der korinthischen Gemeinde zu rechtfertigen suche. Die Gegner bzw. deren Sprecher in der Gemeinde seien in diesem Verfahren als Kläger präsent. In rhetorischen Kategorien sei in diesem Zusammenhang vom "genus turpe“ auszugehen, das denjenigen Partei-Gegenstand kennzeichne, der das Rechtsempfinden (oder: das Wert- und Wahrheitsempfinden) des Publikums schockiert. 10,1-10 stelle die sich als "insinuatio“ präsentierende Einleitung der Gesamtrede dar.
A. L. Dewey 1985, 209-217 legt dar, dass der Ehre in der Antike herausragende Bedeutung beigemessen worden sei, und auf diesem Hintergrund der Selbstruhm des Paulus zu erklären sei.
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Beobachtungen: Paulus nennt den Begriff "Vollmacht“. Um diese scheint es in dem Konflikt zu gehen. Wenn Paulus sagt, dass er sich noch mehr seiner Vollmacht rühmen könne, dann ist daraus zu schließen, dass ein solches Rühmen im Hinblick auf die Anerkennung der Vollmacht von erheblicher Bedeutung ist. Das ist wahrscheinlich damit zu erklären, dass die Vollmacht des Apostels grundsätzlich angezweifelt wird. Gegenüber 1 Kor 1,10-17 hat sich also die Problematik verlagert: Zwar geht es in diesem Text wie in 2 Kor 10,7-11 um die Zugehörigkeit zu Christus, doch wird diese in 1 Kor 1,10-17 im Hinblick auf das Problem der innergemeindlichen Parteiungen angesprochen, eine grundsätzliche Leugnung der apostolischen Vollmacht des Paulus spielt nur ganz am Rande - wenn überhaupt - eine Rolle.
Paulus hat seine - das Personalpronomen "uns“ entspricht hier dem vorausgehenden "ich“ - Vollmacht vom "Herrn“, d. h. Jesus Christus oder Gott, erhalten. Wann er sie erhalten hat, bleibt offen, doch ist am ehesten an die in Apg 9,1-18 ausführlich geschilderte Bekehrung bei Damaskus ("Damaskuserlebnis“) zu denken.
Nun könnte man annehmen, dass Paulus sich dieser vom "Herrn“ erhaltenen Vollmacht nicht gerühmt hat und dies einer der Gründe ist, weshalb sie angezweifelt wird. Das ist jedoch nicht der Fall. Laut V. 8 hat Paulus nämlich durchaus seine vom "Herrn“ erhaltene Vollmacht gerühmt, denn sonst würde er nicht die Möglichkeit ansprechen, dass er sich noch mehr dieser Vollmacht rühmen könnte.
Paulus könnte seine Vollmacht noch mehr rühmen, ohne zuschanden zu werden. Offen bleibt, vor wem er zuschanden werden könnte. Zwei Möglichkeiten kommen in Frage: a) vor den Menschen, insbesondere vor den Korinthern; b) vor Jesus Christus bzw. Gott. Letztere Möglichkeit ist wahrscheinlicher, weil sich Paulus letztendlich vor Jesus Christus (oder auch Gott), rechtfertigen muss, denn dieser allein ist der "Herr“, der am Ende der Tage richtet (vgl. 1 Kor 4,4; 2 Kor 5,10). Selbst wenn Paulus noch etwas mehr seine Vollmacht rühmt, so wird er bei der Wiederkunft Christi dafür nicht getadelt und bestraft werden.
Weiterführende Literatur: L. Brink 2005, 191-201 vertritt die These, dass Paulus 2 Kor 10,1-11 den Ermahnungen eines Generals an seine Truppen nachempfunden habe. Ihm gehe es darum, seine Autorität als General der Armee Christi herauszustellen, wobei die Korinther das treue Truppenkontingent seien.
T. Callan 1986, 137-156 bietet ein psychologisches Portrait von Paulus. Auf S. 144-150 geht sie auf das Rühmen ein. Ergebnis: Obwohl Paulus den Selbstruhm ablehne, lasse er sich − bewusst und unbewusst - zu ihm hinreißen. Im Ersten Korintherbrief geschehe dies im Rahmen der Identifikation mit Gott und Christus, im Zweiten Korintherbrief unter dem Hinweis, dass Selbstruhm zulässig sei, wenn die eigene Schwäche gerühmt werde. Situationsbedingt übertreffe der Selbstruhm des Zweiten Korintherbriefs sogar noch denjenigen den Ersten Korintherbriefs, wobei sich Paulus wohl nur teilweise seiner Widersprüchlichkeit bewusst sei.
H. K. Nielsen 1980, 137-158 definiert den Begriff "Kreuzestheologie“ als Verwirklichung der Christuszugehörigkeit allein in Schwachheit; dem Gekreuzigten nachfolgen sei also eine Nachfolge in der Sphäre Gottes. H. K. Nielsen geht der Frage nach, inwieweit die so definierte Kreuzestheologie eine haltbare Deutung der paulinischen Auffassung ist. Verhält es sich wirklich so, dass Gottes Macht und Herrlichkeit allein im Leiden und in den Bedrängnissen unter dem Vorzeichen des Kreuzes zum Ausdruck kommen? Um diese Frage zu beantworten, untersucht H. K. Nielsen Paulus’ Verwendung des Begriffs "dynamis“ ("Macht/Kraft“). Zu 10,1-11 merkt er auf S. 147-148 an, dass überall, wo Paulus von seiner Schwachheit, seinen Leiden und seinem Untergang spricht, er im selben Atemzuge auch von dem machtvollen Wirken Christi durch ihn, von seinen Siegen und seinem Triumph spreche.
Zum Begriff "oikodomê“ ("Erbauung“) in V. 8 siehe I. Kitzberger 1986, 124-125.
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Beobachtungen: V. 9 beantwortet die Frage, warum Paulus nicht noch mehr seine vom "Herrn“ erhaltene Vollmacht rühmt, obwohl er dies könnte, ohne zuschanden zu werden: Paulus möchte mit seinen Briefen die Adressaten nicht einschüchtern. Aus der Formulierung geht hervor, dass die Briefe schon jetzt stark formuliert sind und dass sich das Rühmen auf diese und nicht auf die persönliche Anwesenheit bezieht.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: V. 10 gibt wieder, wie "die Briefe“, "das leibliche Auftreten“ und "die Rede“ von der Umwelt des Apostels wahrgenommen werden. Die Briefe werden als wuchtig und kraftvoll empfunden. Dies wird anscheinend von der Umwelt als positiv beurteilt. Daraus ist zu schließen, dass Paulus sich wohl kaum gegen Vorwürfe zu wehren hat, er rühme seine Vollmacht in den Briefen zu stark. Die Kritik dürfte sich eher an dem schwächlichen leiblichen Auftreten und an der kläglichen Rede entzünden, denn die Menschen des antiken Griechenlands legten viel Wert auf das überzeugende Auftreten und auf die vollendete Form der Rede. Dass der Apostel bei seiner leiblichen Gegenwart nicht so überzeugend und kraftvoll wirkt, wie von einem Teil seiner Adressaten und insbesondere von seinen Gegnern erwartet wird, mag verschiedene Gründe haben: Erstens ist schriftliche Kommunikation anders geartet als mündliche. Wer sich schriftlich eindrucksvoll ausdrückt, kann in der Gegenwart von Menschen schüchtern und zurückhaltend sein. Wer klein ist und eine schwache Stimme hat, hat es schwer, bei einem persönlichen Auftritt oder einer Rede überzeugend zu wirken. Zweitens will Paulus bei seinen Predigten keine menschlichen Maßstäbe anlegen. Er will die Menschen nicht mit rhetorischen Künsten überreden, sondern er will sie durch seine Predigten vom Evangelium überzeugen. Es geht ihm nicht um "menschliche Weisheit“, sondern um die Verbreitung des Evangeliums, der "göttlichen Weisheit“ (vgl. 1 Kor 2,4). Nicht den Menschen, sondern dem "Herrn“ allein ist er Rechenschaft schuldig (vgl. 1 Kor 2,15-16; 4,4; 2 Kor 5,10). Drittens würde ein eindrucksvoller Auftritt dem Gedanken der Leidensgemeinschaft mit Christus (vg. 2 Kor 4,7-18; 6,1-10) widersprechen. Diese Gründe sprechen nicht dagegen, dass sich Paulus rühmt, doch ist der Ruhm an bestimmte Voraussetzungen gebunden. So gilt der Ruhm nicht der eigenen Person, sondern seinem Dienst als von Christus persönlich entsandter Apostel. Ausführlich zu dem rechten Maßstab des Rühmens äußert sich Paulus in dem folgenden Abschnitt 2 Kor 10,12-18.
Fazit: Der Auftritt des Paulus ist nicht grundsätzlich schwach, denn seine Briefe machen einen durchaus starken Eindruck, was bei der Verbreitung des Evangeliums wichtig war. Wenn ein starker Auftritt gefordert wird, so kann nicht kritisiert werden, dass die Briefe zu eindrucksvoll sind. Der wesentliche Streitpunkt ist der Maßstab, nach dem das Rühmen zu erfolgen hat. Warum Paulus das Rühmen in seinen eigenen Briefen nicht verstärkt hat, wo doch die Adressaten Stärke erwarten, ist unklar. Angesichts der Tatsache, dass die Adressaten starke Reden gewohnt sein dürften, klingt die Begründung, dass Paulus die Empfänger der Briefe nicht einschüchtern wollte, nicht überzeugend. Lag der wahre Grund darin, dass Paulus innerlich eine Scheu davor hatte, man könnte ihm Selbstruhm vorwerfen? Ob solch ein Vorwurf tatsächlich von Gemeindegliedern geäußert wurde, ist unklar. Dass Paulus nicht einfach den Erwartungen der Adressaten nachkommt und sich persönlich eindrucksvoller präsentiert, mag einerseits mit seinen eigenen Charaktereigenschaften und seinem äußeren Erscheinungsbild zusammenhängen, andererseits aber auch mit der Tatsache, dass die Adressaten im Hinblick auf die Erwartungen an den Apostel kein einheitlicher Block sind. Da Paulus durchaus seine Befürworter hat, die möglicherweise auch seine eher schwächliche Erscheinung schätzen, kann er seinen Auftritt nicht einfach den Wünschen seiner Kritiker anpassen. Eine solche Anpassung würde bewirken, dass er statt unberechtigter Kritik seiner Gegner berechtigte Kritik der wahren Gläubigen ernten würde. Zudem - und das ist entscheidend - würde er am Ende der Tage vor seinem "Herrn“, Jesus Christus, zuschanden werden.
Weiterführende Literatur: H.-G. Sundermann 1996, 65-67 fragt, was an den paulinischen Briefen als "barys“ ("schwer/wuchtig/belastend“) und "ischyros“ ("stark/kraftvoll“) angesehen worden sein mag. Geht es um das apostolische Selbstbewusstsein, das Paulus in seinen Briefen gerne hervorhebe, um seinen Lehrmitteilungen und Vorschriften Nachdruck zu verleihen; geht es um Mahnungen und Vorschriften oder gar um ein starkes theologisches Gewicht seiner Briefe? H.-G. Sundermanns Vermutung geht in eine völlig andere Richtung: Die Wortgruppe um den Stamm "bar...“ habe die Konnotation "finanzielle Forderung“. Im vorliegenden Kontext dürften daher die Briefe des Paulus deshalb als "belastend“ angesehen worden sein, weil sie auch Forderungen finanzieller Art enthielten.
J. A. Harrill 2001, 189-213 legt dar, dass man früher angenommen habe, dass die Bedeutung von V. 10 klar sei: Paulus erscheine als chronisch kranker Mann. Und die Beschreibung des Apostels in der Schrift "Akten des Paulus und der Thecla“ (3) als klein, kahlköpfig, krummbeinig und mit einer Hakennase versehen, habe einer entsprechenden Vorstellung Vorschub geleistet. Tatsächlich blieben jedoch Fragen offen: Was meinen Paulus’ Widersacher genau, wenn sie ihm ein schwächliches leibliches Auftreten vorwerfen? Und: Warum baut Paulus eine Schmähung in seine Selbstverteidigung ein? J. A. Harrill vertritt folgende Auslegung: Das schwächliche leibliche Auftreten und die schwächliche Rede seien als typische Merkmale des Erscheinungsbildes eines Sklaven angesehen worden. Wenn jemand seinen Widersacher als Sklave geschmäht habe, sei dies einer Infragestellung von dessen Männlichkeit gleichgekommen. Auf Paulus bezogen handele es sich um den Vorwurf unterwürfiger Schmeichelei. Der Apostel zitiere die Schmähung, um die Falschheit einer Bewertung nach dem äußeren Erscheinungsbild zu verdeutlichen. Paulus’ Selbstverteidigung 2 Kor 10-13 sei auf dem Hintergrund des Konfliktes zwischen sophistischer Redekunst, bei der das persönliche Erscheinungsbild eine große Rolle spielte, und sokratischer Philosophie, bei der dies nicht der Fall war, zu sehen.
R. F. Ward 1990, 605-609 liest 2 Kor 10,7-12 unter den Gesichtspunkt heutiger pastoraler Praxis. Aus dem Text gehe hervor, dass der gewandten Rede und der charismatischen Persönlichkeit des Predigers nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden sollte. Paulus wisse, dass es bei ihm als Apostel mehr auf den Charakter als auf das Charisma ankomme.
Die Widersacher des Paulus haben der gewandten Rede besondere Bedeutung beigemessen. Laut R. F. Ward 1990, 283-292 sei der Brief 2 Kor 10-13 als eine Art "Gegenrede“ zu den Reden seiner Widersacher anzusehen. Paulus habe das Schriftstück für die Gemeinde verfasst, ein wohl gesonnener Bote habe den Worten einen "Körper“ verliehen und sie vor der Gemeinde verlesen. Diese Verlesung habe eine machtvolle autoritative Erscheinung des Paulus in der korinthischen Gemeinde dargestellt.
A. Lindemann 2009, 219-252 geht der Frage nach, ob die Aussagen 2 Kor 10,10; 11,6 über das wenig beeindruckende Auftreten und die fehlenden rhetorischen Fähigkeiten ein zutreffendes Bild von Paulus geben. Ergebnis: So, wie die Briefe rhetorische Qualität besitzen, dürfte Paulus auch im mündlichen Vortrag durchaus redegewandt gewesen sein. Wenn er der in 2 Kor 10,10 zitierten Aussage über das schwache leibliche Auftreten zunächst nicht widerspreche, so nehme er damit lediglich auf den jüngsten Konflikt Bezug, der zum Scheitern seines "Zwischenbesuchs“ in Korinth geführt habe. Die kritische Aussage über die klägliche Rede erkläre sich dann am ehesten von der Annahme her, dass hier der Inhalt der paulinischen Predigt, das Wort vom Kreuz, zurückgewiesen wird. In 11,6 räume er, vermutlich ironisch, ein, er sei ein Laie in der Rede, aber dies gelte keinesfalls hinsichtlich der von ihm gepredigten Erkenntnis, die er in vollkommener Weise den Korinthern vermittelt habe.
C. Clivaz 2009, 239-259 befasst mich mit der Paradoxie, dass Paulus zwar gemäß seinen eigenen Worten als in der Rede kläglich, in seinen Briefen jedoch kraftvoll und wuchtig galt, gemäß der Apostelgeschichte Paulus dagegen seine Mission auf der Rede aufbaute. C. Clivaz erklärt diesen Gegensatz mit der Vorstellung des Gerüchts. Sowohl Paulus als auch der Verfasser der Apostelgeschichte hätten geschrieben, um ihre Adressaten (wieder) zu bestärken, zu überzeugen und ihren Standpunkt zu beeinflussen. In den paulinischen Briefen ließen sich zwei nachfolgende Haltungen ausmachen: zum einen die des abwesenden Vaters, jedoch anwesenden Schreibers, zum anderen die des göttlichen Gefangenen, die in den letzten Lebensjahren des Apostels Oberhand gewinne. In der Zeit nach dem Tode des Paulus sei es im pluralistischen Christentum jedoch weniger um das theologische Studium der Briefe des Schreibers Paulus als vielmehr um dessen Gedächtnis gegangen. Die lukanische Rezeption lasse die Kenntnis verschiedener Gerüchte, die um Paulus kursierten (die Vergangenheit als unbarmherziger Verfolger, die klägliche Rede, die Gefangenschaft wie eine Schande) erkennen, versuche jedoch das der kläglichen Rede und der Gefangenschaft wie eine Schande umzukehren. Sie stelle sich − Kol 4,18 entsprechend − in den Dienst des Gedächtnisses der Fesseln, des Gedächtnisses des göttlichen Gefangenen. Ein solches Gedächtnis lasse sich auch in der Apostelgeschichte ausmachen, wobei insbesondere an deren Ende Paulus als im Wort frei erscheine.
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Beobachtungen: Paulus wendet sich gegen den möglichen Fehlschluss, dass schwächliches leibliches Auftreten und klägliche Rede mit zögerlicher Tat einhergehen und seine gesamte Anwesenheit damit von Schwäche geprägt ist. Er stellt heraus, dass er als Anwesender mit der Tat ebenso stark und überzeugend ist, wie als Abwesender mit dem Wort der Briefe. Und diese starke Tat kann sich gemäß 2 Kor 10,6 gegen die Gegner des Apostels wenden.
Weiterführende Literatur:
Literaturübersicht
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Aejmelaeus, Lars; Schwachheit als Waffe. Die Argumentation des Paulus im Tränenbrief (2. Kor. 10-13) (SESJ 78), Helsinki - Göttingen 2000
Brink, Laurie; A General’s Exhortation to his Troops: Paul’s Military Rhetoric in 2 Cor 10:1- 11 (Teil 1), BZ 49/2 (2005), 191-201
Callan, Terrance; Competition and Boasting: Toward a Psychological Portrait of Paul, ST 40/2 (1986), 137-156
Clivaz, Clair; La rumeur, une catégorie pour articuler autoportraits et réceptions de Paul: “Car ses letters, dit-on, ont du poids…et sa parole est nulle” (2 Co 10,10), in: D. Marguerat [ed.], Reception of Paulinism in Acts. Réception du paulinisme dans les Actes des apôtres (BETL 229), Leuven 2009, 239-259
Dewey, Arthur L.; A Matter of Honor. A Socio-Historical Analysis of 2 Corinthians 10, HTR 8/1-2 (1985), 209-217
Harrill, J. Albert; Invective against Paul (2 Cor 10:10), the Physiognomics of the Ancient Slave Body, and the Greco-Roman Rhetoric of Manhood, in: A. Y. Collins et al. [eds.], Antiquity and Humanity, FS H. D. Betz, Tübingen 2001, 189-213
Kitzberger, Ingrid; Bau der Gemeinde: Das paulinische Wortfeld oikodomê (FzB 53), Würzburg 1986
Lindemann, Andreas; Logos und gnosis. Paulus als "Rhetor“ im Zweiten Korintherbrief, in: C. J. Belezos et al. [eds.], Apostolos Paulos kai Korinthos / Saint Paul and Corinth, Athen 2009, vol. II, 219-252
Nielsen, Helge Kjaer; Paulus Verwendung des Begriffes Dunamis. Eine Replik zur Kreuzestheologie, in: S. Pedersen [Hrsg.], Die paulinische Literatur und Theologie (TeolSt 7), Arhus 1980, 137-158
Sundermann, Hans-Georg; Der schwache Apostel und die Kraft der Rede. Eine rhetorische Analyse von 2 Kor 10-13 (EHS R. XXIII; 575), Frankfurt 1996
Ward, Richard F.; 2 Corinthians 10:7-12, RExp 87 (1990), 605-609
Ward, Richard F.; Pauline Voice and Presence as Strategic Communication, SBL.SP 29 (1990), 283-292