Röm 6,15-23
Übersetzung
Röm 6,15-23:15 Was nun? Sollen wir sündigen, weil wir nicht unter [dem] Gesetz, sondern unter [der] Gnade sind? Mitnichten! 16 Wisst ihr nicht: Wem ihr euch als Sklaven zum Gehorsam zur Verfügung stellt -, ihr seid Sklaven dessen, dem ihr gehorcht, entweder [der] Sünde zum Tode oder [des] Gehorsams zur Gerechtigkeit? 17 Aber Gott sei Dank: Ihr wart [wohl] Sklaven der Sünde, habt von Herzen [der Präge-]Form der Lehre gehorcht, der ihr ausgeliefert wart, 18 doch befreit von der Sünde wurdet ihr der Gerechtigkeit versklavt. 19 Menschliches rede ich wegen der Schwachheit eures Fleisches. Wie ihr nämlich eure Glieder als Sklaven der Unreinheit und Gesetzlosigkeit zur Verfügung stelltet zum Zweck der Gesetzlosigkeit, so stellt nun eure Glieder der Gerechtigkeit zur Verfügung zum Zweck der Heiligung. 20 Als ihr nämlich Sklaven der Sünde wart, wart ihr Freie gegenüber der Gerechtigkeit. 21 Doch welche Frucht hattet ihr damals? [Früchte], deren ihr euch jetzt schämt, denn ihr Endergebnis ist Tod. 22 Jetzt aber, nachdem ihr von der Sünde befreit und (dem) Gott versklavt worden seid, habt ihr eure Frucht zur Heiligung, als (das) Endergebnis aber ewiges Leben. 23 Denn der Sold der Sünde ist Tod, die Gnadengabe (des) Gottes aber ist ewiges Leben in Christus Jesus, unserm Herrn.
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Beobachtungen: In V. 12-14 hat Paulus dargelegt, dass die Getauften nicht mehr der Sünde dienen sollen. Abgeschlossen hat er die Ausführungen mit der Aussage, dass die Sünde nicht mehr „Herr“ über die Adressaten sein solle, denn diese seien nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. Diese Aussage führt ihn nun - wie schon in 6,1 - zu einer Widerlegung der Annahme seiner Gegner, dass er die Sünde predige. Die Tatsache, dass er wiederholt den Vorwurf zu widerlegen sucht, obwohl aus seinen Ausführungen längst hervorgegangen ist, dass dieser nicht stichhaltig ist, lässt vermuten, dass Paulus der Vorwurf besonders bewegt.
Das kategorische „Mitnichten!“ soll die Abwegigkeit des Vorwurfs unterstreichen. In 6,2-11 hat er die Abwegigkeit mit der Gemeinschaft der Getauften mit Christus begründet, in 6,16-23 begründet er sie mit der Herrschaft Christi. Sowohl die Gemeinschaft mit Christus als auch die Herrschaft Christi schließen aus, dass die Getauften in der Sünde verbleiben bzw. sündigen.
Weiterführende Literatur: Mit der Taufe und Gerechtigkeit im Römerbrief (3,25; 4,25; 6) befasst sich U. Schnelle 1983, 65-92. Er geht davon aus, dass drei Faktoren die paulinische Argumentation im Römerbrief beeinflussten: a) Die noch nicht lange zurückliegenden Konflikte in Galatien und Korinth. b) Die Auseinandersetzungen zwischen Heiden- und Judenchristen in Rom. c) Gedankliche Probleme der eigenen Theologie.
Den wesentlichen Aussagegehalt von 6,1-23 versucht G. Bray 2000, 72-76 herauszuarbeiten.
Das auf die Taufe folgende neue Sein des Christen, wie es in Röm 5,20-7,6 zur Sprache kommt, hat Z. I. Herman 1986, 225-273 zum Thema.
A. J. M. Wedderburn 1983, 337-355 geht anhand von Röm 6 der Frage nach, inwieweit Paulus hellenistischen Traditionen und insbesondere der Theologie der Mysterienreligionen verpflichtet ist. A. J. M. Wedderburn geht nicht von einer direkten Beeinflussung seitens letzterer aus. Die Frage müsse eher lauten, ob Paulus diesem Milieu über den hellenistischen Judaismus oder über seine stärker hellenisierten Vorgänger im christlichen Glauben oder über beide verpflichtet ist.
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Beobachtungen: Wer den Vorwurf für berechtigt hält, weiß nicht. Paulus appelliert jedoch an das Wissen der Adressaten. Das Wissen bezieht sich auf das Bewusstsein, dass das irdische Dasein ein Dienst ist. Der Mensch ist in jedem Fall ein Sklave. Als Sklave hat er gehorsam zu sein und sich dem Herrn zur Verfügung zu stellen. Folglich ist die Frage nicht, dass er gehorcht, sondern wem er gehorcht.
Der Gebrauch des Begriffs „Sklave“ („doulos“) ist auf dem Hintergrund antiker Gesellschaftsverhältnisse zu verstehen. So war in der Antike Sklaverei nichts Ungewöhnliches. Dabei beinhaltet der Begriff „Sklave“ nicht nur den Aspekt des Gehorsams, sondern auch des Zwangs: Ein Sklave muss seinem Herrn gehorchen. Dass Paulus den Dienst des Menschen jedoch nicht nur als Zwang ansieht, zeigt der Gebrauch des Verbs „sich zur Verfügung stellen“ („paristanô“), das eine gewisse Freiwilligkeit annehmen lässt. Vielleicht hat Paulus hier im Blick, dass man sich selbst in die Sklaverei verkaufen kann, um mit dem Erlös einer zwingenden Verpflichtung nachzukommen, aber auch in der Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse.
Zwei Herren sind es, denen der Gehorsam gelten kann: die Sünde und der Gehorsam. Weder die Sünde noch der Gehorsam wird definiert. Paulus merkt nur an, zu welchem Schicksal beides führt: Die Sünde führt zum Tod, der Gehorsam zur Gerechtigkeit.
Bei dem Tod kann es sich um den Tod auf Erden, den leiblichen Tod, handeln, aber auch um den Tod, der die gesamte Existenz betrifft. Da nicht alle Sünder sogleich der leibliche Tod heimsucht, ist davon auszugehen, dass Paulus den Tod der gesamten Existenz meint. Dieser trifft jeden Sünder. Wie man sich den existenziellen Tod zu denken hat, bleibt offen. Klar ist nur, dass eine Auferstehung zum ewigen Leben - nicht jedoch die Auferstehung an sich, die ja auch zur Verdammung erfolgen kann! - ausgeschlossen ist.
Merkwürdig mutet an, dass man dem Gehorsam gehorchen kann. Der Gehorsam erscheint wie die Sünde als eine Person. Wer dem Gehorsam gehorcht, gelangt zur Gerechtigkeit. Bei dem Begriff „Gerechtigkeit“ kann die Gerechtigkeit im sozialen Sinn, das rechte, irdische Leben und die Rechtfertigung des Menschen vor Gott im Blick sein. Da es sich bei dem Tod vermutlich um den existenziellen Tod handelt und nicht allein um den leiblichen, ist wohl auch die Gerechtigkeit in einem Sinn zu verstehen, der über rein diesseitige Deutungen hinausreicht. Wahrscheinlich meint der Begriff „Gerechtigkeit“ die Rechtfertigung vor Gott bei dem endzeitlichen Weltgericht, die zum ewigen Leben führt. Das ewige Leben ist der Gegensatz zum (ewigen) Tod.
Es stellt sich die Frage, wem der personifizierte Gehorsam gilt. Die Lösung ist von dem Ziel her zur erschließen. Wenn derjenige, der dem Gehorsam gehorsam ist, gerechtfertigt wird, so kann er nur christusgläubig sein. Die Rechtfertigung des Menschen erfolgt nämlich aufgrund Christi stellvertretenden Kreuzestodes und Auferweckung von den Toten. Das Heilsgeschehen muss geglaubt werden. Folglich erfolgt der Gehorsam im Glauben an Christus. An anderer Stelle (1,5) spricht Paulus auch ausdrücklich vom „Glaubensgehorsam“. Das Heilsgeschehen, das es zu glauben gilt, ist Inhalt des gepredigten Evangeliums. In 6,16 dürfte also der Gehorsam gegenüber dem Inhalt des Evangeliums gemeint sein. Aus dem Gehorsam gegenüber dem Inhalt des Evangeliums resultiert eine gottgefällige Lebensweise. Diese ist der sündigen Lebensweise entgegengesetzt.
Weiterführende Literatur: J. W. Aageson 1996, 75-89 befasst sich mit der Sprache der Kontrolle, wie sie bei dem Wort „doulos“ („Sklave“) und allen abgeleiteten Worten besonders deutlich zutage trete. Im Kontrast dazu stehe „eleutheros“ („frei“), ein Begriff, der sich sowohl auf den Menschen beziehe, der nie Sklave war, als auch auf denjenigen, der es nicht mehr ist.
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Beobachtungen: Paulus dankt Gott für das Verhalten der Adressaten. Er sieht also die Todesverfallenheit als etwas Schreckliches an und dankt dafür, dass die römischen Christen ihr nicht ausgeliefert sind. Den Grund für den Dank dürfte ihr Verhalten sein, das Paulus in V. 17-18 darlegt. Dabei ist jedoch unklar, ob schon das in V. 17 beschriebene Verhalten als positiv angesehen wird oder ob Paulus eine Wende beschreibt - eine Wende vom in V. 17 dargelegten negativen Verhalten hin zum in V. 18 dargelegten positiven Verhalten.
Der Grund für diese Unklarheit ist die fragliche Bedeutung der Formulierung „typos didachês“. Ein „typos“ ist eigentlich ein „Vorbild/Vorausbild“, d. h. etwas Zukünftiges wird im Voraus abgebildet. So handelt es ich um einen „typos“, wenn Paulus in einer Erzählung der hebräischen Bibel ein Christusereignis im Voraus dargestellt sieht. Nun ist in Röm 6,17 nicht von einem „Vorausbild“ eines Christusereignisses, sondern einer Lehre die Rede. Doch wie kann eine Lehre vorausgebildet sein? Handelt es sich um die Vorform einer Lehre? Das würde die Frage aufwerfen, warum Paulus nicht von der Lehre an sich spricht. Eher ist also anzunehmen, dass hier „typos“ als eine bestimmte Gestalt einer Lehre oder ein bestimmter Lehrinhalt zu verstehen ist. Um was für eine Lehre es sich handelt, bleibt offen. Nimmt man an, dass das Evangelium Christi gemeint ist, dann dürfte von einer positiven Beurteilung der Lehre auszugehen sein. Nimmt man dagegen an, dass es sich um eine nichtchristliche Lehre handelt, dann dürfte die Bewertung seitens des Apostels negativ ausfallen. Zu beachten ist die distanzierte Redeweise des Apostels. Sollte Paulus den Inhalt oder die Gestalt des Evangeliums tatsächlich als „(Präge-)Form der Lehre“ bezeichnen? Auf jeden Fall kann es sich nicht um paulinische Verkündigung handeln, denn Paulus hat in Rom nicht missioniert. Am wahrscheinlichsten ist, dass die distanzierte Redeweise auf eine nichtchristliche Lehre verweist, wobei erstaunt, dass diese nicht mit einer deutlicher negativ gefärbten Formulierung versehen wird.
Die Adressaten wurden der „(Präge-)Form der Lehre“ übergeben. Auch das Verb „übergeben werden“ („paradidomai“) weist auf eine gewisse Distanz hin. Geht man von einer negativen Bewertung des in V. 17 geschilderten Geschehens seitens des Apostels aus, dann kann man das Verb auch negativ im Sinne von „ausgeliefert werden“ deuten.
Die Formulierung „ek kardias“ („von Herzen“) unterstreicht die Freiwilligkeit des Geschehens. Die Adressaten wurden freiwillig der „(Präge-)Form der Lehre“ übergeben/ausgeliefert“. Vielleicht kann man darüber hinausgehend sagen, dass das Geschehen von ganzem Herzen, also mit voller Zustimmung erfolgte.
Weiterführende Literatur: Laut R. A. J. Gagnon 1993, 667-687 sei V. 17b am besten mit „you obeyed from the heart the imprint stamped by teaching, to which (imprint) you were handed over.” Der Genitiv “didachês” (“der Lehre”) gebe vermutlich die Quelle an. Negativ ausgedrückt sage die Formulierung „typos didachês“ („Form/Einprägung der Lehre“) nichts über das Muster frühchristlicher Lehre, über eine feste Form der Tauflehre oder über die Nachfolge Christi aus. Es handele sich auch nicht um eine Glosse oder einen Bezug auf vorchristliches Leben. Positiv ausgedrückt bekräftige es vielmehr durch den Gebrauch eines weiteren Bildes die für das paulinische Denken zentrale Bedeutung der vorhergehenden, inneren Umformung des Gläubigen, die durch das Evangelium und den Geist vollendet werde, ebenso wie des gleichzeitigen Erfordernisses des Gehorsams.
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Beobachtungen: Die Adressaten wurden von der Sünde befreit. Diese Befreiung ist auf jeden Fall erfolgt, bevor sie der Gerechtigkeit versklavt wurden. Die Formulierung „der Gerechtigkeit versklavt werden“ dürfte als „dem christlichen Glauben übergeben werden“ zu deuten sein, denn die Gerechtigkeit ist ja untrennbar mit dem christlichen Glauben verbunden (vgl. V. 16). Es ist gut möglich, dass Paulus bei den Formulierungen in V. 18 an verschiedene Schritte des Glaubensübertritts denkt: Absage an den alten Glauben (= Befreiung von der Sünde), Annahme des neuen Glaubens mit der Taufe (= der Gerechtigkeit versklavt werden). Da fraglich ist, ob es sich bei der „(Präge-)Form der Lehre“ um die christliche Lehre handelt, ist auch unklar, ob diese Lehre mit der Sünde oder mit der Gerechtigkeit in Zusammenhang zu bringen ist. Folglich ist auch unklar, ob die Adressaten „der (Präge)-Form der Lehre“ vor der Befreiung von der Sünde oder erst danach (bzw. gleichzeitig, falls Befreiung von der Sünde und Übergabe an die christliche Lehre als ein einziger Vorgang gesehen werden) übergeben wurden.
Paulus bewertet die Sklaverei keinesfalls als etwas grundsätzlich Verwerfliches, denn er hält es für gut, dass die Adressaten der Gerechtigkeit versklavt wurden. Andernfalls würde er sicherlich Gott nicht dafür danken. Er bewertet die Sklaverei in 6,15-23 einzig und allein unter dem Gesichtspunkt, wem der Sklavendienst gilt. Gilt er der Sünde, dann ist sie negativ, gilt sie dem (Glaubens-)Gehorsam, dann ist sie positiv.
Weiterführende Literatur: Laut J.-S. Viard 2002, 351-366 verbänden zahlreiche Passagen der Paulusbriefe die Freiheit mit der Versklavung (vgl. Gal 5,13 u. a.). Angesichts dieser Passagen kämen die Leser zum Schluss, dass die Freiheit nicht dazu da sei, nach eigenem Gutdünken zu leben, sondern sich in der Möglichkeit und Notwendigkeit des Gehorsams äußere. Daher fragt sich J.-S. Viard: Wenn, auf die Freiheit bezogen, die paulinische Botschaft letztendlich den Gehorsam des Gläubigen zum Ziel hat, kann man dann noch die Freiheit als eines der wesentlichen Themen des Apostels ansehen? Antwort: Der Abschnitt 6,15-23 habe weder zum Ziel, den Leser zum Gehorsam zu rufen, noch die Freiheit oder die Befreiung des Gläubigen zu betonen. Vielmehr gehe es darum, die römische Gemeinde für die ethischen Imperative des Christentums zu sensibilisieren.
E. Wasserman 2008, 387-415 wendet sich gegen die ihrer Meinung nach vorherrschende Sicht, dass Paulus nur in geringem Maße von griechischen gelehrten Traditionen beeinflusst sei. Tatsächlich lägen Röm 6-8 bestimmte platonische Traditionen über die Seele zugrunde. Platonischer Diskurs erkläre die Attribute und Funktionen der Sünde in Röm 6-8, wo sie in ähnlicher Weise herrsche (6,12), versklave (6,13.18.20; 7,14), Krieg führe (7,23), gefangen nehme (7,23) und töte (7,10-11.13)
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Beobachtungen: Paulus redet „Menschliches“ („anthrôpinon“), doch was ist darunter zu verstehen? „Menschliches“ - ganz allgemein gesagt - mit dem Menschen verbunden. Der Mensch hat einen bestimmten, begrenzten Denkhorizont und lebt auf Erden in einer ganz bestimmten Erfahrungswelt. „Menschliches“ ist nicht an einen ganz bestimmten Menschen oder ein ganz bestimmtes Volk gebunden, sondern an das gesamte Menschengeschlecht. Unklar ist, ob Paulus „Menschliches“ in einem positiven, neutralen oder negativen Sinn versteht. Wenn Paulus „Menschliches“ redet, so redet er auf eine solche Weise, dass ihn seine Adressaten verstehen können, weil es ihrer Denk- und Lebenswelt entspricht. Das kann man für gut halten, weil sich der Sprechende/Schreibende ja hinsichtlich Art und Inhalt der Sprache an den Adressaten orientieren sollte. Man kann sich aber auch einer Bewertung enthalten und es als selbstverständlich hinnehmen, dass Paulus „Menschliches“ redet. Wie solle er auch sonst reden? Man kann aber auch die Meinung vertreten, dass es schlecht sei, dass Paulus „Menschliches“ redet, weil die Denk- und Lebenswelt der Menschen eben nicht die ganze Wahrheit wiedergibt, sondern beschränkt ist. Die göttliche Weisheit bleibt außen vor.
Will man das „Menschliche“ weiter konkretisieren und herausfinden, wie Paulus den Begriff bewertet, so ist zunächst zu schauen, was Paulus denn „Menschliches“ geredet hat. Es ist davon auszugehen, dass sich das „Menschliche“ im unmittelbar Vorhergehenden (= V. 15-18) findet. Es fällt auf, dass Paulus den Gehorsam thematisiert, indem er das Bild der Sklaverei verwendet, also ein den Adressaten aus ihrem Leben oder zumindest aus ihrem gesellschaftlichen Umfeld bekanntes Bild. Das ist entweder positiv oder neutral zu beurteilen. Der Inhalt des Geschriebenen/Geredeten ist in keiner Weise beschränkt, also von einem in Glaubensdingen unreifen Menschen gesprochen oder an derartigen Menschen orientiert. Das Geschriebene/Geredete ist durchaus im Sinne des Evangeliums und somit der göttlichen Weisheit. Dass das „Menschliche“ negativ wäre, lässt sich also nicht sagen. Auch die ähnliche Formulierung „kata anthrôpon“ („nach Menschenweise“) ist nicht grundsätzlich negativ im Sinne menschlicher Beschränktheit zu verstehen (vgl. Gal 3,15. wo ebenfalls die Benutzung eines Bildes aus der Denk- und Lebenswelt der Adressaten gemeint ist).
Einen negativen Beigeschmack bekommt das Reden des „Menschlichen“ erst durch die Begründung mit der „Schwachheit des Leibes“ der Adressaten. Das „Fleisch“ meint im engeren Sinn den fleischlichen Körper, dann aber auch im weiteren Sinne den ganzen Menschen. Im engen Sinn ist „Schwachheit des Fleisches“ wohl nicht zu verstehen, denn die Rede des Apostels orientiert sich ja nicht an dem fleischlichen Zustand der Adressaten, sondern an ihrem Denkhorizont. Der Begriff „Fleisch“ („sarx“) ist also vermutlich auf den ganzen Menschen, speziell sein Denken und Verstehen, bezogen. Die „Schwachheit“ ist dementsprechend nicht eine Krankheit oder körperliche Begierde, sondern die Beschränkung des Denkens und Verstehens auf die menschliche Lebenswelt. Weil göttliche Weisheit nicht ohne weiteres menschlichem Denken und Verstehen zugänglich ist, konkretisiert Paulus sie mittels eines Bildes aus der Denk- und Lebenswelt des Menschen. Diese „Erdung“ ist wohl weder etwas besonders Negatives noch etwas besonders Positives, sondern etwas Neutrales, den Erfordernissen Entsprechendes.
Auch die weiteren Aussagen des V. 19 dürften nicht speziell auf den Körper zu beziehen sein, sondern auf den ganzen Menschen. Die Glieder sind folglich als Werkzeuge beim Handeln des ganzen Menschen zu verstehen. Auch die Unreinheit ist wohl nicht in erster Linie körperlich zu deuten, sondern als eine Lebensweise, die nicht rein, also gottgefällig ist. So sagt man ja auch, wenn sich jemand nichts hat zuschulden kommen lassen, dass er eine weiße Weste habe.
„Unreinheit“ wird von Paulus eindeutig negativ bewertet. Folglich muss auch die im gleichen Atemzug genannte „Gesetzlosigkeit“ etwas Negatives sein. Es kann sich also nicht um Freiheit vom Dasein unter das jüdische Religionsgesetz handeln, denn diese befürwortet Paulus ja durchaus. Vermutlich ist die „Gesetzlosigkeit“ als Freiheit von allen moralischen und ethischen Bindungen zu verstehen, also als völlige Freizügigkeit. Diese lehnt Paulus ab. Die Christen sollen durchaus ein Gesetz“ befolgen. Dieses „Gesetz“ entspringt nicht allgemeinen ethischen Überlegungen, sondern ist am jüdischen Religionsgesetz orientiert. Paulus lehnt dieses nicht grundsätzlich ab, hält jedoch die Vorstellung frommer Juden für abwegig, dass man mit strenger Befolgung sämtlicher Satzungen und Gebote des jüdischen Religionsgesetzes, wie es sich in der Tora findet, gerechtfertigt werden könne. Aus Sicht des Heidenapostels ist das (jüdische Religions-)Gesetz erfüllt, wenn das zentrale Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (vgl. Lev 19,18) befolgt wird (vgl. Gal 5,14). Mit der Befolgung dieses Gebotes sind durchaus erhebliche Konsequenzen für die Lebensführung verbunden. Dazu gehört es z. B. auch, die Lasten des Anderen zu tragen. Das bezeichnet Paulus ausdrücklich als „Gesetz Christi“ (vgl. Gal 6,2).
„Unreinheit“ und „Gesetzlosigkeit“ sind ebenso Charakteristika heidnischen Lebens wie die „Ungerechtigkeit“ („adikia“; vgl. Röm 1,18-32), die soziale Ungerechtigkeit, den gottwidrigen Lebenswandel oder auch die fehlende Rechtfertigung am Ende der Tage meinen kann. Das Gegenteil von „Ungerechtigkeit“ ist „Gerechtigkeit“, wie sie für Christen charakteristisch ist.
Paulus nennt auch den Zweck des Handelns, der bei den Heiden die Gesetzlosigkeit ist, bei den Christen die Heiligung. Heiligung entspringt nicht der Gesetzlosigkeit, sondern der Erfüllung des Gebotes der Nächstenliebe bzw. der Befolgung des „Gesetzes Christi“. Auf jeden Fall ist die Heiligung an den Gott Israels gebunden, der auch Gott der Christen ist. Das Wesen und das Verhalten des Gottesvolkes sollen seinem Gott, der heilig ist, entsprechen (vgl. Lev 19,2).
Weiterführende Literatur: W. H. Hagen 1981, 364-367 vertritt die Meinung, dass die V. 13.19 nicht von Paulus stammen, sondern von einem Redaktor später eingeschoben worden seien.
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Beobachtungen: Gesetzlosigkeit ist nur scheinbar in jeder Hinsicht Freiheit. Tatsächlich ist die Freiheit auf eine bestimmte Beziehung beschränkt, und zwar auf diejenige zur Gerechtigkeit. Wenn Gerechtigkeit aber etwas Positives ist, so kann die Freiheit von ihr nur negativ sein. Die Freiheit bezieht sich nicht auf die Beziehung zur Sünde, der die Heiden - und somit in der Vergangenheit auch die Adressaten - versklavt sind bzw. waren.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Wie ein auf eine bestimmte Art beschaffener Baum bestimmte Früchte hervorbringt, so bringt auch ein Mensch „Früchte“ hervor, und zwar seinen Leitlinien entsprechend. Die „Sklaven der Sünde“, die „Freien gegenüber der Gerechtigkeit“ bringen Früchte hervor, „derer ihr euch jetzt schämt“. „Jetzt“ sind die Adressaten Christen, d. h. als Christen schämen sie sich der „Früchte“, die sie vor ihrer Bekehrung zum Christentum hervorgebracht haben. Als Heiden haben sie es nicht getan.
Damals war das Endergebnis der „Früchte“ der Tod, wobei eher der existenzielle als der rein leibliche Tod gemeint sein dürfte (vgl. V. 16). Der Tod ist also nicht selbst die „Frucht“. Bei den „Früchten“ dürfte es sich um die gottwidrigen Verhaltensweisen handeln, derer sich die bekehrten Adressaten schämen.
Dass die Heiden den Tod zu erwarten haben, hängt damit zusammen, dass sie von der Gerechtigkeit frei sind. Sie sind von der Verpflichtung zum gottgefälligen Lebenswandel befreit, werden aber auch nicht gerechtfertigt. Wer nicht gerechtfertigt wird, kann im endzeitlichen Weltgericht nicht bestehen und geht daher nicht ins ewige Leben ein.
Weiterführende Literatur: J. T. Reed 1993, 244-257 macht zunächst die Doppeldeutigkeit von V. 21-22 deutlich: In V. 21 könne „tina“ mit Akzent, ein Interrogativpronomen („welche“), mit dem Imperfekt Indikativ „eichete“ („hattet ihr“) zu einer Frage („Doch welche Frucht hattet ihr damals?“) verbunden sein. Es könne aber auch „tina“ ohne Akzent als unbestimmtes Pronomen („ein“) mit „eichete“ eine Aussage bilden („Ihr hattet damals eine bestimmte Frucht.“). In V. 22 könne „echete“ als Indikativ oder als Imperativ gedeutet werden. In ersterem Fall mache Paulus eine Aussage über seine Adressaten („Jetzt aber … bringt ihr eine Frucht zur Heiligung hervor.“), in letzterem Fall ermahne er sie („Jetzt aber … bringt eine Frucht zur Heiligung hervor!“). J. T. Reed ist mit Verweis auf grammatische und rhetorische Gründe der Meinung, dass V. 21 indikativisch als Aussage zu verstehen sei. Es handele sich um eine Aussage zum früheren Leben der Adressaten. V. 22 dagegen sei imperativisch zu deuten: Paulus ermahne die Adressaten, gemäß ihren neuen Status „in Christus“ zu leben.
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Beobachtungen: V. 22 stellt wie schon die V. 20-21 die Vergangenheit klar der Gegenwart gegenüber. Der gegenwärtigen „Früchte“ brauchen sich die Adressaten nicht zu schämen. Als Christen haben sie „Früchte der Heiligung“, d. h. ihr Lebenswandel entspricht dem heiligen Gott. Das Endergebnis ist nicht der (ewige) Tod, sondern das ewige Leben.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Der Begriff „opsônion“ („Sold/Lohn“) bezeichnet einen Lohn, wobei es sich um die Beschaffung von Lebensmitteln, den Arbeitslohn oder den Sold eines Soldaten handeln kann. Auf jeden Fall trägt er gewöhnlich zum Lebensunterhalt bei, dient also dem (körperlichen) Leben. Der Lohn der Sünde ist allerdings anders beschaffen, denn er ist der Tod. Es handelt sich also um einen sehr schlechten Lohn, weshalb es sich nicht lohnt, der Sünde zu dienen. Lohnenswert ist dagegen der Dienst für Gott. Allerdings zahlt dieser keinen Lohn, sondern schenkt eine Gnadengabe (charisma), nämlich das ewige Leben. Auf die Gnadengabe hat der Mensch im Gegensatz zum Lohn keinen Anspruch, weil er sie sich nicht verdient hat.
„In Christus Jesus“ verweist wahrscheinlich auf die Heilssphäre, in der sich der verstorbene Gläubige aufgrund seiner geschenkten Rechtfertigung befinden wird. Kennzeichen des Daseins in der Heilssphäre sind die Glaubensverbindung und die räumliche Nähe zu Jesus Christus.
Weiterführende Literatur: K. L. Yinger 1999, 187-192 geht folgenden beiden Fragen nach: In welchem Ausmaß ist ethische Gerechtigkeit gemäß 6,23 für das letztendliche Heil erforderlich? Widerspricht die Vermeidung von Lohnterminologie im Hinblick auf das ewige Leben der Deutung von 2,6-11, wonach das ewige Leben ausdrücklich eine Vergeltung für die Guten ist? Ergebnis: Gemäß Paulus sei die Gnade Gottes der Grund und der Glaube das Instrument der Rechtfertigung. Dadurch werde aber der Gehorsam des Gläubigen Gott bzw. Christus gegenüber nicht irrelevant oder zweitrangig. Der Gehorsam des Gläubigen in Christi Herrschaftsbereich sei es, der schließlich zum ewigen Leben führt.
C. Gerber 2001, 129-142 erläutert zunächst anhand von 1 Kor 9,7a metaphorisches Argumentieren und befasst sich dann mit der Sündenmetaphorik Röm 6,12-14.23, wobei sie auch auf den Herkunftsbereich der in diesem Rahmen benutzten Militärmetaphern eingeht. Demnach habe das römische Heer als Berufsheer aus Soldaten bestanden, die sich in der Regel in jungen Jahren zu einer Dienstzeit von im Schnitt 20 Jahren verpflichtet hätten. Während die Gefahren des Soldatenlebens damals kaum gefürchtet gewesen seien, weil es für das stehende Heer nur selten Kriegszeiten gegeben habe, sei die Attraktivität des Berufs gerade für römische Bürger unterer Schichten und Männer ohne Bürgerrecht groß gewesen, habe der Soldatenberuf doch soziale Sicherheit, Unterhalt und eine Existenzgrundlage für ein späteres Leben sowie Aufstiegschancen, etwa die Möglichkeit für Peregrinen, durch Dienst in Hilfstruppen das römische Bürgerrecht zu erwerben, geboten. Der pekuniäre Aspekt des Dienstes – bis zum Ende der Dienstzeit seien verschiedene Summen zusammengekommen – habe den größten Reiz ausgemacht.
S. S. Schatzmann 1987, 17-18 merkt zu Röm 6,23 in Verbindung mit 5,15-16 an, dass der Begriff „charisma“ jedes auf Gottes Gnade gründende Geschenk – sei es gegenwärtig oder zukünftig – meine. Auf Grund von 6,23 könne jeder, der Gottes „charisma“ der Gerechtigkeit und damit auch des ewigen Lebens empfangen habe, als Charismatiker gelten.
Das Charisma (Gnadengabe) und Amt bei Paulus hat N. Baumert 1986, 203-228 zum Thema, der auf S. 215-216 konkret auf Röm 6,21-23 eingeht. Der Kontext lasse hier hinsichtlich des Begriffs „charisma“ die Bedeutung „Geschenk“ annehmen. Möglicherweise liege eine Assoziation an das sogenannte „donativum“ vor, eine Art Gratifikation für Soldaten.
Laut O. Betz 1990, 259 sei gemäß V. 23 die Gnadengabe Gottes im Gegensatz zum Sold ein unverdientes Geschenk.
Literaturübersicht
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Aageson, James W.; „Control“ in Pauline Language and Culture: A Study of Rom 6, NTS 42/1 (1996), 75-89
Baumert, Norbert; Charisma und Amt bei Paulus, in: A. Vanhoye [éd.], L’ apôtre Paul. Personnalité, style et conception du ministère (BETL 73), Leuven 1986, 203-228
Betz, Otto; Der biblische Hintergrund der paulinischen Gnadengaben, in: O. Betz [Hrsg.], Jesus Herr der Kirche. Aufsätze zur biblischen Theologie II (WUNT 52), Tübingen 1990, 252-274
Bray, Gerald; Dead to Sin and Alive to Christ (Romans 6:1-23), Evangel 18/3 (2000), 72-76
Gagnon, Robert A. J.; Heart of Wax and a Teaching that Stamps: Typos Didachês (Rom 6:17b), JBL 112/4 (1993), 667-687
Gerber, Christine; Vom Waffendienst des Christenmenschen und vom Sold der Sünde. Metaphorische Argumentation am Beispiel von Röm 6,12-14.23, in: P. Müller u. a. [Hrsg.], „…was ihr auf dem Weg verhandelt habt“, Neukirchen-Vluyn 2001, 129-142
Hagen, Wayne A.; Two Deutero-Pauline Glosses in Romans 6, ET 92/12 (1981), 364-367
Herman, Zvonimir Izidor; La novità Cristiana secondo Romani 5,20-7,6. Alcune osservazioni esegetiche, Anton. 61/2-3 (1986), 225-273
Reed, J. T.; Indicative and Imperative in Rom 6,21-22: The Rhetoric of Punctuation, Bib. 74/2 (1993), 244-257
Schatzmann, Siegfried S.; A Pauline Theology of Charismata, Peabody, Massachusetts 1987
Schnelle, Udo; Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie (GTA 24), Göttingen 1983
Viard, Jean-Sébastian; Obéissance ou liberté? Redécouverte structurelle de Rm 6,15-23, ScEs 54/3 (2002), 351-366
Wasserman, Emma; Paul among the Philosophers: The Case of Sin in Romans 6-8, JSNT 30/4 (2008), 387-415
Wedderburn, Alexander J. M.; Hellenistic Christian Traditions in Romans 6, NTS 29/3 (1983), 337-355
Yinger, Kent L.; Paul, Judaism, and Judgment according to Deeds (SNTS.MS 105), Cambridge 1999