Röm 11,13-16
Übersetzung
Röm 11,13-16:13 Euch aber, den Heiden, sage ich: Insofern ich nun Heidenapostel bin, preise ich meinen Dienst, 14 in der Hoffnung, mein Fleisch eifersüchtig zu machen und einige von ihnen zu retten. 15 Denn wenn ihre Verwerfung Versöhnung der Welt [bedeutet], was [bedeutet dann] die Annahme anderes als Leben von [den] Toten? 16 Wenn aber die Erstlingsgabe heilig ist, dann auch der [ganze] Teig; und wenn die Wurzel heilig ist, dann auch die Zweige.
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Beobachtungen: Paulus wendet sich nun ausdrücklich an die „ethnê“, wobei der Begriff sowohl die Heiden im Sinne von Nichtchristen und Nichtjuden als auch die Heidenchristen meinen kann. Dass Paulus sich ausdrücklich an Heiden wenden sollte, ist unwahrscheinlich, weil diese nicht Adressaten des Briefes sind. Adressaten des Briefes sind laut 1,7 „alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen, die in Rom sind“, also ausschließlich römische Christen. Will man nicht davon ausgehen, dass sich Paulus an eine fiktive, heidnische Leser- bzw. Zuhörerschaft wendet, so dürften mit den „Heiden“ Heidenchristen gemeint sein.
Sofern tatsächlich konkret die römischen Heidenchristen angeredet sind, stellt sich angesichts der fehlenden Anrede der Judenchristen die Frage, ob sich unter den römischen Christen keine Judenchristen befinden oder ob das im Folgenden Gesagte für die Judenchristen irrelevant ist und diese deshalb ausgeblendet werden. Da es im Präskript von den Empfängern heißt, dass sie zu den „Heiden“ gehören (vgl. 1,5-6), dürften die Christen in Rom mindestens mehrheitlich Heidenchristen sein. Dass nicht alle Christen in Rom Heidenchristen sind, geht aus dem breiten Raum, den das Thema „Israel und das Heil in Jesus Christus“ im Römerbrief einnimmt, sowie aus der Bezeichnung einiger in Rom befindlicher Christen als „Stammverwandte“ (vgl. 16,7.11) - da Paulus gebürtiger Jude ist, muss es sich ebenfalls um gebürtige Juden handeln - hervor. Da die Judenchristen jedoch weder im Präskript noch in 11,13 eigens genannt werden, dürfte ihr Anteil gering und daher zu vernachlässigen sein.
Angesichts der Tatsache, dass aus dem gesamten Abschnitt 9,1-11,36 nicht ersichtlich wird, dass Paulus konkret zu den Heiden oder Juden spricht, stellt sich die Frage, warum in 11,13 ausdrücklich die mehrheitlich heidenchristlichen Adressaten anredet. Zwei Antworten scheinen am plausibelsten zu sein: Entweder möchte Paulus den Adressaten in Erinnerung rufen, dass konkret sie selbst angesprochen sind oder er möchte verdeutlichen, dass die nachfolgenden Aussagen in besonderem Maße für die Adressaten relevant sind.
Aus V. 13-14 geht hervor, welche Aufgabe Paulus bei der Bekehrung der Juden zukommt. Paulus bezeichnet sich selbst als „Heidenapostel“. Er versteht sich also als ein Apostel, der speziell zu den Heiden gesandt ist. Die Juden gehören demnach nicht oder zumindest nicht vorrangig zu seiner Zielgruppe, womit die direkte Judenmission nicht seine Kernaufgabe ist.
Paulus versteht sein missionarisches Wirken als einen Dienst, wobei nicht gesagt ist, wem der Dienst gilt. Am ehesten ist davon auszugehen, dass es sich um einen Dienst im Auftrag Gottes bzw. Jesu Christi handelt, der den Menschen zugute kommt.
Paulus preist seinen Dienst, hält ihn also grundsätzlich für etwas Positives. Dabei dürfte es nicht um einen Selbstruhm im Sinne der Werkgerechtigkeit gehen, sondern um den Ruhm eines Dienstes zur Ehre Gottes bzw. Jesu Christi und zur Rettung der Menschen vor dem Verderben. Welche Menschen Paulus in 11,13-16 hinsichtlich der Rettung vorrangig im Blick hat, geht aus V. 14 hervor.
Weiterführende Literatur: M. Harding 1998, 55-69 geht dem Hintergrund der paulinischen Rede von der Zerstörung Israels und der überraschenden Rettung gemäß Röm 9-11 nach. Ergebnis: Der hermeneutische Rahmen, in dem sich Paulus bei der Darstellung der Zerstörung Israels bewege, sei mit demjenigen der Propheten und frühen jüdischen Autoren, die von deuteronomischen Formulierungen beeinflusst seien, identisch.
Zur Struktur und Bedeutung von Röm 11 siehe D. G. Johnson 1984, 91-103.
Zum Argumentationsfaden von Röm 11 und zu den exegetisch-theologischen Gesichtspunkten siehe J.-N. Aletti 2009, 197-223.
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Beobachtungen: In erster Linie hofft Paulus, „einige von ihnen“ zu retten. Die Formulierung „von ihnen“ ist als „von meinem Fleisch“ zu verstehen. Bei dem „Fleisch“ („sarx“) kann es sich also nur um eine Menschengruppe handeln, nicht um das körperliche Fleisch im eigentlichen Sinne. Die Formulierung „mein Fleisch“ ist also nicht so zu deuten, dass Paulus von seinem eigenem körperlichen Fleisch spricht, sondern es geht um die Zugehörigkeit verschiedener Menschen zum gleichen Volk, nämlich dem Volk des Heidenapostels. Paulus ist gebürtiger Jude (vgl. 2 Kor 11,22 u. a.; die jüdische Selbstbezeichnung ist „Israelit“), folglich sind auch diejenigen von seinem „Fleisch“ gebürtige Juden. Weil die Rettung eine Hoffnung ist, die noch nicht Realität geworden ist, hat Paulus nur Juden, nicht jedoch Judenchristen im Blick.
Die Rettung setzt die Eifersucht der Juden voraus. Aus 11,11-12 geht hervor, dass die Eifersucht daraus resultiert, dass das Heil aufgrund des Fehltritts der Mehrheit der Juden auf die Heiden übergegangen ist. Die zum christlichen Glauben bekehrten Heiden stellen nun die Vorbilder dar, die am Heil Anteil haben und die widerspenstigen Juden, die ihr Heil zu verlieren drohen, zur Eifersucht reizen. Diese Eifersucht bringt die Juden dazu, den Heidenchristen nachzueifern und sich selbst zum Glauben an Jesus Christus hinzuwenden. Der Mission unter den Heiden kommt somit besondere Bedeutung auch für das Heil der Juden zu. Folglich ist Paulus indirekt an der Bekehrung der Juden beteiligt.
Paulus äußert nur vorsichtig die Hoffnung, „einige von ihnen“ zu retten. Diese Vorsicht scheint im Widerspruch zur sehr optimistischen Hoffnung zu stehen, dass sich die Vollzahl der Juden zum christlichen Glauben hinwenden wird (vgl. 11,12). Wie lässt sich dieser Widerspruch lösen? Eine Lösung ist, die Hinwendung der Vollzahl der Juden zum Glauben an Jesus Christus nicht als reales zukünftiges Szenario zu deuten, sondern als einen Wunsch des Heidenapostels, der nicht in Erfüllung geht (vgl. die Beobachtungen zu V. 12). Eine weitere Möglichkeit ist der Verweis auf die Beschränktheit des Wirkens des Heidenapostels: Paulus ist sich bewusst, dass er zwar ein erfolgreicher Missionar ist, er jedoch nur neben anderen Missionaren wirkt. Dementsprechend klein ist auch sein Anteil an den durch missionarisches Wirken Geretteten. Folglich äußert Paulus nicht die Hoffnung, alle Juden oder die Mehrheit der Juden zu retten, sondern nur einige von ihnen. Zusätzlich mag die Formulierung von apostolischer Demut geprägt sein.
Weiterführende Literatur: Das eschatologische Heil des Volkes Israel Röm 11,1-36 thematisiert H. Hübner 1984, 99-126.
D. C. Allison 1985, 23-30 legt dar, dass in apokalyptischen Texten davon ausgegangen werde, dass die Umkehr Israels das Kommen des endzeitlichen Heils fördere. Umso erstaunlicher sei, dass Paulus in Röm 11,11-15 nicht auf die Rolle der Umkehr eingehe und stattdessen die Gnade Gottes betone. D. C. Allison untersucht diesen Sachverhalt und kommt zu dem Ergebnis, dass Paulus durchaus die Annahme vieler jüdischer Texte zugrunde lege, wonach die erwartete Hinwendung zu Gott und Versöhnung mit diesem das Eintreten des Reiches Gottes markiere. Dabei messe er jedoch im Hinblick auf das Kommen des Heils weniger der Umkehr der Israeliten an sich als vielmehr der Bekehrung der Heiden die zentrale Bedeutung zu.
Röm 11,11-15 sei gemäß V. Jegher-Bucher 1991, 326-336 eine in sich geschlossene Argumentationseinheit. Paulus suche hier auf verschiedene Arten – gemäß den Empfehlungen der antiken Rhetorik – seine Hörer und Leser zu überzeugen, dass Gott sein Volk nicht verstoßen, sondern „nur“ eingeschläfert hat und dass das Schicksal von Israel und den andern Völkern so verbunden ist, dass kein Teil leben oder das Heil erlangen kann, ohne mit seinem Handeln oder Nichthandeln den andern sogleich und wesentlich zu beeinflussen.
K. Litwak 2006, 229-249 geht zunächst auf Apg 28,16-31 und Röm 11 in ihrem Zusammenhang ein und legt dann dar, dass sich die in beiden Texten jeweils ganz spezifische Sichtweise des Apostels Paulus vom Unglauben der Juden nicht widerspreche. Übereinstimmungen gebe es bezüglich der paulinischen Selbstidentifikation als Israelit, der unterschiedlichen Reaktion der Juden auf die paulinische Predigt und der paulinischen Strategie der Verkündung von Predigtabsichten gegenüber den Heiden, um die jüdischen Zuhörer zur Eifersucht zu reizen. Eigenheiten seien im Lichte der unterschiedlichen Zuhörerschaft zu sehen.
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Beobachtungen: Das Possessivpronomen „ihre“ dürfte sich auf die Juden beziehen. Gemeint ist also die Verwerfung der Juden. Die Formulierung „ihre Verwerfung“ ist doppeldeutig: Sie kann besagen, dass die Juden verwerfen, und zwar Jesus Christus. Sie kann aber auch die Folge der Verwerfung Jesu Christi meinen, nämlich die Verwerfung der Juden seitens Gottes. Dabei dürfte die Verwerfung hinsichtlich derjenigen Juden, die später noch zum Glauben an Jesus Christus kommen, zeitlich begrenzt sein.
Weil die Formulierung „ihre Verwerfung“ doppeldeutig ist, kann auch die „Versöhnung der Welt“ auf zweierlei Weise gedeutet werden. Die erste Deutung ist, dass die Verwerfung Jesu zu dessen Tod am Kreuz geführt hat. Dieser Tod am Kreuz versöhnt insofern, als er stellvertretend für die Sünden der Menschen erfolgt und diese sühnt. Es findet also eine Versöhnung zwischen Gott und dem gerechtfertigten Menschen statt. Der zweiten Deutung liegen die Aussagen von V. 11-12 zugrunde. Demnach geht durch die Verwerfung der verstockten Juden das Heil auf die Heiden über, und zwar auf diejenigen Heiden, die zum Glauben an Jesus Christus kommen.
Der Begriff „Welt“ betont den universalen Aspekt. Zum einen bevölkern die Nichtisraeliten die ganze Welt, zum anderen kann „Welt“ auch - über die menschliche Welt hinausgehend - im Sinne des gesamten Kosmos verstanden werden. Eine Versöhnung aller Menschen bedeutet zugleich die Versöhnung des gesamten Kosmos’.
Der Begriff „Annahme“ („proslêmpsis“) dürfte als Gegenbegriff zu „Verwerfung“ („apobolê“) zu verstehen sein. Es kann sich also sowohl um die Annahme des Glaubens an Jesus Christus als auch um die Annahme des Menschen handeln. Dass speziell die Annahme der Juden gemeint ist, geht aus dem Text nicht hervor, denn das Possessivpronomen „ihre“ bezieht sich nur auf die Verwerfung. Folglich ist „die Annahme“ statt „ihre Annahme“ zu lesen. Die nicht konkret auf die Juden bezogene Formulierung lässt sich damit erklären, dass Paulus nicht von „ihrer Versöhnung“, also der Versöhnung der Juden, spricht, sondern allgemein von der „Versöhnung der Welt“.
Aus der Annahme des Glaubens an Jesus Christus und der Annahme des gläubigen Menschen seitens Gottes resultiert das „Leben von [den] Toten“. Es fällt auf, dass Paulus nicht konkret von der Auferstehung spricht; allerdings folgt das (ewige) Leben aus der Auferstehung. Die Formulierung „Leben von [den] Toten“ kann also durchaus als Leben, das aus der leiblichen Auferstehung von den Toten resultiert, verstanden werden. Weil die zukünftige leibliche Auferstehung schon in das Leben der Getauften in der Gegenwart hineinstrahlt, kann „Leben von den Toten“ auch auf den Übertritt des Bekehrten in die Heilssphäre Gottes bzw. Jesu Christi bezogen werden. „Tod“ ist demnach das irdische Dasein außerhalb, „Leben“ das irdische Dasein innerhalb dieser Heilssphäre (vgl. Röm 6,13; Eph 5,14), die vom Licht der zukünftigen leiblichen Auferstehung von den Toten und des ewigen Lebens erstrahlt wird.
Es verwundert, dass Paulus so plötzlich auf das „Leben von [den] Toten“ zu sprechen kommt. Am ehesten lässt sich die plötzliche Hinwendung zur leiblichen Auferstehung, zum ewigen Leben und zum irdischen Leben im Lichte von leiblicher Auferstehung und ewigem Leben damit erklären, dass die Annahme des Glaubens an Jesus Christus und die Annahme des Gläubigen seitens Gottes zur leiblichen Auferstehung von den Toten und zum ewigen Leben hinführen. Dieses zu erwartende Heil dürfte der eigentliche Grund dafür sein, dass Paulus seinen Aposteldienst preist. Ohne den Aposteldienst würden die Menschen nicht vor dem Verderben gerettet, würden also nicht von den Toten auferstehen und ins ewige Leben eingehen.
Röm 11,15 folgt der rabbinischen Auslegungsmethode „Leichtes und Schweres“ (kal wa-homer). Die Schlussfolgerung, die Paulus aus einer Feststellung zieht, hat im Hinblick auf die Feststellung erst recht Gültigkeit. Typisch für diese Auslegungsmethode ist die Formulierung „wenn... um wieviel mehr...“, die sich allerdings hier nicht in Gänze findet.
Weiterführende Literatur: B. Schaller 2003, 135-150 setzt sich kritisch mit der gängigen Meinung auseinander, dass „apobolê“ mit „Verwerfung“ und „proslêmpsis“ mit „Annahme“ zu übersetzen sei. Diese Meinung geht davon aus, dass die Verwerfung passivisch als Verworfensein und die Annahme passivisch als Angenommenwerden. B. Schaller dagegen hält die aktivische Bedeutung für wahrscheinlicher, wonach die Juden selbst verworfen hätten. Das Objekt, „Evangelium“ oder „Christus“, müsse eingefügt werden. Auch die Annahme sei im Sinne von Annehmen aktivisch zu verstehen. Das Verständnis und die Verwendung von „apobolê“ als passivisch zu verstehender Begriff göttlicher Verwerfung könne nicht bereits bei Paulus vorausgesetzt werden, sondern habe sich erst später in einem christlichen Umfeld entwickelt. Gegen die vorgebrachte aktivische Deutung lasse sich nur ein wirklich gravierender Einwand erheben: Es gebe sonst keinen Beleg dafür, dass die beiden Begriffe „apobolê“ und „proslêmpsis“ benutzt worden sind, um das Ablehnen bzw. Annehmen einer Botschaft zu bezeichnen.
F. Mußner 2003, 74-79 gibt zunächst einen kurzen Überblick über die verschiedenen Deutungen der Formulierung „Leben aus Toten“ seitens der Kommentatoren. Er selbst vermutet, dass hinter der Formulierung primär die Vision des Propheten Ezechiel (oder eines den Text des Propheten erweiternden Verfassers; Ez 37,1-34) stehe. Die Formulierung „Leben aus Toten“ sei in Röm 11,15 wohl in einem hoch bildlichen Sinn, der weit über die Auferweckung der toten Leiber hinausgehe, zu verstehen, nämlich als ewige Gemeinschaft mit Gott und Christus.
K. Haacker 1997, 209-222 sieht einige Ähnlichkeiten in Denkstrukturen und Ausdrucksmitteln der Schriften des Paulus (insbesondere auch der Textstellen Röm 11,12.15.17-24) und der Schriften Philos von Alexandrien. Einiges spreche dafür, die Gemeinsamkeiten mindestens teilweise auf eine ähnliche Rezeption bestimmter Bibeltexte durch beide Autoren zurückzuführen. Eine direkte Bekanntschaft des Paulus mit Schriften Philos zeige sich nicht, was jedoch nicht viel besage, weil Paulus abgesehen von biblischen Schriften kaum Hinweise auf das von ihm aufgenommene und verarbeitete Bildungsgut gebe.
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Beobachtungen: V. 16 leitet zum Ölbaumgleichnis (11,17-24) über. Dabei ist das Ölbaumgleichnis mit einem weiteren Gleichnis, nämlich dem Gleichnis von der Erstlingsgabe vom Teig, verbunden. Beide Gleichnisse haben als Gemeinsamkeit, dass von einem Teil auf das Ganze geschlossen wird. Dieser Teil wird als „heilig“ bezeichnet.
Paulus gibt keinen Beleg für seine Aussage, dass die Erstlingsgabe vom Teig heilig ist. Es ist anzunehmen, dass er sich auf Num 15,17-21 stützt, wonach ein als „Erstling“ („aparchê“) bezeichneter Teil des Teiges Gott dargebracht werden soll. Was Gott dargebracht wird, ist heilig. Folglich kann Paulus die Erstlingsgabe als „heilig“ bezeichnen“. Dass Gott nicht ein beliebiger Teil dargebracht wird, sondern der erste, zeigt die Verehrung Gottes als Schöpfer an: Von Gott kommt alles, also steht ihm der erste Teil zu.
Auch die Wurzel eines Baumes ist in gewisser Weise der erste Teil. Ohne die Wurzel kann nämlich kein Baum gedeihen und Stamm, Äste, Zweige und Blätter hervorbringen. Die Wurzeln sind zuerst da, dann kommt der Rest des Baums.
Fraglich ist, wen Paulus mit den Begriffen „Erstling“ und „Wurzel“ im Blick hat. Er bezeichnet beides als „heilig“ und bringt es so in einen engen Zusammenhang mit Gott. Einen solchen engen Zusammenhang sieht Paulus im Glauben gegeben, wobei dieser auch den Glauben an den verheißenen Messias (= Christus), Jesus, einschließt. Weil es sich um „Erstlinge“ handelt, ist an die ersten Christen zu denken. Dass Paulus an Judenchristen denkt, geht aus 11,17-24 hervor. Demnach handelt es sich bei dem Ölbaum um das Volk Israel. Die heilige Wurzel sind demnach die Christen, die dem Volk Israel entstammen. Die Begriffe „Erstling“ und „Wurzel“ können aber auch auf die Erzväter der Israeliten verweisen. So wird insbesondere der Erzvater Abraham von Paulus als Glaubensvorbild dargestellt und ausdrücklich auch mit dem Glauben an Jesus Christus in Verbindung gebracht (vgl. Gal 3,6-14; Röm 4,1-25).
Dass Paulus hinsichtlich der weiteren Christusgläubigen nur von den Zweigen spricht, nicht aber vom Stamm und den Ästen, lässt sich als Überleitung zum Ölbaumgleichnis verstehen, wo es um die Zweige des Ölbaums geht.
Aus der Aussage „Wenn die Wurzel heilig ist, dann auch die Zweige.“ geht keine Bedingung hervor. Man kann die Aussage folglich so deuten, dass durch die Erzväter und/oder Judenchristen alle Juden geheiligt sind. Für diese Heiligung wäre kein Glaube an Jesus Christus Voraussetzung. Eine solche Deutung passt jedoch nicht zur Verzweiflung und Begriffswahl des Apostels in Röm 9-11. Wieso sollte Paulus Trauer und Schmerzen im Herzen leiden, wenn schon in der Gegenwart das gesamte Volk der Juden heilig ist? Wieso sollte er vom Straucheln des Volkes, vom Zorn Gottes und der Rettung eines „Restes“ des Volkes sprechen? Solche Rede lässt darauf schließen, dass Paulus die Bekehrung auch der Juden, die sich bisher noch dem Glauben an Jesus Christus widersetzen, annimmt. Eine solche Bekehrung klingt schon in 11,11-16 an und kommt auch in 11,17-32 zum Ausdruck.
Weiterführende Literatur: Mit dem Römerbrief-Kommentar von G. Agamben befasst sich S. C. Mimouni 2005, 291-303, der speziell auch auf den Gedanken des „Restes“ eingeht. Der „Rest“ mache als „Erstlingsgabe“ das Heil möglich. Der „Rest“ sei schon gerettet und werde somit nicht mehr gerettet. Der messianische „Rest“ gehe über das eschatologische Ganze hinaus. Er sei in gewisser Weise das „Unrettbare“, das das Heil ermöglicht.
N. Walter 1997, 219-220 meint, dass Paulus den edlen Ölbaum, seine Wurzel und das von ihr aus in die Zweige (bzw. Früchte!) strömende Fett am ehesten auf Gott – auf sein Erwählen und Verheißen und die von ihm ausströmende Heilsgnade – beziehe; aber nicht seien sie unmittelbar mit Israel als Volk zu identifizieren.
Laut P. von Osten-Sacken 1987, 303-304 sei die „Wurzel“ – wie auch die „Teighebe“ - als Verweis auf die Judenchristen, die den Beginn der Rettung Israels darstellten, zu sehen.
M. Theobald 1999, 208-209 meint, dass die angemessenste Metapher von der „Wurzel“ sei, diese auf Abraham bzw. die Erzväter insgesamt zu beziehen und den Ursprung des Baums in Gottes Erwählung bzw. seinem Wort der Verheißung zu sehen. Vgl. W. Keller 1998, 199-201, der schlussfolgert: Wenn die „Wurzel“ auf die Patriarchen zu deuten ist, so der Ölbaum auf Israel in seinen Gliedern, die von den Patriarchen abstammen. Ähnlich K. H. Rengstorf 1978, 127-164. Auch M. Neubrand, J. Seidel 2000, 61-76 deuten die „Wurzel“ als Abraham, wobei sie kritisieren, dass die anderen Deutungen großenteils nicht die eindeutige Unterscheidung zwischen den einzelnen Teilen (Wurzel, Stamm, Zweige) des Baumes beachteten. Allerdings hinterfragen sie die ihrer Meinung nach unter den Auslegern geradezu einen Konsens darstellende Annahme, dass der edle Ölbaum eine Metapher für „Israel“ oder das „Volk Gottes“ sei. Anstelle einer solchen Auslegung schlagen sie vor, den Ölbaum als Metapher für den Messias zu sehen. Jesus sei Nachkomme Abrahams und die zahlreichen „In-Christus-Sein“-Aussagen sprächen für diese Deutung.
Nach Meinung von R. Schwindt 2007, 64-91 bestimme sich aus der Wurzel die Bedeutung des ganzen Ölbaums. Eine Besonderheit dieses Baumes bestehe nämlich darin, dass das Wurzelwerk nicht unter der Erde verborgen liegt, sondern in seiner massiven Gestalt von dem Stamm kaum unterschieden werden kann. So stelle Paulus den Heiden denn auch vor Augen, dass sie von der Wurzel des Baumes, dessen Zweige sie geworden sind, getragen werden. An einer Differenzierung von Wurzel und Stamm scheine Paulus also nicht gelegen. Von daher sei eine Allegorisierung des Ölbaums auf den Messias Christus hin auszuschließen. Aus der generischen Identität von Stamm und Wurzel ergebe sich vielmehr ein erneuter Bezug auf den göttlichen Erwählungs- und Verheißungslogos, der hier jedoch nicht von den Vätern, sondern von Israel repräsentiert werde.
Mit der Ekklesiologie von 11,11-24 befasst sich F. Mußner 1987, 153-159, der eingangs das zum Lexem „Wurzel“ gehörige Wortfeld dieses Abschnittes ins Auge fasst. Dabei vertritt er die Ansicht, dass in V. 18 bei dem Begriff „Wurzel“ auch an den Stamm des Edelölbaums gedacht sei, nicht bloß an die Väter Israels, sondern an Israel überhaupt, das die Kirche „trage“.
Literaturübersicht
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Aletti, Jean-Noël; Romains 11: Le développement de l’argumentation et ses enjeux exégético- théologiques, in: U. Schnelle [ed.], The Letter to the Romans (BETL 226), Leuven 2009, 197-223
Allison, Dale C.; Romans 11,11-15: A Suggestion, PRSt 12/1 (1985), 23-30
Haacker, Klaus; Die Geschichtstheologie von Röm 9-11 im Lichte philonischer Schriftauslegung , NTS 43 (1997), 209-222
Harding, Mark; The Salvation of Israel and the Logic of Romans 11:11-36, ABR 46 (1998), 55-69
Hübner, Hans; Gottes Ich und Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9-11 (FRLANT 136), Göttingen 1984
Jegher-Bucher, Vreni; Erwählung und Verwerfung im Römerbrief? Eine Untersuchung von Röm 11,11-15, ThZ 47 (1991), 326-336
Johnson, Dan G.; The Structure and Meaning of Romans 11, CBQ 46/1 (1984), 91-103
Keller, Winfrid; Gottes Treue – Israels Heil: Röm 11,25-27 – Die These vom “Sonderweg” in der Diskussion (SBB 40), Stuttgart 1998
Litwak, Kenneth; One or Two Views of Judaism: Paul in Acts 28 and Romans 11 on Jewish Unbelief, TynB 57/2 (2006), 229-249
Mimouni, Simon Claude; Les Judéens et les Grecs chez Paul de Tarse à partir d’une lecture de Giorgio Agamben. À la recherche de “l’homme messianique”, ASEs 22/2 (2005), 291- 303
Mußner, Franz; „Mitteilhaberin an der Wurzel“. Zur Ekklesiologie von Röm 11,11-24, in: F. Mußner [Hrsg.], Die Kraft der Wurzel. Judentum – Jesus – Kirche, Freiburg – Basel – Wien 1987, 153-159
Mußner, Franz; “Leben aus Toten” (Röm 11,15), TvTZ 112/1 (2003), 74-79
Neubrand, Maria; Seidel, Johannes; “Eingepfropft in den edlen Ölbaum” (Röm 11,24): Der Ölbaum ist nicht Israel, BN 105 (2000), 61-76
Rengstorf, Karl Heinrich; Das Ölbaum-Gleichnis in Röm 11,16ff. Versuch einer weiterführenden Deutung, in: E. Bammel, C. K. Barrett, W. D. Davies, Donum Gentilicium, FS D. Daube, Oxford 1978, 127-164
Schaller, Bernd; APOBOLÊ – PROSLÊMPSIS. Zur Übersetzung und Deutung von Röm 11,15, in: W. Kraus u. a. [Hrsg.], Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie (WUNT 162), Tübingen 2003, 135-150
Schwindt, Rainer; Mehr Wurzel als Stamm und Krone. Zur Bildrede vom Ölbaum in Röm 11,16-24, Bib. 88/1 (2007), 64-91
Theobald, Michael; Der “strittige Punkt” (Rhet. a. Her. I,26) im Diskurs des Römerbriefs. Die propositio 1,16f und das Mysterium der Errettung ganz Israels, in: R. Kampling [Hrsg.], „Nun steht aber diese Sache im Evangelium“: zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus, Paderborn u. a. 1999, 183-228
von Osten-Sacken, Peter; Röm 9-11 als Schibboleth christlicher Theologie, in P. von Osten- Sacken [Hrsg.], Evangelium und Tora. Aufsätze zu Paulus (ThB 77), München 1987, 294-314
Walter, Nikolaus; Zur Interpretation von Röm 9-11, in: N. Walter [Hrsg.], Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments (WUNT 98), Tübingen 1997, 212-233