Gal 5,13-15
Übersetzung
Gal 5,13-15:13 Denn ihr seid zur Freiheit berufen, Geschwister. Nur [lasst] die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch [werden], sondern dient einander durch die Liebe! 14 Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Satz erfüllt, [nämlich] in diesem: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ 15 Wenn ihr aber einander beißt und zerfleischt, seht [zu], dass ihr nicht voneinander verschlungen werdet.
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Beobachtungen: V. 13 leitet den Abschnitt über die Liebe als Frucht des Geistes ein, der den Abschnitt 5,13-26 umfasst. Paulus setzt sich nun also nicht mehr mit der Gesetzlichkeit und ihren Folgen auseinander, sondern schreibt positiv, was der mit der christlichen Freiheit verbundene Geist bewirkt.
Die Konjunktion „denn“ führt eine Begründung ein, doch was wird begründet? Paulus redet die Adressaten direkt an und schärft ein, dass sie selbst zur Freiheit berufen sind. Folglich ist für sie nicht relevant, dass die judaistischen Prediger die Beschneidung fordern. Paulus begründet mit der Bestimmung zur Freiheit, warum die Adressaten nicht auf die judaistischen Prediger hören sollen. Die Betonung der Berufung zur Freiheit erinnert darüber hinaus an 5,1, wo es heißt: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ Gemeint ist, dass wir Menschen durch Christi Kreuzestod und Auferweckung davon befreit sind, unser Heil in der sorgsamen Befolgung sämtlicher Satzungen und Gebote der hebräischen Bibel (= AT) zu suchen. Nicht die Beschneidung und die damit verbundene Verpflichtung zum Halten der Satzungen und Gebote sind entscheidend, sondern der Glaube an das mit Jesus Christus verbundene sündenvergebende Heilsgeschehen. Dieser soll durch die Liebe tätig sein (vgl. V. 6). Fazit: Über die Abgrenzung zu den judaistischen Predigern hinaus wird der wesentliche Inhalt des vorausgehenden Abschnittes 5,1-12 begründet.
Die Berufung der „(geistlichen) Geschwister“ – weil auch Frauen eingeschlossen sein dürften, ist das maskuline „adelphoi“ hier besser nicht mit „Brüder“ zu übersetzen - zur Freiheit hat in der Vergangenheit stattgefunden und ist abgeschlossen, worauf die Verbform Aorist Passiv hinweist. Sie kann bei der Bekehrungspredigt des Paulus, aber auch bei der Taufe stattgefunden haben. Eine eindeutige Entscheidung wird dadurch erschwert, dass unklar ist, wer berufen hat. Zu denken ist an Paulus (oder an einen anderen Missionar), Gott und Jesus Christus. Paulus kann nur dann der Berufende sein, wenn er die Gemeinden der Adressaten gegründet hat. Da in 1,6 nur von einer einzigen berufenden Person die Rede ist, kann auch nur eine einzige Person die Gemeinden gegründet haben. Doch wer ist diese Person? Handelt es sich um die Gemeinden in der Landschaft Galatien, so kann es sich bei dem Gemeindegründer um Paulus gehandelt haben, denn er hat dort laut Apg 16,6; 18,23 gewirkt. Da jedoch nirgendwo ausdrücklich davon die Rede ist, dass die Gemeinden in der Landschaft Galatien auf das Wirken des Apostels zurückzuführen sind, könnte bei der Landschaftshypothese auch ein anderer Missionar Gemeindegründer gewesen sein. Glaubt man dem Verfasser der Apostelgeschichte (vgl. 13,13-14,27), so lässt sich nur sicher sagen, dass Paulus auf seiner ersten Missionsreise in den südlichen Landschaften der römischen Provinz Gallien (zur Landschafts- und Provinzhypothese vgl. die Beobachtungen zu Gal 1,2) Gemeinden gegründet hat, und zwar Antiochia (in Pisidien), Ikonion, Lystra und Derbe (in Lykaonien). Als Fazit lässt sich somit sagen, dass wahrscheinlich - nicht jedoch sicher - ist, dass die Gemeinden der Adressaten auf das Wirken des Apostels zurückgehen. Angesichts der Tatsache, dass andernorts in den paulinischen Briefen eindeutig Gott als Berufender erscheint (vgl. Gal 1,15; 1 Thess 2,12; 5,24; Röm 9,12), ist jedoch auch gut möglich, dass nicht der Gemeindegründer derjenige ist, der die Adressaten berufen hat, sondern Gott. Auch Jesus Christus, der sich Paulus offenbart hat (vgl. Gal 1,16; Apg 9,1-9), kommt als Berufender in Frage (vgl. Röm 1,6).
Die Aufforderung „Dient einander durch die Liebe!“ erinnert an 5,6 und lässt den Abschnitt 5,13-26 als weitere Ausführungen zu diesem Vers erscheinen. Der gegenseitige Dienst - es handelt sich um einen Sklavendienst und somit in gewisser Weise um eine Pflicht - durch die Liebe ist also das, was durch die Freiheit bewirkt werden soll. Weil die Freiheit aber eine Freiheit ist, also von Bindungen befreit, kann sie auch zu anderen Ergebnissen führen. Beispielsweise kann es dem „Fleisch“ dienen.
Doch was ist hier mit dem Begriff „Fleisch“ gemeint? Dem Beginn „im Geist“ ist stellt Paulus die Vollendung „im Fleisch“ entgegen. Der griechische Begriff „sarx“ ist zunächst wertneutral und meint nichts weiter als den fleischlichen Körper der Lebewesen, speziell der Menschen. In diesem Sinn ist „Fleisch“ in 2,16.20 zu verstehen. Allerdings ist zu bedenken, dass das „Fleisch“ auch Verführungen und Begierden ausgesetzt ist. Dieser Aspekt kommt insbesondere in 5,16-21 in den Blick. Es ist davon auszugehen, dass 5,13 inhaltlich zu diesem Abschnitt hinführt und in dessen Licht zu lesen ist. Schließlich ist aber auch zu bedenken, dass Paulus im Vorhergehenden die Gesetzlichkeit thematisiert und abgelehnt hat. In 3,3 fragt er die Adressaten vorwurfsvoll, ob sie das, was sie im „Geist“ begonnen haben, tatsächlich im „Fleisch“ beenden wollen. Die Freiheit wird also mit dem „Geist“ in Verbindung gebracht, die Gesetzlichkeit mit dem „Fleisch“. Sowohl eine Existenz in Gesetzlichkeit als auch eine Existenz in Begierden ist „fleischlich“. Von daher stellt der Begriff „Fleisch“ eine Brücke dar, die vom Inhalt des Abschnittes 3,1-5,12, Freiheit und Gesetzlichkeit, zu demjenigen von 5,13-26, Liebe und Begierden, führt.
Weil die Freiheit auch anders als für ein Leben in Liebe genutzt werden kann, kann sie zu einer günstigen Gelegenheit für ein am „Fleisch“ orientiertes Leben werden. Man kann sich bei Kritik am eigenen Verhalten auf die Freiheit berufen, die damit zum Vorwand für das scheinbar gerechtfertigte Fehlverhalten wird.
Weiterführende Literatur: Der erste Teil der Arbeit S. Schewe 2005 will exemplarisch aufweisen, dass in der Forschung Gal 5,13-6,10 durchgängig als Fremdkörper erscheine. Der zweite Teil der Arbeit führt eine textpragmatische Einzelanalyse der umstrittenen Kapitel 5-6 durch, indem Vers für Vers die pragmatische Gestaltung des Textes 5,1-6,10 erhoben wird (5,13-15: S. 82-116). Der dritte Teil fasst die Ergebnisse der Analyse zusammen und beantwortet die Frage nach der Funktion von Gal 5-6 im Rahmen des Gesamtbriefes. Laut S. Schewe sei 5,13-6,10 keineswegs ein Fremdkörper innerhalb des Galaterbriefes, sondern stehe ganz im Dienste der Absicht, die Galater von ihrem Verhalten abzubringen, Gesetz und Beschneidung zu akzeptieren.
Laut B. O. Ukwuegbu 2008, 538-559 verbinde Paulus in Gal 5,13-6,10 ein “ethos“ (Verhaltensmuster, Werte und Normen) mit dem „mythos“ des symbolischen Universums „in Christus“.
M. Konradt 2010, 60-81 verfolgt ein doppeltes Anliegen: Er verbindet die Erörterung des Verhältnisses von Freiheit und Liebe mit der Frage, inwiefern Paulus in Gal 5,13-6,10 die Auseinandersetzung mit den Gegnern weiterführt und eine solche Kontextualisierung das spezifische Profil der Entfaltung seines ethischen Ansatzes im Galaterbrief zu verstehen hilft. Er unterstreicht, dass der Galaterbrief im Kontext antiker Diskurse über Freiheit, die Bedeutung der Gesetze und das Verhältnis zwischen Freiheit und Gesetz gelesen werden müsse.
Gemäß H. Weder 1998, 129-145 werfe 5,1.13-25 folgende Fragen auf: Spricht die Freiheit von sich aus ein Gebot aus, gebietet die Freiheit also als solche etwas, das nicht ihrer Einschränkung, sondern ihrer Verwirklichung, ihrer Pflege, ihrer Kultur dient? Welches ist die Norm, die aus der Freiheit selbst kommt? Was wäre in diesem Sinne als Gesetz der Freiheit zu denken? H. Weder legt dar, dass der Freiraum des Menschen durch Christus geschaffen sei und durch Geistkraft tagtäglich verwirklicht werde. Dieser Freiraum sei die Lebensgrundlage von Freiheit, von Lebendigkeit. Und dieser Freiraum stelle einen Anspruch an den Menschen: er stelle den Anspruch, dass des Menschen Dasein im Einklang sei mit diesem Raum. Aber er stelle den Anspruch nicht als Forderung, sondern in der Gestalt einer bewegenden Wirklichkeit, einer bewegenden Kraft.
F. T. Gench 1992, 290-295 liest 5,1.13-25 im Licht des Festes Pfingsten: Freiheit sei ein zentrales Merkmal des christlichen Lebens. Liebe sei der angemessene Gebrauch der christlichen Freiheit. Das christliche Leben der Freiheit und Liebe werde durch Gottes eigenen Geist geleitet und ermöglicht. Christliches Dasein erfolge in der Glaubensgemeinschaft; in ihr sei er einverleibt. Die Erfordernisse der Freiheit würden nicht weiter ausgeführt und die Grenzen der Liebe nicht vorgeschrieben. Es sei also die Vorstellungskraft der Gläubigen gefordert, im Rahmen der sich ändernden kulturellen Kontexte und persönlichen Lebensläufe diese Lücken zu füllen. Weil Gott uns frei gemacht habe, vertraue Paulus darauf, dass Gottes Geist uns leitet, indem er unsere Vorstellungskraft anregt und uns zu neuen Wagnissen des Glaubens und Gehorsams ermutigt.
I.-G. Hong 1991, 1-16 befasst sich mit für die Argumentation des Briefes zentralen Versen, darunter auf S. 10-11 auch mit Gal 5,13. Hier sei als besonderer Aspekt hervorzuheben, dass Christi Erlösung eine Befreiung von der Herrschaft des Fleisches darstelle.
T. W. Martin 2002, 5-18 befasst sich mit dem Begriff „Brüder“ in 4,28 und 5,13a. Er kommt zu dem Schluss, dass „Brüder“ jeweils weniger als Vokativ denn als Nominativ zu interpretieren sei. Für 5,13a bedeute dies, dass eher die Übersetzung „For you were called to freedom, brothers” als „For you…were called to be brothers” angemessen ist. Durch seine Arbeit in Galatien versuche Paulus den “Bruderkörper” (“brother body“) intakt zu halten, indem er sowohl die nichtjüdischen Galater als auch die jüdischen Unruhestifter als „Brüder“ anredet und beschreibt.
P. F. Esler 1997, 121-149 vertritt die These, dass Paulus Familienmetaphorik benutze, um für seine Gemeinden eine Identität zu schaffen, die sich stark von derjenigen der vorherrschenden Gruppen außerhalb ihrer Grenzen unterscheidet. Insbesondere weise Paulus den üblichen Kampf um Ehre in der antiken Gesellschaft zurück.
Laut W. B. Russell III 1995, 333-357 habe Paulus den Begriff „sarx“ („Fleisch“) von seinen judaistischen Gegnern übernommen und ihn gegen diese gerichtet. Im Galaterbrief habe Paulus die eigentliche atl. körperliche Bedeutung von „sarx“ durch die Gegenüberstellung mit dem Begriff „pneuma“ („Geist“) bereichert. Die Gegenüberstellung finde sich schon im AT, und zwar in Gen 6,3 und Jes 31,3. W. B. Russell III versucht beide Begriffe aus erlösungsgeschichtlicher Sicht zu verstehen. „Fleisch“ und „Geist“ stünden für die beiden in Galatien miteinander konkurrierenden Identitäten des Gottesvolks. Die Judaisten/Juden mit ihrer Bindung an das mosaische Gesetz stellten die „Gemeinschaft des Fleisches“ dar, die nicht von Gottes Geist beseelt ist. Die(jenigen) Christen dagegen, die von dem mosaischen Gesetz entbunden und körperlich von der Herrschaft der Sünde befreit sind, bildeten als Geistbeseelte die „Gemeinschaft des Geistes“ Vgl. W. B. Russell III, 1993, 179-187.
Zum Gegensatz „Fleisch“ – „Geist“ siehe auch E. A. C. Pretorius 1992, 441-460. Das „Fleisch“ werde als treibende Kraft bei der Rückkehr zu den Bindungen des Gesetzes, der Beschneidung und dem sonstigen äußerlichen Gesetzesgehorsam, verstanden. Mit dem „Geist“, der die Grenzen zwischen den Angehörigen des Gottesvolkes, welcher Herkunft oder Abstammung sie auch immer sind, beseitigt, werde dem „Fleisch“ jedoch ein Ende gesetzt.
Eine paradigmatische Analyse von Verben der Ermahnung in Gal 5-6 bietet J. S. Duvall 1994, 17-31, wobei er sich ausführlicher u. a. dem Verb „douleuete“ („dient“; 5,13) zuwendet.
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Beobachtungen: Auch V. 14 leitet vom Thema „Freiheit und Gesetzlichkeit“ zum Thema „Liebe und Begierden“ über. Paulus macht deutlich, dass er Gesetzlichkeit ablehnt, nicht das Gesetz - gemeint ist das biblische Religionsgesetz - an sich. Ihm geht es durchaus um die Erfüllung des Gesetzes, doch sieht er dies nicht dann als erfüllt an, wenn peinlich genau alle Satzungen und Gebote eingehalten werden, sondern wenn Nächstenliebe geübt wird.
Die Nächstenliebe setzt zwar Selbstliebe voraus, doch ist sie mit ich-fixiertem Verhalten nicht vereinbar. Wer Nächstenliebe übt, denkt zwar auch an sich, bezieht aber immer das Wohl des Nächsten in das eigene Handeln ein und stellt die eigenen Begierden zurück.
Bei dem „Wort“ („logos“) handelt es sich um ein Schriftzitat (= Zitat aus dem AT), das nicht aus einem einzigen Wort im eigentlichen Sinne, sondern aus einem ganzen Satz besteht. Deshalb kann statt „Wort“ auch „Satz“ übersetzt werden. Das Schriftzitat, ein Gebot, ist Lev 19,18 entnommen.
Das Verb „plêroô“ bedeutet zunächst einmal „füllen“. In dem einen Schriftzitat ist also das ganze Gesetz „gefüllt“. Das Füllen betrifft sowohl den Inhalt als auch das Tun: Zum einen enthält das Schriftzitat das ganze Gesetz, zum anderen hat das ganze Gesetz erfüllt, wer sein Leben am Schriftzitat ausrichtet.
Weiterführende Literatur: S. Westerholm 1986/87, 229-237 diskutiert, wie V. 14 auszulegen ist. Im Hinblick auf die Frage, ob Paulus‘ Theologie im Hinblick auf das Erfordernis der Gesetzesobservanz widersprüchlich ist, kommt er zu folgendem Ergebnis: Trotz des unsystematischen Charakters der Korrespondenz und der Verschiedenheit der Situationen, Problemstellungen und angesprochenen Gegner, sei der Apostel in mindestens drei Punkten konsequent: Erstens entnehme Paulus hinsichtlich des angemessenen Lebens nie einfach Vorschriften aus der Tora. Zweitens sage Paulus nur, dass die Christen das Gesetz„erfüllen“ sollen, nicht aber, dass sie es „tun“ sollen. Drittens spreche Paulus nie von der Erfüllung des Gesetzes, indem er christliches Verhalten vorschreibt, sondern nur indem er dessen Ergebnis beschreibt.
K.-W. Niebuhr 1999, 427-460 kommt anhand von Gal 5,14, Röm 13,8-10 und Jak 2,8-10 zu dem Ergebnis, dass Paulus und der Jakobusbrief übereinstimmend die Tora in der Gesamtheit als Einheit beschrieben, die ungeteilten Gehorsam verlange.
In Röm 10,4 heißt es: „Christus, das Ende des Gesetzes“. M. Stowasser 1996, 1-18 fragt: Christus, das Ende welchen Gesetzes? Sind die ethischen Gebote der Tora auch für Christen bindend oder stellt das Liebesgebot als „Erfüllung des Gesetzes“ (vgl. Gal 5,14; Röm 13,8-10) die Grundlage für ein neues, unabhängiges ethisches System dar? Ergebnis: Für den sittlichen Bereich lasse sich bei Paulus keine Stelle anführen, an der er in ähnlich expliziter Weise ein Ge- oder Verbot für aufgehoben erklärt, wie er dies für die kultisch-rituelle Tora insgesamt deutlich tue. Andererseits falle auf, dass er in den ermahnenden Teilen seiner Briefe auch dort nicht auf das Gesetz zurückgreift, wo für einen konkreten Fall ein entsprechendes Gebot zur Verfügung steht. Eine Antwort auf die Fragen sei schwierig, doch sei von der Gültigkeit zumindest einiger konkreter Einzelweisungen der Tora auszugehen (vgl. Röm 11,18.29; laut 9,4 gehöre auch das Gesetz zu den in 11,29 erwähnten Gaben), auch wenn der für die paulinische Tradition erhobene Befund zunächst eher skeptisch mache. M. Stowasser sieht das Liebesgebot als hermeneutisches Kriterium an. Diesem entsprächen manche atl. Sozialgesetze, die darüber hinausgehend selbst mit jenem sozialethisch selektiven Gesetzesbegriff in Einklang stünden, der sich im paulinischen Traditionsstrom vielfach widerspiegele.
Gemäß E. Lohse 1996, 378-389 fasse Paulus mit dem Ausdruck „Gesetz Christi“ die für das Leben der Christen geltende Weisung zusammen. Offensichtlich sei dieser Begriff seinen Gemeinden bereits bekannt gewesen, denn dieser erfahre keine Erläuterung. Wahrscheinlich handele es sich um eine paulinische Wortprägung, an die auch die Bemerkung des Apostels anklinge, er sei mitnichten ohne Gesetz, sondern sei einer, der unter dem Gesetz Christi stehe (vgl. 1 Kor 9,21). Indem Paulus sich dieser Wendung bediene, trete er in aller Entschiedenheit irrigen Behauptungen entgegen, als ob Freiheit in Christus mit Beliebigkeit oder Willkür eigenen Verhaltens verwechselt werden dürfte. Im Gegenteil, wer zu Christus gehört, sei ihm als seinem Herrn zum Gehorsam unterstellt.
G. F. Wessels 1992, 461-474 wendet sich gegen die Behauptung, dass 5,13-6,10 kein unerlässlicher Bestandteil der paulinischen Argumentation sei. Die positive Bewertung des Gesetzes in 5,14 bilde keinen Widerspruch zur antinomistischen Polemik des vorhergehenden Briefteils. Die Polemik des Apostels wende sich nicht gegen den Gesetzesgehorsam als solchen, sondern gegen das Gesetz als Eingangsvoraussetzung zur christlichen Gemeinschaft.
I.-G. Hong 1992, 113-130 meint, dass das Gesetz bei Paulus durchaus eine positive Rolle spiele. Zwar seien die beiden charakteristischen Aufgaben des Gesetzes, die Verpflichtung auf den Sinaibund und die wirkmächtige Versklavung, durch die Erlösungswerke Christi aufgehoben, doch stelle es gemäß Paulus trotz der nationalen Begrenzung einen Ausdruck der Liebe dar. Der Christ sei aber nicht gehalten, die Satzungen und Gebote des Gesetzes zu befolgen.
Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung der paulinischen Aussagen über die Liebe bietet O. Wischmeyer 1983, 222-236. Konkret auf die Traditionsgeschichte der Nächstenliebe geht O. Wischmeyer 1986, 161-187 ein. Dabei merkt sie an, dass auch im Judentum die Liebe als Geistgabe verstanden werden könne. Dasjenige, was Paulus vom Judentum trenne, sei also wieder der eine Punkt: Gesetz und Geist einander als sich ausschließend gegenüberzustellen (vgl. 5,18) und von daher die Liebe als Geistgabe (vgl. 5,22) an die Stelle des Gesetzes zu setzen, anstatt im ursprünglichen Septuaginta-Sinn das Liebesgebot als Bestandteil der Forderungen des Gesetzes zu verstehen.
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Beobachtungen: V. 15 beschreibt ein Verhalten, das im Gegensatz zur Liebe bzw. Nächstenliebe steht. Laut V. 13 steht der Liebe das „Fleisch“ entgegen. Folglich dürfte V. 15 ein Verhalten beschreiben, das mit dem „Fleisch“ verbunden ist. Da auch die Gesetzlichkeit dem am „Fleisch“ orientierten Leben entspricht, ist möglich, dass Paulus auf Folgen hinweist, die mit der Gesetzlichkeit verbunden sein können: Die Gemeindeglieder fallen übereinander her, vielleicht weil jeder besserwisserisch die Meinung vertritt, er selbst interpretiere die hebräische Bibel richtig und erfülle die Satzungen und Gebote am besten.
Da das in V. 15 beschriebene Fehlverhalten mit Gesetzlichkeit im Zusammenhang stehen kann, jedoch nicht muss, ist die Schlussfolgerung, dass die Gesetzlichkeit in den galatischen Gemeinden zu Besserwisserei und Streit führe, nicht zwingend. Zum einen scheint die von judaistischen Predigern verkündigte Verpflichtung zur Beschneidung und zum Halten des jüdischen Religionsgesetzes bisher erst bei einem noch die Minderheit darstellenden Teil der Gemeindeglieder Anklang gefunden zu haben (vgl. 5,7-9), wobei jedoch die Gefahr der Ausbreitung der Gesetzlichkeit in den Gemeinden besteht; zum anderen ist nicht klar, in welchem Maße das gegenseitige Beißen und Zerfleischen den realen Zustand in den galatischen Gemeinden darstellt. Sicher ist nur, dass Paulus die Gefahr eines solchen Verhaltens sieht - sei es mit der Gesetzlichkeit verbunden oder nicht.
Paulus benutzt Bilder aus der Tierwelt, um das mit dem „Fleisch“ verbundene Fehlverhalten zu beschreiben: Die Gemeindeglieder beißen und fressen/zerfleischen sich. Das Fehlverhalten dient nicht dem Nächsten, sondern schadet ihm bis hin zur Vernichtung, wobei sich die Vernichtung auf die seelische Zerstörung oder Zerstörung des guten Rufes beziehen dürfte.
Möglicherweise führt Paulus - zusätzlich zum Stichwort „Fleisch“ - ein Wortspiel zur Bildersprache aus der Tierwelt: In V. 13 hieß es „douleuete allêlois“ („dient einander“), in V. 15 „allêlous daknete“ („einander beißt“). Die Worte haben den gleichen Anlaut, jedoch entgegengesetzte Bedeutung.
Wer beißt und zerfleischt, muss damit rechnen. selbst „verschlungen“ und somit Opfer einer solchen Attacke zu werden. Ein Verhalten, das demjenigen der Nächstenliebe widerspricht, schadet letztendlich der eigenen Person. Eine solche Selbstschädigung ist der Selbstliebe entgegengesetzt.
Weiterführende Literatur:
Literaturübersicht
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Duvall, J. Scott; Pauline Lexical Choice Revisited: A Paradigmatic Analysis of Selected Terms of Exhortation in Galatians 5 and 6, FN 7/13 (1994), 17-31
Esler, Philip F.; Family Imagery and Christian Identity in Gal 5:13 to 6:10, in: H. Moxnes [ed.], Constructing Early Christian Families, London 1997, 121-149
Gench, Francis Taylor; Galatians 5:1,13-25, Interpr 46/3 (1992), 290-295
Hong, In-Gyu; The Perspective of Paul in Galatians, Scriptura 36 (1991), 1-16
Hong, In-Gyu; The Law and Christian ethics in Galatians 5-6, Neotest 26/1 (1992), 113-130
Konradt, Matthias; Die Christonomie der Freiheit. Zu Paulus’ Entfaltung seines ethischen Ansatzes in Gal 5,13-6,10, Early Christianity 1/1 (2010), 60-81
Lohse, Eduard; Das Gesetz Christi. Zur theologischen Begründung christlicher Ethik im Galaterbrief, in: R. Kampling, T. Söding [Hrsg.], Ekklesiologie des Neuen Testaments, FS K. Kertelge, Freiburg 1996, 378-389
Martin, Troy W.; The Brother Body: Adressing and Describing the Galatians and the Agitators as Adelphoi, BR 47 (2002), 5-18
Niebuhr, Karl-Wilhelm; Tora ohne Tempel. Paulus und der Jakobusbrief im Zusammenhang frühjüdischer Torarezeption für die Diaspora, in: B. Ego u. a. [Hrsg.], Gemeinde ohne Tempel (WUNT 118), Tübingen 1999, 427-460
Pretorius, E. A. C.; The Opposition pneûma and sarx as Persuasive Summons (Galatians 5,13- 6,10), Neotest 26/2 (1992), 441-460
Russell III, Walter Bo; The Apostle Paul’s Redemptive-Historical Argumentation in Galatians 5:13-26, WTJ 57/2 (1995), 333-357
Russell III, Walter Bo; Does the Christian have „Flesh“ in Gal 5:13-26?, JETS 36/2 (1993), 179-187
Schewe, Susanne; Die Galater zurückgewinnen. Paulinische Strategien in Galater 5 und 6 (FRLANT 208), Göttingen 2005
Stowasser, Martin; Christus, das Ende welchen Gesetzes? Eine Problemanzeige, PzB 5/1 (1996), 1-18
Ukwuegbu, Bernard O.; Paraenesis, Identity-defining Norms, or Both? Galatians 5:13-6:10 in the Light of Social Identity Theory, CBQ 70/3 (2008), 538-559
Weder, Hans; Die Normativität der Freiheit. Eine Überlegung zu Gal 5,1.13-25, in: M. Trowitzsch [Hrsg.], Paulus, Apostel Jesu Christi, FS G. Klein, Tübingen 1998, 129- 145
Wessels, G. F.; The Call to Responsible Freedom in Paul’s Persuasive Strategy 5,13-6,10, Neotest 26/2 (1992), 461-474
Westerholm, Stephen; On Fulfilling the Whole Law (Gal 5:14), SEÅ 51/52 (1986/87), 229- 237
Wischmeyer, Oda; Traditionsgeschichtliche Untersuchung der paulinischen Aussagen über die Liebe (agapê), ZNW 74 (1983), 222-236
Wischmeyer, Oda; Das Gebot der Nächstenliebe bei Paulus: eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, BZ 30 (1986), 161-187