Röm 15,1-6
Übersetzung
Röm 15,1-6: 1 Wir aber, die Starken, sind verpflichtet, die Schwächen derer, die nicht stark sind, zu tragen und nicht selbstgefällig zu sein. 2 Jeder von uns soll dem Nächsten gefallen, zum Guten auf Erbauung hin. 3 Denn auch (der) Christus war nicht selbstgefällig, sondern wie geschrieben steht: „Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.“ 4 Denn was im Voraus geschrieben wurde, wurde zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch die Geduld und durch den Trost der Schriften (die) Hoffnung haben. 5 Der Gott der Geduld und des Trostes aber gebe euch, untereinander auf ein und dasselbe bedacht zu sein, wie es Christus Jesus entspricht, 6 damit ihr einmütig mit einem Munde den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus preist.
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Beobachtungen: In 14,1-12 hat Paulus die Glaubensstarken und -schwachen dazu ermahnt, sie sollten einander annehmen, weil nicht ihnen, sondern dem „Herrn“ allein das Recht zum Richten zukomme. Und konkret im Hinblick auf Glaubensschwachen lässt Paulus durchblicken, dass der „Herr“ sie nicht fallen lassen, sondern aufrecht halten werde. Die Glaubensschwäche allein ist also noch kein Grund für Verurteilung. In 14,13-23 macht Paulus deutlich, dass dem Essen und Trinken keine zu große Bedeutung beigemessen werden und niemand dazu gezwungen werden solle, eine bestimmte Speise widerwillig zu essen.
In 15,1 bezeichnet Paulus die Annahme der Glaubensschwachen als Pflicht. Die Begründung, warum es sich um eine Pflicht handelt, liefert er in 15,1-6: Das Verhalten Jesu Christi ist Vorbild für das Verhalten der Christen.
Paulus zählt sich zu der Wir-Gruppe der „Starken“, der Glaubensstarken. Dieses Bewusstsein des Apostels, selbst ein „Starker“ zu sein, liegt den gesamten Ausführungen des Apostels zur gegenseitigen Annahme zugrunde. So wird verständlich, warum Paulus die Einstellung der Glaubensstarken, die grundsätzlich alle Speisen als „rein“ ansehen, als etwas „Gutes“ ansieht (vgl. 14,16). Sie sollen ihre gute Einstellung nur eben nicht allen Gläubigen aufdrängen.
Paulus stellt in 15,1 dem Begriff „dynatoi“ („Starke“) nicht den Begriff „asthenountes“ („Schwache“) gegenüber, sondern den Begriff „adynatoi“ („Nichtstarke“). Eine solche Gegenüberstellung lässt das Defizitäre stärker hervortreten: Die Glaubensschwachen sind Menschen, denen es an Glaubensstärke fehlt. Statt der Glaubensstärke sind ihnen Schwächen eigen.
Paulus fordert nicht nur, dass die Glaubensstarken die Glaubensschwachen tolerieren, sondern sie sollen deren Schwächen darüber hinaus „tragen“ („bastazô“). Das „Tragen“ beinhaltet ein größeres Maß an aktiver Unterstützung und Hilfe als das gänzlich passive Tolerieren und enthält zudem den Aspekt der Mühe, den das Ertragen der Glaubensschwächen der anderen macht (vgl. Gal 6,2).
Die Glaubensstarken sollen sich nicht selbst gefallen. Selbstgefälligkeit beinhaltet das Gefallen an der eigenen Einstellung, die jedoch das Wohl des Nächsten nicht berücksichtigt. Selbstgefälligkeit macht die eigene Einstellung und das eigene Verhalten zum Maßstab für alle.
Weiterführende Literatur: W. A. Meeks 1987, 290-300 legt dar, dass Ausleger häufig den Römerbrief in zwei Teile teilten, in einen theologischen/didaktischen und einen ethischen/paränetischen. W. A. Meeks hält eine solche Zweiteilung für irreführend. Die großen Themen der Kapitel 1-11 würden in den Kapiteln 12-15 entfaltet. Ohne die Erkenntnis, dass es Paulus auf die Verwirklichung der Theologie in den römischen Hausgemeinden ankommt, ließen sich die Funktion und die Bedeutung der theologischen Themen im großen Briefzusammenhang nicht erfassen.
A. Lindemann 1997, 29-50 befasst sich mit dem paulinischen Kirchenverständnis, wobei er sich auf S. 32-35 Texten widmet, in denen der Apostel das Problem innergemeindlicher Konflikte erörtert. In 14,1-15,13 gehe es um das Miteinander von Menschen, die in ganz wesentlichen Fragen des Glaubens und der Glaubenspraxis unterschiedlicher, ja sogar gegensätzlicher Meinung sind.
K. B. McCruden 2005, 229-244 untersucht, was sich aus den paulinischen Aussagen zu den „Starken“ und „Schwachen“ in 14,1-15,13 an Einblick in den Anlass des Römerbriefes und in die Theologie des Briefes als Gesamtheit gewinnen lässt.
Laut R. A. J. Gagnon 2000, 64-82 werde von vielen Auslegern angenommen, dass es sich bei den Glaubensschwachen teilweise oder ganz um jüdische Christen oder christliche Juden handele. Auf jeden Fall herrsche die einhellige Meinung, dass es sich um Christen handele, seien sie heidnischer oder jüdischer Herkunft. Anders M. D. Nanos 1996, 85-165, der die Meinung vertritt, dass es sich bei den Glaubensschwachen um nichtchristliche Juden handele. Die „Schwäche“ beziehe sich nicht auf das eingeschränkte Gottvertrauen, das dazu führe, dass Christen dem Halten der Gebote des jüdischen Religionsgesetzes verhaftet bleiben. Vielmehr bezeichne die „Schwäche“ die Unfähigkeit eines Juden zu erkennen, dass die Verheißungen in Jesus Christus erfüllt sind. R. A. J. Gagnon setzt sich ausgiebig mit der Begründung von M. D. Nanos auseinander, weist jedoch dessen These zurück.
D. J. Bolton 2009, 617-629 vertritt die Ansicht, dass „koinos“ („gemein“, „unrein“; Röm 14,14) ein halachischer Begriff sei. Es gehe um die Frage, ob halachisch reines Fleisch gemieden werden soll, nur weil es beim Götzendienst verwendet wurde, bevor es auf dem Markt verkauft wurde. Diejenigen, die zum Essen des Fleisches bereit sind, stünden ebenso wie diejenigen, die die Vermeidung fordern, nicht außerhalb des Gesetzes. Die Konfliktlinie sei nicht ethischer Art, führe also nicht zwischen Heiden- und Judenchristen entlang, sondern sei halachischer Art. Die einen, die „Glaubensschwachen“ (14,1), legten also die Tora strikter aus als die anderen, die „Glaubensstarken“ (15,1).
E. R. Kalin 1998, 461-472 ist der Überzeugung, dass es im Kern des Römerbriefes um ethnische Konflikte gehe und dass Paulus, wenn er das Evangelium darlegt und auf die Schlussfolgerungen für das Leben in Christus zu sprechen kommt, beständig ethnische Unterscheidungen, insbesondere zwischen Jude und Heide sowie Jude und Grieche, im Kopf habe. Die ethnischen Gräben drohten zum Anlass für Stolz und Hochmut auf Kosten Anderer zu werden. Gottes gnädige Unparteilichkeit und Umarmung aller – Juden und Griechen - weise alle zur gleichen Umarmung. E. R. Kalin geht den ethnischen Konflikten nach und fragt nach Möglichkeiten der Überwindung der Gräben, auch innerhalb der christlichen Gemeinde. Die an Luther („Wie finde ich einen gnädigen Gott?“) angelehnte Leitfrage laute: „Wie finde ich eine gnädige Gemeinschaft?“ Ein ethnischer Konflikt werde im Streit um das Halten der jüdischen Speisegebote, evtl. auch der Festtage und insbesondere des Sabbats, deutlich. Dabei versuche Paulus mittels der Ermahnungen sowohl an die Glaubensschwachen als auch an die Glaubensstarken wieder die Einheit beider Gruppen herzustellen.
Die pluralistische Gesellschaft Singapurs hat Y.-H. Tan 2000, 559-581 bei der Beschäftigung mit 14,1-15,13 im Hinterkopf, wobei folgende Fragen im Mittelpunkt stehen: Kann man sich von der christlichen Gesellschaft unterscheiden, ohne von dieser verurteilt zu werden? Ist das Bewahren von Gemeinschaftsbeziehungen wichtiger als alles andere, als Prinzipien und Regeln? Die Beschäftigung mit 14,1-15,13 lege offen, dass Verurteilung durch die Gemeinschaft dazu führt, dass ein Mensch geächtet und an den Rand gedrängt wird, obwohl er zu der Gemeinschaft gehört. Es stelle sich die Frage, woher wir uns das Recht nehmen, ein Gemeindeglied an den Rand zu drängen, wo wir doch letztendlich alle vor Gott rechenschaftspflichtig seien.
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Beobachtungen: Christen sollen nicht selbstgefällig sein, sondern dem Nächsten zu gefallen suchen. Der Zusammenhang, bei dem es um Gemeinschaftsmähler innerhalb der christlichen Gemeinde geht, lässt annehmen, dass der Nächste in diesem Fall ein anderes Gemeindeglied ist. Bei dem Gefallen geht es dementsprechend nicht um ein Gefallen nach profanen Maßstäben, sondern um das nicht genauer definierte „Gute“ und um Erbauung.
Der Begriff „Erbauung“ („oikodomê“) ist als Gemeindeaufbau zu verstehen. Die Gemeinde ist nach paulinischem Verständnis ein „Bau“ („oikodomê“; vgl. 1 Kor 3,9; ähnlich auch Eph 2,20). Dabei hat man sich die einzelnen Gemeindeglieder als „lebendige Steine“ vorzustellen (vgl. 1 Petr 2,5). Gegenseitige Erbauung bewirkt, dass die Gemeinde als Bau stabil ist und weiter ausgebaut werden kann. Weil die Gemeinde nicht nur eine Glaubens-, sondern zugleich eine Heilsgemeinschaft ist, trägt Gemeindeaufbau zum Heil anderer Menschen, nämlich konkret der Glaubensbrüder und -schwestern, bei. Dem Nächsten gefällt, wenn andere Menschen sich um sein Heil kümmern.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Nun nennt Paulus ausdrücklich Christus als Vorbild, wobei „Christus“ im Sinne eines Eigennamens mit einem Artikel gebraucht wird. Jesus ist also der „Gesalbte“ (griech. christos; hebr. mâschiah = Messias). Die Salbung des Königs im alten Israel bezeichnete seine Bestimmung und Qualifikation und verlieh ihm charismatische Eigenschaften für seinen Dienst. Die Salbung des Priesters dagegen stand in Analogie zur Salbung der Tempelgeräte - die Priester wurden gesalbt zum Zeichen ihrer Aussonderung und lebenslangen Verfügbarkeit als Werkzeug für den Dienst Gottes. Die Salbung eines Propheten schließlich schloss wie bei der Königssalbung die Verleihung charismatischer Gaben ein. Der Begriff „Messias“ meint im AT grundsätzlich eine Person, der besondere Funktionen und Vollmachten übertragen sind. Der Begriff konnte auf jeden angewandt werden, der zu einer besonderen Aufgabe berufen war. Ganz konkret bezieht sich der Begriff aber auch auf den verheißenen Messias, auf den König der Endzeit, von dem man das Heil erwartete. Wenn Paulus also vom „Christus“ (= „Messias“) spricht, so hat er diesen endzeitlichen König im Blick. Das Heil sieht er in dem Heilsgeschehen des stellvertretenden Kreuzestodes Jesu für die Sünden der Menschen und in der Auferstehung verwirklicht.
Auf dieses Heilsgeschehen bezieht sich wohl auch die Aussage, dass auch „der Christus“ nicht selbstgefällig war. Jesu Handeln war also nicht auf seine eigene Person fixiert, sondern zielte auf das Heil der Mitmenschen. Ebenso soll auch das Handeln der Adressaten des Briefes an die Römer auf das Heil der Glaubensgenossen gerichtet sein.
Paulus führt einen Beleg für seine Aussagen an. Der Beleg „steht geschrieben“, doch schreibt Paulus nicht, wo. Gewöhnlich führt Paulus mit der einleitenden Formel „wie geschrieben steht“ ein Zitat aus der hebräischen Bibel (= AT) ein. Zu Lebzeiten des Apostels war die griechische Bibel (= NT) noch nicht verfasst, weshalb die hebräische Bibel für ihn die Bibel schlechthin darstellte. Tatsächlich handelt es sich bei dem „Geschriebenen“ um ein Zitat von Ps 68,10LXX (= 69,10). In dem Psalm klagt ein Gerechter über die Verfolgungen, die er trotz seiner Frömmigkeit zu erleiden hat. Diejenigen, die ihn schmähen und verfolgen, schmähen und verfolgen eigentlich ein nicht weiter definiertes „Du“, bei dem es sich wohl um Gott handeln dürfte. Bemerkenswert ist, dass aus dem Psalm nicht herauszulesen ist, dass die klagende Person ihre missliche Lage willig auf sich nimmt. Bezieht man den zitierten Vers auf Jesus Christus, dann ist das „Ich“ Jesus Christus. Er ist es, der trotz seiner Gerechtigkeit (im Sinne der Sündlosigkeit) Schmähungen und Verfolgung zu erleiden hatte. Er hat sie im Gegensatz zu dem klagenden Menschen des Psalms wohl willig auf sich genommen, denn nur dann ist das Verhalten als wirklich vorbildlich anzusehen. Das „Du“, das Jesu Verfolger eigentlich schmähen und verfolgen, dürfte Gott sein. Angesichts der Tatsache, dass Paulus das Zitat ja deswegen anführt, weil er Jesu Handeln zugunsten der sündigen Mitmenschen betonen will, kann man aber auch daran denken, dass das geschmähte „Du“ der sündige Mensch ist. Die Schmähenden könnten dann diejenigen Menschen sein, die sich selbst für gerecht halten. Konkret auf die Streitereien um das Essen von Fleisch bezogen, die ja den Hintergrund der Aussagen des Apostels bilden, kann man die „Geschmähten“ auch mit einer der beiden streitenden Parteien identifizieren, die jeweils von der anderen Partei geschmäht wird. Weil 15,1-6 zum Tragen der Schwächen derer, die nicht glaubensstark sind, auffordert, dürften die Geschmähten wohl eher die Glaubensschwachen, die sich des Fleischgenusses wegen ihrer Skrupel enthalten, als die Glaubensstarken sein. So wie Jesus Christus die Schwächen derer, die nicht glaubensstark sind - wie grundsätzlich die Sünden aller Sünder - mit seinem stellvertretenden Kreuzestod samt Auferstehung getragen hat und trägt, sollen auch die ermahnten Glaubensstarken die Schwächen derer, die nicht glaubensstark sind, tragen.
Das Verb „epipipto“ beinhaltet verschiedene Aspekt und ist daher für verschiedene Deutungen offen. Zum einen ist ausgesagt, dass die Schmähungen nicht nur Gott oder die Glaubensschwachen treffen, sondern Jesus Christus selbst. Bei einer Deutung des Zitates auf die Streitigkeiten der Christen um die Mahlzeiten steht dieser Aspekt aber wohl nicht im Mittelpunkt, denn die Glaubensstarken sind ja keine Gegner Gottes oder Jesu Christi. Wenn sie Gott oder Jesus Christus schmähen, dann nicht direkt, sondern höchstens indirekt aufgrund der Missachtung der Glaubensschwachen. Eher ist bei der Deutung auf die Streitereien hin an den Aspekt der Stellvertretung zu denken: Schmähung ist mit Verurteilung verbunden. Wenn die Glaubensschwachen geschmäht werden, dann werden sie auch verurteilt, sei es von den Menschen oder von Gott. Wenn die Schmähungen aber nun auf Jesus Christus gefallen sind, dann ist es auch die Verurteilung. Jesus Christus ist also anstelle der Geschmähten zum Tode verurteilt worden. Aufgrund der Entlastung und Rettung der Geschmähten sollen diese von den Glaubensstarken angenommen werden.
Die Aoriste „ouch heautô êresen“ („gefiel sich nicht selbst / war nicht selbstgefällig“) und „epepesan ep’ eme“ („sind auf mich gefallen“) lassen an ein einmaliges, abgeschlossenes Geschehen denken. Ein solches einmaliges, abgeschlossenes Geschehen mit Heilswirkung ist der stellvertretende Kreuzestod samt Auferstehung.
Weiterführende Literatur: S. Hafemann 2000, 161-192 nimmt die These als Ausgangspunkt, dass Paulus‘ Beweisführung in Röm 15,1-3 samt dem doxologischen Fokus von der zitierten Schriftstelle bestimmt sei, gedeutet innerhalb des eigenen kanonischen Zusammenhangs. Die Kombination und Folge der Schriftzitate in 15,9-12 sei weniger im Lichte christologischer und ekklesiologischer Neuinterpretation zu verstehen als vielmehr als Umriss paulinischer Eschatologie, wonach die zukünftige Erlösung Israels und das Gericht über die Völker der Inhalt der kirchlichen Hoffnung und die Begründung ihrer Ethik gegenseitiger Annahme seien.
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Beobachtungen: Aus V. 3 und 4 gehen zwei zentrale Auslegungsmethoden des Apostels hervor: V. 3 macht deutlich, dass Paulus die Aussagen der hebräischen Bibel (= AT) auf Jesus Christus bezieht. Dieser Bezug ist die erste Auslegungsmethode. Die zweite Auslegungsmethode ist der direkte Bezug der Aussagen der hebräischen Bibel auf die eigene Generation: Die hebräische Bibel wurde nicht nur vor der Geburt Jesus Christi verfasst, also „im Voraus geschrieben“, sondern auch vor der Geburt des Apostels und seiner Zeitgenossen. Die biblischen Texte sind gemäß Paulus also nicht in erster Linie auf die Menschen hin geschrieben, die zur Zeit der Abfassung der biblischen Texte lebten, sondern auf die Menschen der Zeit nach dem Leben, dem Tod und der Auferstehung des verheißenen Messias, Jesus.
Paulus nennt die Belehrung als konkrete Funktion der biblischen Aussagen. Die Belehrung soll dazu führen, dass Paulus und seine Zeitgenossen Hoffnung haben. Die Hoffnung dürfte sich auf das Heil beziehen, das wiederum mit der Wiederkunft Christi verbunden sein dürfte: Wer sich recht verhält, steht beim endzeitlichen Gericht Gottes/Christi gerecht da und kann auf das ewige Leben hoffen.
Die Hoffnung wird durch die Geduld und durch den Trost der Schriften bewirkt. Da in 15,1-6 vom Tragen der Schwächen derer, die nicht glaubensstark sind, die Rede ist, mag sich die Geduld auf die Geduld der Glaubensstarken den Glaubensschwachen gegenüber beziehen. Sie kann sich aber auch auf die Geduld im Hinblick auf die weiterhin ausbleibende Wiederkunft Christi beziehen.
Der griechische Begriff „paraklêsis“ bedeutet zugleich Trost und Mahnung, sodass vom „Trost der Schriften“ oder von den „Ermahnungen der Schriften“ die Rede sein kann. Beides hängt eng zusammen, denn mit der Ermahnung zum rechten, von Glauben geprägten Leben in der Nachfolge Christi soll Trost bewirkt werden: Trost, dass die Sünde und der Tod nicht das letzte Wort haben. In V. 4 ist die Übersetzung „Trost“ vorzuziehen, denn wer geduldig ist, findet auch Trost.
Weil Paulus von der zeitlich nahen Wiederkunft ausgeht, dürfte er bezüglich des Bezuges der biblischen Aussagen kaum die folgenden Generationen im Blick haben. Allerdings sind die biblischen Aussagen aufgrund des bisherigen Ausbleibens der Wiederkunft sicherlich auch auf die Generationen nach Paulus und seiner Zeitgenossen zu beziehen.
Weiterführende Literatur: L. E. Keck 1991, 125-136 meint, dass V. 4 den Gedankengang unterbreche und hält daher für wahrscheinlich, dass V. 4 ein späterer, unpaulinischer Einschub ist. Beweisen lasse sich allerdings diese These nicht, zumal bei Streichung des V. 4 ein abrupter Übergang von V. 3 zu V. 5-6 bleibe.
Mit der Bedeutung des Begriffs „didaskalia“ („Lehre“) in V. 4b befasst sich L. de Lorenzi 1982, 457-495. Im AT regele die göttliche Lehre das Leben des Menschen im Hinblick auf das grundlegende und wesentliche Verhältnis zu Gott. Typisch für das NT und die Christen sei der Bezug der „Lehre“ auf Christus. 15,4 habe seine Parallele in 12,7, wo die „Lehre“ ebenfalls von Gott komme, auf das konkrete Leben des Gläubigen bezogen sei und der Verwirklichung der Einheit aller in Christus diene.
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Beobachtungen: Das Wesen Gottes entspricht den Wirkungen der biblischen Aussagen. Die biblischen Aussagen sind also in enger Verbindung mit dem Wesen Gottes zu sehen. Der Trost ist also kein rein menschlicher Trost, sondern hat seine Quelle in Gott. Ebenso ist auch die Geduld auf Gott zurückzuführen.
Aus V. 5 und 6 geht hervor, worauf es Paulus im Wesentlichen ankommt: auf die Einheit der christlichen Gemeinde. Im Lichte der Forderung der Einheit der christlichen Gemeinde ist sowohl 15,1-6 als auch 15,7-13 zu lesen.
Die Einheit zeigt sich gemäß V. 5 in der gleichen Gesinnung der Gemeindeglieder, gemäß V. 6 aber auch im gleichen Lobpreis, der aus der gemeinsamen christlichen Gesinnung herrührt. Paulus schreibt nicht, warum die gleiche Gesinnung Christus Jesus entspricht, doch ist an das Bild der Gemeinde als der eine Leib Christi zu denken (vgl. 1 Kor 12,12-31). Wesentlich für den Gedanken der Einheit ist aber auch der Gedanke, dass Gott bzw. Jesus Christus der allen Christen gemeinsame „Herr“ ist.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Der Lobpreis soll Gott gelten. Gott ist nicht ein beliebiger Gott neben anderen, sondern er ist der Gott. Er ist also der einzige Gott oder zumindest der einzige, dem hinsichtlich des Heils Wirkmacht eigen ist.
Als wirkmächtig bezüglich des Heils erscheint Gott in enger Verbindung mit Jesus Christus, dessen Vater er ist. Nur aufgrund des Todes und der Auferstehung Jesu Christi, des Sohnes Gottes, haben die Menschen Heil zu erwarten. Die rechte Antwort auf das Heilsgeschenk ist es, Jesus Christus bzw. Gott zu dienen und zu preisen.
Der Mund ist das Organ, das den Lobpreis bildet. Die Formulierung „mit einem Munde“ unterstreicht die Gleichheit der Gesinnung und des Lobpreises.
15,7-13 geht nun darauf ein, worauf das Gotteslob gerichtet sein soll und wie es begründet ist.
Weiterführende Literatur: A. B. du Toit 1993, 69-77 analysiert das kirchliche Loben Gottes. Er merkt an, dass besonders 1,18-32 als negatives Korrelat zu 15,1-13 funktioniere: Im ersten Abschnitt werde Gott der Lobpreis verweigert, im zweiten werde er ihm erwiesen.
Literaturübersicht
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Bolton, David J.; Who Are You Calling “Weak”? A Short Critique on James Dunn’s Reading of Rom 14,1-15,6, in: U. Schnelle [ed.], The Letter to the Romans (BETL 226), Leuven 2009, 617-629
de Lorenzi, Lorenzo; La didaskalia del cristiano secondo Rm 15,4b, in: C. C. Marcheselli [ed.], Parola e Spirito, vol. 1, FS S. Cipriani, Brescia 1982, 457-495
du Toit, Andries B.; Die Kirche als doxologische Gemeinschaft im Römerbrief, Neotest 27/1 (1993), 69-77
Gagnon, Robert A. J.; Why the “Weak” at Rome Cannot Be Non-Christian Jews, CBQ 62/1 (2000), 64-82
Hafemann, Scott; Eschatology and Ethics. The Future of Israel and the Nations in Romans 15:1-13, TynB 51/2 (2000), 161-192
Kalin, Everett R.; Rereading Romans: Ethnic Issues (or, “How can I find a gracious community?”, CThMi 25/6 (1998), 461-472
Keck, Leander E.; Romans 15:4 – An Interpolation?, in: J. T. Carroll et al. [eds.], Faith and History, FS P. W. Meyer, Atlanta, Georgia 1991, 125-136
Lindemann, Andreas; “Nehmet einander an”. Paulinisches Kirchenverständnis und die Zukunft des Christentums, WuD 24 (1997), 29-50
McCruden, Kevin B.; Judgment and Life for the Lord: Occasion and Theology of Romans 14,1-15,13, Bib. 86/2 (2005), 229-244
Meeks, Wayne A.; Judgment and the Brother: Romans 14:1-15:13, in: G. F. Hawthorne – O. Betz [eds.], Tradition and Interpretation in the New Testament, FS E. E. Ellis, Grand Rapids, Michigan 1987, 290-300
Nanos, Mark D.; The Mystery of Romans: The Jewish Context of Paul’s Letter, Minneapolis, Minnesota 1996
Tan, Yak-Hwee; Judging and Community in Romans: An Action within the Boundaries, SBL.SPS 39 (2000), 559-581