Phlm 8-14
Übersetzung
Phlm 8-14:8 Deshalb, obwohl ich in Christus volle Freiheit habe, dir zu gebieten, was sich gehört, 9 bitte ich [doch] vielmehr um der Liebe willen, so wie ich bin: Paulus, ein alter Mann, nun aber auch ein Gefangener Christi Jesu. 10 Ich bitte dich für mein Kind, das ich in den Fesseln gezeugt habe: Onesimus, 11 der dir einst unnütz war, jetzt aber dir und mir nützlich ist. 12 Den habe ich dir zurückgesandt – ihn, das heißt: mein Herz. 13 Den hätte ich gerne bei mir behalten, damit er mir an deiner Stelle in den Fesseln des Evangeliums diene. 14 Doch ohne dein Einverständnis wollte ich nichts tun, damit deine Wohltat nicht erzwungenermaßen, sondern aus freien Stücken geschehe.
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Beobachtungen: Der Begriff „parrêsia“ meint in seinem Kern furchtloses, freimütiges Sprechen. Es wird nichts verborgen, sondern ganz offen die Wahrheit gesagt. Verschleierung, Irreführung und Überredung sind damit ausgeschlossen. In V. 8 dürfte die Freiheit im Blick sein, die mit dem Freimut verbunden ist: Freimütiges Sprechen erfolgt aus freien Stücken heraus und ist damit beispielsweise der Folter entgegengesetzt, bei der die gewünschte Aussage mittels Gewalt erzwungen wird und nicht unbedingt der Wahrheit zu entsprechen braucht.
Die Freiheit liegt „in Christus“ begründet. „In Christus“ scheint aber auch die Forderung einer dem Glauben an Christus entsprechenden Verhaltensweise begründet zu sein. Glaube und Verhalten sind untrennbar miteinander verbunden. Nun stellt sich die Frage, ob jeder Christ etwas von seinem Glaubensgenossen fordern kann, oder ob dies nur demjenigen zukommt, der eine gewisse Autorität besitzt, die ihn über die Glaubensgenossen erhebt. Gewöhnlich ist das Gebieten nicht Ausdruck der Gleichrangigkeit, sondern einer Hierarchie: Derjenige, der gebietet, steht gewöhnlich über demjenigen, an den das Gebot gerichtet ist. So gebietet ein Herr seinem Sklaven, nicht umgekehrt. Wenn Paulus also schreibt, dass er in Christus die volle Freiheit habe, Philemon zu gebieten, so scheint er eine ganz bestimmte Autorität vorauszusetzen, die ihm im Gegensatz zu Philemon zukommt und die ihn über diesen heraushebt. Bedenkt man, dass Philemon vermutlich Leiter einer Hausgemeinde ist (vgl. V. 1-2), so dürfte Paulus für sich wohl eine über die Autorität eines Gemeindeleiters hinausgehende Autorität beanspruchen. Es ist an die apostolische Autorität zu denken, die Paulus zukommt, weil er von Jesus Christus persönlich beauftragt ist, das Evangelium, die „Wahrheit“ freimütig zu verkündigen.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Paulus macht von seiner „Freiheit in Christus“ keinen Gebrauch, sondern er verzichtet auf diese. Er beruft sich nicht auf seinen Status als Apostel, sondern betont die Gleichrangigkeit innerhalb der christlichen Gemeinschaft. Das tut er, indem er sich nicht als Apostel darstellt, sondern als „alter Mann“ und darüber hinaus auch als „Gefangener Christi Jesu“ (vgl. V. 1). In Demut gegenüber Philemon erniedrigt sich Paulus also selbst.
Die Liebe prägt das typisch christliche Verhalten. So wie Philemon gemäß V. 5.7 die „Heiligen“ mit Liebe erquickt hat, so bittet auch Paulus den Glaubensgenossen Philemon um der Liebe willen.
Paulus bittet nicht als Apostel, sondern als Mensch und Glaubensgenosse des Philemon. Nicht ein Amt oder Titel bestimmt die Sprache, sondern die Sprache ist betont menschlich, brüderlich gehalten. Die Menschlichkeit wird durch die Nennung des Namens „Paulus“ unterstrichen. Dieser Mensch Paulus ist ein „presbytês“.
Der Begriff „presbytês“ („Alter / alter Mann“) kann als „alter Mann“ gedeutet werden, womit Paulus ein Mann hohen Alters wäre. Man kann den Begriff aber auch als Amtsbezeichnung im Sinne eines „Ältesten“ verstehen. Ersterer Deutung ist Vorzug gegeben, da die Nennung eines Amtes der Sprache der Selbsterniedrigung zuwiderlaufen würde. Ein alter Mann kann zwar auch aufgrund seiner Weisheit eine gesellschaftlich herausgehobene Position innehaben, die mit der Bekleidung des Amtes des „Ältesten“ institutionalisiert sein kann, doch kann mit dem Alter auch körperlicher und geistiger Verfall und Belastung verbunden werden. Eine einseitig positive oder negative Bewertung des Alters geht aus dem Text nicht hervor: Weder erscheint das Alter als besondere Auszeichnung noch stellt sich Paulus als senil dar. Immerhin beansprucht Paulus auch bei seiner Selbsterniedrigung noch eine gewisse Autorität für sich. Dementsprechend ist auch die Selbstbezeichnung „Gefangener Christi Jesu“ nicht nur rein negativ gemeint, denn die Gefangenschaft bringt ja nicht nur eine Einschränkung des Wirkens als Apostels mit sich, sondern auch die Ehre des Leidens im Dienste und in der Nachfolge Christi. Die Selbstbezeichnungen „alter Mann“ und „Gefangener Christi Jesu“ machen Aussagen zum gegenwärtigen Dasein des Apostels, das negative und positive Aspekte umfasst.
Fraglich ist, wie alt Paulus tatsächlich ist. Nimmt man die Alterseinteilungen und Bezeichnungen von Philo von Alexandria als Maßstab, der – auf Basis des griechischen Arztes Hippokrates – die Lebensalter des Menschen in Siebenjahresschritten beschreibt, dann handelt es sich bei Paulus um einen 50 bis 56 Jahre alten Mann. Allerdings spricht Philo auch von über 60-jährigen „presbytai“ (vgl. SpecLeg 2,33); zudem sind die antiken Aussagen bezüglich der Altersstufen nicht einheitlich. Überhaupt ist grundsätzlich zu fragen, ob Paulus tatsächlich eine bestimmte Alterseinteilung im Hinterkopf hat, oder ob er nicht vielmehr nur ganz allgemein auf sein hohes Alter verweist. Wie auch immer: Wenn der Verweis auf das hohe Alter Selbsterniedrigung und Gleichstellung mit Philemon zum Zweck hat, dann dürfte Philemon jünger sein.
Kaum Sinn macht ein Versuch, „presbytês“ im Sinne von „presbeutês“ („Gesandter“) zu deuten oder gar das „ê“ einzufügen, denn erstens passt die Bewegungsfreiheit voraussetzende Bezeichnung „Gesandter“ nicht zur Bezeichnung „Gefangener“ und zweitens ist ja gerade keine Hervorhebung des Apostolats anzunehmen, wie sie bei der Bedeutung „Gesandter (Christi Jesu) vorliegen würde.
Mit der Betonung der Gleichrangigkeit geht eine andere Sprache einher: Paulus gebietet Philemon nicht, sondern er bittet ihn.
Weiterführende Literatur: Laut S. B. C. Winter 2004, 122-136 bringe Paulus seine Bitte nicht von einer autoritären, sondern von einer schwachen Stellung aus vor. Die Bitte gehe von der Meinung des Apostels aus, dass eine getaufte Person nicht eine andere getaufte Person ihr eigen nennen könne. Die Bitte sei in apokalyptisches Gedankengut gebettet, das von zwei Weltzeiten ausgehe. So wie die alte, fleischliche und die neue, geistliche Weltzeit Gegensätze seien, seien auch Sklave und (Glaubens-)Bruder Gegensätze. Paulus befasse sich zwar nicht mit der sozialen Gleichheit im Römischen Reich als Ganzem, aber immerhin doch mit dem Verhalten innerhalb der christlichen Gemeinschaft. In diesem Rahmen sei Paulus durchaus an der Gleichheit von Mann und Frau und an der Gleichheit der Freien und Unfreien und folglich an der Freilassung von christlichen Sklaven wie Onesimus interessiert.
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Beobachtungen: Nun kommt Paulus auf Onesimus zu sprechen, für den er bittet. Er bezeichnet ihn als „Kind“ („teknon“), das er selbst „gezeugt“ hat, und zwar „in den Fesseln“, also in Gefangenschaft. Nimmt man die Formulierungen wörtlich, dann hatte Paulus in Gefangenschaft mit einer Frau Geschlechtsverkehr, bei der er ein Kind, nämlich Onesimus, gezeugt hat. Will man nicht eine vieljährige Gefangenschaft voraussetzen, dann müsste Onesimus ein Säugling oder ein Kleinkind sein, was angesichts des im Philemonbrief dargelegten Sachverhalts ausgeschlossen ist. Folglich ist von einer übertragenen Bedeutung auszugehen. Bezieht man die Zeugung auf eine neue Existenz, so ist anzunehmen, dass Paulus im Hinblick auf Onesimus eine neue Existenz erzeugt hat, wobei an die christliche Existenz zu denken ist. Demnach hat Paulus im Gefängnis Onesimus zum christlichen Glauben gebracht (vgl. 1 Kor 4,15; Gal 4,19; ähnlich auch 1 Petr 1,3). Durch die Annahme des christlichen Glaubens ist Onesimus gleichsam ein Kind des Apostels geworden, wobei an Adoption gedacht sein mag. Auf jeden Fall gibt die Bezeichnung „Kind“ ein besonders enges Verhältnis zwischen Paulus und Onesimus wieder.
Die Betonung der Bekehrung des Onesimus zu Christus und das daraus resultierende neue Verhältnis zu Paulus mögen den Zweck haben, dass auch Philemon sich eines neuen Verhältnisses zu Onesimus bewusst werden soll. Die Nennung des Namens „Onesimus“ erfolgt wohl erst deshalb nach einer Vorbereitung, weil eine unvorbereitete Nennung des Namens des „Unnützen“ und Entlaufenen bei Philemon Ärger hervorrufen würde. Die Vorbereitung soll Philemon den Ärger nehmen.
„In den Fesseln“ kann im engen, aber auch im weiten Sinn gedeutet werden. Bei der „Zeugung“ des Onesimus kann Paulus tatsächlich gefesselt gewesen sein kann. Es ist aber auch möglich und wohl wahrscheinlicher, dass er ohne Fesselung im eigentlichen Sinn gefangen war (und weiter ist). Dabei bleibt offen, inwieweit er Bewegungsfreiheit genießt.
Weiterführende Literatur: S. C. Winter 1987, 6-7 vertritt – dem Kommentar von J. Knox aus dem Jahr 1935 folgend - die Ansicht, die griechische Wendung „parakalô peri“ mit Genitiv bedeute nicht „ich bitte für (oder: im Hinblick auf) jemanden“, sondern „ich bitte um jemanden“. Es gehe also im Philemonbrief nicht darum, dass Paulus für den (entflohenen) Sklaven Onesimus Fürsprache einlege; vielmehr bitte er Philemon um Onesimus. (Vgl. S. C. Winter 1984, 204). P. Arzt-Grabner 2004, 49-55 setzt sich kritisch mit dieser These auseinander und verteidigt die traditionelle Übersetzung „ich bitte dich für mein Kind…Onesimus“. P. Arzt-Grabner lobt zwar, dass S. C. Winter für die von ihr vorgeschlagene Übersetzung von V. 10 als Belege einige Beispiele aus der Literatur und aus dokumentarischen Papyri anführe, kritisiert jedoch die Art und Weise, wie sie die Belege anführt. Eine kritische Überprüfung der gebotenen Texte zeige, dass hier einerseits Beispiele für einen Vergleich bemüht wurden, die letzten Endes gar nicht vergleichbar sind, und andererseits andere, tatsächlich vergleichbare Belege bisher keine Erwähnung fanden. Den Textvergleich als Methode betreffend gelte: Es genüge nicht, für die gewünschte Bedeutung einer bestimmten Wendung einige Texte aufzugreifen, die denselben Wortlaut enthalten und diese Bedeutung belegen. Der Textvergleich müsse vielmehr so umfassend wie möglich ausfallen und auch alle semantischen Tiefen berücksichtigen. Im Großen und Ganzen könnten nur dann Texte als echte Vergleichstexte herangezogen werden, wenn auch die einzelnen Glieder der zu untersuchenden Wendung semantisch gleich besetzt sind (also z. B. als Objekt – wie in Phlm 10 – immer ein Mensch und nicht eine Sache oder ein ideeller Wert).
B. M. Rapske 1991, 187-203 gibt zunächst einen Überblick über die Möglichkeiten, warum Onesimus gerade den in einem Gefängnis sitzenden Paulus aufgesucht haben könnte. Dann geht er genauer auf die These von P. Lampe ein, dass der Sklave Onesimus den gefangenen Apostel als „amicus domini“, also als Freund seines Herrn Philemon, aufgesucht habe und sich von diesem angesichts drohender Strafe schlichtendes Eingreifen und Besserung der eigenen Lage im Hause des Herrn erhoffe. Tatsächlich sei gemäß B. M. Rapske aus dem Philemonbrief zu erschließen, dass Onesimus Paulus zielgerichtet als eine Person aufgesucht hat, die bei Philemon in hohem Ansehen steht. Interessanterweise betone der „amicus domini“ Paulus jedoch in seiner Antwort sein Dasein als Gefangener.
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Beobachtungen: V. 11 dürfte auf die Bedeutung des Namens Onesimus anspielen, der von oninêmi („nützlich sein“) abgeleitet ist und „der Nützliche“ bedeutet. Es handelt sich um einen typischen, in Ägypten, Griechenland und Rom häufig belegten Sklavennamen. Der Name lässt also vermuten, dass Onesimus ein Sklave des Philemon ist.
V. 11 geht vom neuen Verhältnis zwischen Paulus und Onesimus zum (gewünschten) neuen Verhältnis zwischen Philemon und Onesimus über. Fraglich ist, inwiefern Onesimus tatsächlich unnütz war und nun nütze geworden ist. Es ist möglich, dass Philemon Onesimus tatsächlich als unnütz angesehen hat. Vielleicht hat es einen Konflikt gegeben, der Philemon zur Ansicht geführt hat, dass Onesimus unnütz sei – unnütz insofern, als dieser nicht das Geforderte durchführt. Dem Philemon nutzlos kann Onesimus auch geworden sein, weil er fortgelaufen ist. Macht man jedoch den Nutzen an der räumlichen Nähe und Verfügbarkeit fest, dann stellt sich die Frage, wie Onesimus nun sowohl Paulus als auch Philemon nützlich sein kann; bei beiden gleichzeitig kann er sich nämlich nicht aufhalten. Man kann höchstens die unmittelbare Abfolge der Aufenthalte des Onesimus bei Paulus und Philemon im Sinne der Gleichzeitigkeit verstehen. In diesem Sinne würde der Aufenthalt bei Paulus bei der Abfassung des Briefes als noch nicht endgültig beendet und die Rückkehr zu Philemon mit dem Eintreffen des (durch Onesimus überbrachten) Briefes als schon begonnen angesehen. Schließlich ist auch an die Möglichkeit zu denken, dass Onesimus insofern unnütz war, als er ein Nichtchrist war und erst durch Paulus nützlich, d. h. Christ geworden ist. Letztere Deutung ist jedoch insofern unwahrscheinlich, als fraglich ist, was rechter Glaube mit Nützlichkeit zu tun hat. Wieso sollte der Christ Onesimus Paulus und Philemon nützlicher sein als es der Nichtchrist Onesimus war? Man kann die Verbindung im Itazismus sehen, also in der Tendenz, e-Laute in hellenistischer Zeit zunehmend als i-Laute auszusprechen. Dann wären „achrêstos“ und „euchrêstos“ „achristos“ und „euchristos“ ausgesprochen worden. Gegen diese Annahme spricht jedoch, dass für „nichtchristlich“ bzw. „christlich“ die Ausdrücke „achristianos“ und „christianos“ zu erwarten wären, nicht jedoch „achristos“ und „euchristos“. Auch ist zu beachten dass ein ganz konkreter Bezug der Nichtsnutzigkeit und des Nutzens gegeben ist, der sich unterscheidet: Unnütz war Onesimus nur für Philemon, nicht jedoch für Paulus. Nütze ist er dagegen beiden. Wäre tatsächlich der Glaube im Blick, dann hätte Paulus sicherlich geschrieben, dass Onesimus sowohl für Philemon als auch für ihn selbst unnütz war, denn schließlich wäre er als Christ ja auch beiden nütze. Das den Glauben betreffende Wortspiel dürfte folglich wohl nicht im Vordergrund stehen. Es ist aber durchaus nicht ausgeschlossen, dass der Anklang an „Christus“ beabsichtigt ist und das den Glauben betreffende Wortspiel zumindest mitschwingt.
Die Formulierung „soi kai emoi“ („dir und mir“) ist insofern ungewöhnlich, als im Altgriechischen gewöhnlich das Personalpronomen der ersten Person Singular demjenigen der zweiten Person Singular vorausgeht. Ist Paulus erst im Verlauf des Diktierens eingefallen, dass Onesimus auch ihm selbst nützlich ist? Oder betont er die Nützlichkeit für Philemon, weil das Verhältnis zwischen diesem und Onesimus im Vordergrund steht und nicht dasjenige zwischen Paulus und Onesimus?
Weiterführende Literatur: Laut P. Arzt-Grabner 2004, 135-136 habe die Charakterisierung des Onesimus als „unbrauchbar“ („achrêstos“) nichts mit einem nicht christlichen Zustand des Onesimus zu tun, sondern entspreche traditioneller Sklaventerminologie: hier sei ein Sklave, der seinem Herrn nützlich sein sollte seiner eigentlichen Aufgabe nicht nachgekommen, sondern habe sich als „unnütz“, als „Nichtsnutz“ erwiesen.
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Beobachtungen: Der Aorist „anepempsa“ kann auch als brieflicher Aorist verstanden werden. Dann wäre Onesimus von Paulus bei der Abfassung des Briefes noch nicht zurückgesandt worden. Zurückgesandt worden wäre erst nach erfolgter Abfassung des Briefes, wenn Philemon den Brief in seinen Händen hält. Es ist also durchaus möglich, dass Onesimus der Überbringer des Briefes ist. Als Übersetzung des Briefes kommen „ich habe gesandt“ oder – geht man von einem brieflichen Aorist aus – „ich sende zurück“ in Frage.
Wenn Onesimus zu Philemon zurückgesandt wird, dann bedeutet das, dass er von Onesimus kommt. Doch warum ist von Philemon zu dem gefangenen Paulus gereist? Die Verbindung der Rücksendung mit einer Bitte und einem Appell an Philemon, sich Onesimus gegenüber auf eine bestimmte Weise zu verhalten, lässt als Hintergrund einen Konflikt zwischen Onesimus und Philemon annehmen. Weil Paulus in einer freundschaftlichen Beziehung zu Philemon zu stehen scheint, liegt die Vermutung nahe, dass Onesimus – vermutlich Sklave des Herrn (dominus) Philemon - den gefangenen Apostel als „Freund des Herrn“ („amicus domini“) aufgesucht hat und sich von diesem angesichts drohender Strafe schlichtendes Eingreifen und Besserung der eigenen Lage im Hause des Herrn erhofft. Wäre Onesimus ein vom Haus seines Herrn geflohener Sklave, würde sich die Frage stellen, warum Onesimus gerade einen Freund seines Herrn aufgesucht hat, denn als Hilfeleister kommt dieser kaum in Frage. Dass Onesimus zufällig auf Paulus getroffen ist, ist angesichts dessen Gefangenschaft unwahrscheinlich. Auch wird Onesimus kaum gefangen genommen und zufällig in das Gefängnis des Apostels gesteckt worden sein, denn dann käme es nicht dem Apostel zu, Onesimus zu dessen Herrn zurück zu schicken, sondern den römischen Magistraten.
Wenn Paulus Onesimus als „mein Herz“ bezeichnet, so bedeutet das, dass er sich mit ihm identifiziert und somit in besonderem Maße an seinem Ergehen interessiert ist. Wiederum (vgl. V. 7) wird der Begriff „ta splanchna“ („die Herzen“) gebraucht. „Ta splanchna“ sind genau genommen die Innereien des Menschen, die hier wohl Ausdruck für das Innere des Menschen, für die Empfindungsfähigkeit sind. Weil wir heutzutage im westlichen Kulturkreis an erster Stelle das Herz mit der Empfindung in Verbindung bringen, ist die Übersetzung „Herzen“ oder „Herz“ passend. Gemäß V. 7 sind „die Herzen der Heiligen“ durch Philemon – konkret: durch seine Liebe – erquickt worden, wofür Paulus Philemon dankt. Wenn Paulus nun in V. 12 Philemon als „mein Herz“ bezeichnet, dann geht er davon aus, dass auch dem „Heiligen“ Onesimus die Liebe zuteil wird und auch dieses „Herz“ erquickt.
Weiterführende Literatur: Einen kurzen Überblick über den Stand der Forschung zur Frage, ob es sich bei Onesimus um einen entlaufenen Sklaven (fugitivus) handelt, gibt P. Arzt-Grabner 2004, 132-133, der auch weiterführende Literatur nennt.
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Beobachtungen: Paulus scheint gut mit Onesimus auszukommen, denn die Zeit mit ihm ist von dem Wunsch geprägt, dass Onesimus doch bei ihm bleiben möge. Die Dauerhaftigkeit des Wunsches geht aus dem Gebrauch der Zeitform Imperfekt (eboulomên = ich wünschte / ich hätte gerne) hervor. So kann der Wunsch, auch wenn er schon in der Vergangenheit bestanden hat, noch in der Gegenwart andauern. Darüber hinaus ist möglich, dass Paulus den Wunsch als vergangen darstellt, weil er sich in die Sichtweise des Adressaten hineinversetzt. So hat Paulus den Wunsch auch in der Gegenwart bei der Abfassung des Briefes, die jedoch Vergangenheit ist, wenn Philemon den Brief in seinen Händen hält.
Paulus stellt dem Verb betont ein „ich“ („egô“) voran, was betont, dass es sich um seinen eigenen Wunsch handelt. Die Betonung lässt schon die Fortsetzung V. 14 erahnen, wonach der eigene Wunsch nicht Maßstab aller Dinge ist.
Über die Dauer des Behaltens (katechein = behalten, zurückhalten) wird nichts gesagt. Es ist an eine zeitliche Beschränkung zu denken, denn ansonsten wäre das – vorausgesetzt, Onesimus ist tatsächlich Sklave des Philemon – Raub des Eigentums des Philemon. Ein solcher Raub würde sicherlich Protest des Beraubten und eine Bestrafung des Räubers nach sich ziehen. Schon ein zeitlich begrenztes Behalten des fremden Eigentums wirft die Frage nach möglichen Konsequenzen auf.
Was ist mit „an deiner Stelle“ („hyper sou“) gemeint? Paulus scheint davon auszugehen, dass eigentlich auch Philemon selbst ihm dienen wollte oder sollte, dies aber aus irgendwelchen Gründen nicht tun kann oder will. Wenn nun schon Philemon durch seine Abwesenheit der Sache des Apostels und damit indirekt auch der Sache des Evangeliums nicht dienen kann oder will, so sollte doch wenigstens sein Sklave Onesimus diesen Dienst übernehmen. Der Dienst für den Apostel und damit indirekt auch für das Evangelium Jesu Christi bzw. Jesus Christus selbst, den „Herrn“ aller Christen, scheint höchste Priorität zu besitzen. Zu ihm ist auch der Christ Philemon aufgerufen. Dieser ist zwar selbst „Herr“ des Onesimus, aber zugleich Sklave Jesu Christi. Wenn ein Sklave des „Herrn“ Jesus Christus einen Dienst nicht ausführen kann oder will, so hat er stellvertretend seinen eigenen Sklaven für den nicht ausgeführten Dienst abzustellen. Im Dienst für das Evangelium Jesu Christi bzw. Jesus Christus selbst kann Paulus ein guter Meister/Lehrer sein. Onesimus – ebenso Philemon – wäre sein Lehrling/Schüler.
„In den Fesseln des Evangeliums“ bedeutet wahrscheinlich nicht, dass das Evangelium selbst fesselt, sondern dass die „Fesseln“ mit dem Evangelium – genauer: mit der Verkündigung des Evangeliums – zu begründen sind (vgl. die Formulierung „Gefangener Christi Jesu“ in V. 1). Es handelt sich wohl um eine kurze, prägnante Charakterisierung des gegenwärtigen Daseins des Apostels. Ein Bezug der Formulierung auf den gewünschten Dienst in dem Sinne, dass der Dienst „in den Fesseln des Evangeliums“ erfolgen, also Onesimus dem Apostel um des Evangeliums willen in die Gefangenschaft nachfolgen soll, ist nicht anzunehmen.
Was zum Dienst für Paulus gehört, lässt sich nicht erschließen. Ganz allgemein ist davon auszugehen, dass es sich um Tätigkeiten handelt, die Paulus aufgrund seiner Gefangenschaft nicht selbst ausführen kann. Dazu gehören Tätigkeiten, die der Kommunikation mit der Außenwelt dienen, wie z. B. Botengänge, aber auch Tätigkeiten, die die Lage des Gefangenen zu bessern helfen, wie z. B. die Reinigung von Kleidungsstücken oder das Besorgen von Lebensmitteln, die im Gefängnis karg und knapp bemessen sein dürften.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Interessanterweise scheint der Wille des Onesimus im Hinblick auf dessen Verbleib bei Paulus keine oder nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Entscheidend ist der Wille Philemons, was auf ein Abhängigkeitsverhältnis des Onesimus von Philemon hinweist. Da Philemon Verfügungsgewalt über Onesimus hat und über dessen Aufenthaltsort bestimmen kann, ist anzunehmen, dass Philemon der Herr seines Sklaven Onesimus ist. Dementsprechend muss Paulus Philemon um Erlaubnis bitten, bevor er Onesimus bei sich behalten darf.
Der Aorist „êthelêsa“ („ich wollte“) stellt einen Kontrast zum Imperfekt „eboulomên“= „ich wünschte / ich hätte gerne“ (V. 13) dar. Der Wechsel der Zeitform lässt sich damit erklären, dass der Aorist hier einen einmaligen Entschluss kennzeichnet, wogegen der Imperfekt für den anhaltenden Willen steht. Obwohl Paulus gerne Onesimus bei sich behalten hätte, hat er den Entschluss gefasst, dies nicht ohne Einverständnis des Philemon zu tun.
Der Begriff „gnômê“ („Einverständnis“) kann auch mit „Meinung“, „Einsicht“ oder „Entschluss“ übersetzt werden. Alle drei Aspekte sind wohl in dem Einverständnis enthalten: Es ist die Meinung des Philemon gefragt. Paulus hofft, dass auch Philemon die Meinung vertritt, dass ein Aufenthalt des Onesimus bei dem gefangenen Paulus sinnvoll ist. Für eine solche gleiche Meinung bedarf es der Einsicht, dass das Ansinnen des Paulus berechtigt und unterstützenswert ist. Ist Philemon zu dieser Einsicht gekommen, so muss er schließlich noch der Entschluss fassen, dass Onesimus tatsächlich zu Paulus zurückgesandt werden soll. Erst mit der Ausführung dieses Beschlusses wird der Wunsch des Paulus erfüllt. Ob es tatsächlich zur Erfüllung des Wunsches kommt, bleibt offen. Geht man davon aus, dass der in Kol 4.9 erwähnte Onesimus mit demjenigen des Philemonbriefes identisch ist, so kann man dies aus dem Kolosserbrief schließen. Vor einer solchen Schlussfolgerung ist jedoch zu bedenken, dass der Kolosserbrief möglicherweise nicht von Paulus abgefasst worden und zudem die historische Richtigkeit der Aussagen nicht über alle Zweifel erhaben ist.
Die Überlassung des Onesimus an Paulus, damit er diesem „in den Fesseln des Evangeliums“ diene, gehört zum „Guten“ (oben mit „Wohltat“ übersetzt). Vom „Guten“ war schon in V. 6 die Rede, wo es darum ging, „alles Gute, das in uns ist“ zu erkennen. Im Lichte von V. 6 gelesen kann „das Gute“ in V. 14 wie folgt gedeutet werden: Der Christ Philemon soll „alles Gute ins uns“, also auch in seinem Glaubensgenossen Onesimus, erkennen. Zu „allem Guten“ gehören auch Wille und Befähigung des Onesimus zu Hilfsdiensten für Paulus. Die fortgesetzte Ermöglichung dieser Hilfsdienste hängt jedoch davon ab, dass Philemon freiwillig „das Gute“ tut und in den weiteren Verbleib des Onesimus bei Paulus einwilligt. Auch diese freiwillige Einwilligung gehört vermutlich zu „allem Guten“, ebenso das „Gute“ in Philemon, das dessen Erkenntnis und freiwillige Einwilligung bewirkt. So wird das ganze Erkennen und Handeln unter den Christen – hier konkret Paulus, Onesimus und Philemon – vom „Guten“ geprägt.
V. 14 scheint den Gedanken vorauszusetzen, dass Paulus Philemon zu etwas zwingen kann. Das erstaunt insofern, als Onesimus vermutlich der Sklave des Philemon ist und – weltlich gedacht – allein Philemon über Onesimus verfügen kann. Stellt Paulus hier der weltlichen Wirklichkeit die geistliche gegenüber, wonach alle Christen Jesus Christus als eigentlichen Herrn haben, dem sie dienen? Dann wäre durchaus an die Möglichkeit zu denken, dass Paulus Onesimus ohne Einwilligung des Philemon bei sich behält, weil nicht Philemon der eigentliche Herr des zwischenzeitlich getauften Onesimus ist, sondern Jesus Christus. Weil Paulus Apostel Jesu Christi ist, diesem also dient und wegen der Verkündigung von dessen Evangelium gefangen ist, wäre der Dienst für Paulus indirekt zugleich ein Dienst für Jesus Christus. Der Dienst für Paulus und somit indirekt auch für Jesus Christus hat Vorrang vor dem Dienst für den weltlichen Herrn. Eine Abwandlung dieser Deutung stellt die Annahme dar, dass der Zwang nicht von Paulus selbst ausgeübt wird, sondern von der Notlage, in der sich Paulus befindet. Wie auch immer: Was erzwungenermaßen geschieht, geschieht unfreiwillig aufgrund eines äußeren Beweggrunds. Dass Paulus nicht darauf eingeht, dass Philemon gegen eine eigenmächtige Vorgehensweise Widerstand leisten könnte, weist zum einen auf das freundschaftliche Verhältnis zwischen beiden hin, zum anderen aber auch auf das Vertrauen darauf, dass sich der Freund den geistlichen Belangen nicht verweigern wird.
Weiterführende Literatur: E. Baasland 1996, 374 vertritt die Ansicht, dass Paulus ebenso wie die Stoiker meine, dass eine notwendige göttliche Ordnung mittels der Freiwilligkeit zusammengehalten werden müsse.
Literaturübersicht
[ Hier geht es zur Übersicht der Zeitschriftenabkürzungen ]
Arzt-Grabner, Peter; „Bitten für“ oder „bitten um“. Zur Problematik des Textvergleichs am Beispiel von Phlm 10, PzB 13/1 (2004), 49-55
Arzt-Grabner, Peter; Onesimus erro. Zur Vorgeschichte des Philemonbriefes, ZNW 95/1-2 (2004), 131-143
Baasland, Ernst; Anagkê bei Paulus im Lichte eines stoischen Paradoxes, in: H. Cancik u. a. [Hrsg.], Geschichte – Tradition – Reflexion III, Tübingen 1996, 357-385
Rapske, Brian M.; The Prisoner Paul in the Eyes of Onesimus, NTS 37/2 (1991), 187-203
Winter, Sara C.; Methodological Observations on a New Interpretation of Paul’s Letter to Philemon, USQR 39 (1984), 203-212
Winter, Sara C.; Paul’s Letter to Philemon, NTS 33 (1987), 1-15
Winter, Sara B. C.; Philemon and the Patriarchal Paul, in: A.-J. Levine [ed.], A Feminist Companion to Paul (Feminist Companion to the New Testament and Early Christian Writings, 6), London – New York 2004, 122-136