Apg 12,6-10
Übersetzung
Apg 12,6-10:6 Als aber (der) Herodes ihn vorführen wollte, schlief (der) Petrus in jener Nacht zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und Wachtposten vor der Tür bewachten das Gefängnis. 7 Und siehe, ein Engel des Herrn trat heran und Licht erstrahlte in der Zelle. Mit einem Stoß in die Seite weckte er (den) Petrus und sprach: "Steh schnell auf! Da fielen ihm die Ketten von den Händen. 8 Und der Engel sprach zu ihm: "Gürte dich und zieh deine Sandalen an!“ Und er tat es. Und er spricht zu ihm: "Wirf dein Oberkleid um und folge mir!“ 9 Und er ging hinaus und folgte ihm und wusste nicht, dass es Wirklichkeit war, was durch den Engel geschah; er meinte vielmehr, ein Traumgesicht zu sehen. 10 Als sie aber durch [die] erste und [die] zweite Wache gegangen waren, kamen sie an das Eisentor, das in die Stadt führte; dieses öffnete sich ihnen von selbst und sie traten hinaus und gingen eine Straße weit, und sogleich schied der Engel von ihm.
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Beobachtungen: Mit "Herodes“ dürfte vermutlich der König Herodes Agrippa I gemeint sein, zu dessen Herrschaftsgebiet seit 41 n. Chr. auch Judäa und Jerusalem gehörten (vgl. Beobachtungen zu 12,1).
Wenn Herodes Agrippa I. nun sein Vorhaben, Petrus vorzuführen, in Angriff nahm, so ist daraus zu schließen, dass das Passafest vorüber war, denn Herodes Agrippa I. wollte Petrus dem Volk erst nach dem Passa vorführen (vgl. 12,4). Von der Gefangennahme kurz vor dem Passafest bis zu der Vorführung nach dem Passafest sind einige Tage vergangen, an denen nichts Berichtenswertes geschehen ist.
Es ist davon auszugehen, dass das Verb "proagô“ in V. 6 gleichbedeutend mit dem Verb "anagô“ in V. 4 ist, denn es ist nicht ersichtlich, dass der König sein Vorhaben geändert hat. In beiden Versen geht es darum, dass Petrus vorgeführt werden sollte, und zwar dem (jüdischen) Volk. Mit dem Vorführen dürfte entweder eine Gerichtsverhandlung mit offenem Ausgang vor dem Volk gemeint sein oder die Vollstreckung eines bereits feststehenden Urteils (vgl. Beobachtungen zu 12,4).
Gemäß 12,4 waren pro Nacht vier Abteilungen von vier Soldaten mit der Bewachung des Petrus beauftragt. Die Nachtwache dürfte also aus vier Schichten mit je vier Soldaten bestanden haben. Aus V. 6 geht nun hervor, dass sich diese aufgeteilt hatten: Zwei befanden sich bei dem schlafenden Petrus in der Zelle, zwei − die Zahl wird zwar nicht ausdrücklich genannt, lässt sich aber erschließen - befanden sich vor dem Gefängnis und bewachten dieses von außen. Die beiden Soldaten vor dem Gefängnis werden in V. 6 als "Wachtposten“ ("phylakes“) bezeichnet. In welcher Haltung die Soldaten in der Zelle Wache schoben, wird nicht gesagt. Weil die Aufteilung der Nachtwache in vier Schichten vermutlich die Wachsamkeit der Soldaten sicherstellen sollte, dürften die Soldaten wohl kaum wie Petrus geschlafen haben. Auch werden sie wohl kaum gelegen haben, denn das Liegen hätte zum Einschlafen geführt. Am ehesten ist daran zu denken, dass sie gesessen, gehockt oder gestanden haben. Nur bei einer Vernachlässigung des Wachdienstes dürften die Soldaten gelegen und möglicherweise auch geschlafen haben (vgl. Beobachtungen zu V. 7.10).
V. 6 macht deutlich, dass es für Petrus geradezu unmöglich war zu entkommen. Erstens schlief er und konnte schon deswegen nicht fliehen. Zweitens war er mit zwei Ketten gefesselt, die er kaum mittels eigener Kraftanstrengung hätte sprengen können. Drittens befanden sich bei ihm zwei Soldaten, die jeden Fluchtversuch im Keim erstickt hätten. Viertens wurde das Gefängnis auch von außen von zwei Wachtposten bewacht. Selbst wenn Petrus das Kunststück gelungen wäre, aus dem Gefängnis zu fliehen, so wäre er den beiden Wachtposten vor dem Gefängnis in die Arme gerannt.
Weiterführende Literatur: Zur literarischen Struktur von Apg 12,1-19 siehe W. Rakocy 1994, 39-45. Im Text komme V. 5 als dispositio eine Hauptrolle zu. Thematisch gehe es in den V. 1-19 um die Befreiung von Petrus, nicht um die Verfolgung der Christen.
Mit der literarischen Gattung von Apg 12,6-10 befasst sich W. Rakocy 1994, 85-97, der zu dem Ergebnis kommt, dass es sich um eine Epiphanie handele. W. Rakocy bespricht sie zunächst und vergleicht sie anschließend mit anderen Texten des Lukasevangeliums und der Apg.
Während die um die Geschichte des Frühchristentums bemühte historisch-kritische Exegese mit einem Subtraktionsverfahren alle wunderhaften Elemente der Darstellung des Lukas streiche, um den verbleibenden Rest für ihre historische Konstruktion verwerten zu können, sei Lukas gemäß S. Alkier 1998, 111-134 gerade darum bemüht, mit Hilfe des Wunderdiskurses göttliche und menschliche Geschichte in einer Story unzertrennlich zu verknüpfen. S. Alkier geht dieser Erzählstrategie narrativer Theologie in einer semiotischen Lektüre von Apg 12 nach. Dabei rücke das in den Vordergrund, was Apg 12 sei: ein Text.
D. Marguerat 2003, 163-188 befasst sich mit dem intertextuellen Netz, das der Verfasser der Apg im Hinblick auf Apg 12 mittels Zitaten und Anspielungen knüpfe, und deutet Apg 12 auf Grundlage dieses Netzes. V. 6-10 liest D. Marguerat insbesondere mit Blick auf die Exoduserzählung Ex 12 und auf Texte aus dem Lukasevangelium (u. a. 24,4.6a).
R. W. Wall 1991, 628-643 vertritt die Meinung, dass insbesondere folgender Aspekt zur großen Bedeutung von Apg 12 im gesamten lukanischen Werk beitrage: In den V. 12-17 erzähle und billige Lukas den Übergang der Führung der frühesten Christen von der "apostolischen“ Leitung, deren Repräsentant Petrus sei, zur zweiten Generation christlicher Führungspersönlichkeiten, deren Repräsentanten Jakobus für das Judenchristentum und − in besonderem Maße − Paulus für das Heidenchristentum seien.
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Beobachtungen: Die Formel "und siehe“ leitet das Unerwartete ein. Dass der Engel des Herrn plötzlich und unerwartet an Petrus herantrat, macht auch der Aorist "epestê“ ("er trat heran“) deutlich.
Der Name des Engels bleibt unbekannt. Über den Engel wird nichts weiter gesagt, als dass er "des Herrn“ war. Mit dem Titel "Herr“ dürfte hier Gott - konkret JHWH, der Gott Israels - gemeint sein und nicht Jesus Christus. In der ganzen Bibel treten himmlische Gesandte (Engel = Gesandte) auf, die Gottes Willen kundtun oder durchführen.
Das Erstrahlen des Lichtes wies vermutlich äußerlich sichtbar auf die Herkunft des Engels von Gott hin. Dabei dürfte das Strahlen im Dunkel der Nacht unübersehbar gewesen sein.
Das Substantiv "oikêma“ kann ein Haus, eine Wohnung, ein Zimmer oder eine Werkstätte bezeichnen. In V. 7 handelt es sich eindeutig um einen Raum des Gefängnisses, also um eine Gefängniszelle.
Kein einziges Wort weist darauf hin, dass die Soldaten auf das mit dem Erscheinen des Engels verbundene Geschehen reagiert haben. Daraus ist zu schließen, dass sie nichts mitbekommen haben. Entweder war die Erscheinung nur für Petrus sichtbar − und aufgrund des Stoßes in die Seite auch fühlbar − oder die Soldaten haben geschlafen. Angesichts der Tatsache, dass wache Soldaten mindestens das Verschwinden des Petrus bemerkt hätten, ist letztere Möglichkeit wahrscheinlicher.
Petrus scheint fest geschlafen zu haben, denn er scheint das Licht zunächst nicht wahrgenommen zu haben. Da auch von keinem lauten Geräusch die Rede ist, das Petrus geweckt haben könnte, musste Petrus durch einen Stoß in seine Seite geweckt werden. Der feste Schlaf mag ein Hinweis darauf sein, dass sich Petrus trotz seiner scheinbar aussichtlosen Lage in den Händen Gottes geborgen fühlte.
Wörtlich übersetzt lautet V. 7b: "Mit einem Stoß in die Seite des Petrus weckte er ihn und sprach: …“ Weil klar ist, dass es sich um die Seite des Petrus handelt und das Personalpronomen "ihn“ Petrus meint, kann übersetzt werden: "Mit einem Stoß in die Seite weckte er (den) Petrus und sprach: …“ Der Artikel vor dem Namen ist eine Eigenheit des Altgriechischen und weist darauf hin, dass Petrus eine Person ist, die den Lesern bzw. Hörern der Apg bereits bekannt ist.
Wenn Petrus die Ketten von den Händen fielen, muss er an den Händen angekettet gewesen sein. Da er mit zwei Ketten gefesselt war, müssen beide Hände gefesselt gewesen sein. Dabei dürfte der Verschluss um jedes der beiden Handgelenke gelegt gewesen sein. Woran Petrus gekettet war, ob an eine Zellenwand bzw. eine Halterung an einer Zellenwand, an einen Gegenstand oder an die beiden Soldaten selbst, bleibt offen.
Weiterführende Literatur: Mit dem "Rettungswunder“ Apg 12,1-19(.20-25) befasst sich R. Kratz 1979, 459-473, der darauf hinweist, dass in Befreiungswundertraditionen oft das Wunder der Fessellösung mit dem Wunder der Türöffnung kombiniert sei.
P. Hofrichter 1993, 60-76 geht anhand von Lk 1-2 und Apg 12 der Frage nach, ob Lukas Homers Ilias gekannt und benutzt hat. Ergebnis: Über die atl. Muster (Dan 10,7-12; Tob 12,14-18) hinaus finde sich zu den Engelerscheinungen in Lk 1-2 eine umfassende Parallele im 24. Gesang der Ilias (24,143-193) mit der "sturmfüßigen“ Iris als Götterbotin; und auch zu Apg 12,7-10 finde sich eine Motivparallele im selben Buch (24,77-100): Petrus befindet sich in der Nacht im Gefängnis, Thetis im finsteren Meer in einer Höhle. Petrus schläft zwischen zwei Soldaten und ist bewacht von Aufsehern; Thetis sitzt in der Mitte von anderen Meergöttinnen. Der Engel tritt an Petrus heran, stößt ihn in die Seite und sagt: "Steh schnell auf!“; Iris tritt nahe an Thetis heran und sagt: "Erhebe dich, Thetis!“. Beide, Petrus und Thetis, kleiden sich für ihren Aufbruch an. Beide folgen dem vorangehenden Gottesboten nach. Für den Engel und Petrus tut sich das Tor auf; für Iris und Thetis teilt sich das Wasser. Im Hause der Mutter des Johannes Markus sind die Gläubigen versammelt; am Olymp beraten die versammelten Götter. Beide, Petrus und Thetis, werden von einer Frau empfangen: dem Paulus wird von der Magd Rhode die Tür geöffnet; Thetis erhält von der Göttin Hera den Begrüßungstrunk. Sowohl in Lk 1-2 als auch in Apg 12 habe sich Lukas der rhetorischen Methode der "imitatio“ bedient; er zeige damit eine unbefangene Einstellung zum literarischen und religiösen Erbe der griechischen Kultur.
Auch D. R. MacDonald 2003, 122-145 sieht eine Parallele zwischen der Apg und Homers Ilias, und zwar zwischen der Flucht des Paulus vor Herodes (12,1-17) und der Flucht Priams vor Achilles (Ilias 24). Die beste Erklärung für die Parallele(n) sei Nachahmung. D. Zoroddu 2009, 563-603 knüpft an die Untersuchung von D. R. MacDonald an, geht jedoch über den Aspekt der Nachahmung hinaus, indem sie sich traditionsgeschichtlichen Aspekten widmet. Die Anspielungen auf Homers Ilias seien nicht nur als literarischer Kniff zu verstehen, sondern hätten auch theologische Bedeutung: Fortsetzung und Erfüllung.
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Beobachtungen: Das Verb "hypodeô“ bedeutet genau genommen "unterbinden“. Weil beim Anziehen der Sandalen deren Sohle unter die Füße gezogen und dort mittels über den Füßen verlaufenden Lederriemen gehalten wurde, kann "hypodeô“ auch mit "anziehen“ übersetzt werden.
V. 8 setzt eine Kleidung voraus, die aus dem − hier nicht erwähnten - Unterkleid ("chitôn“) und dem Oberkleid ("himation“) besteht. Das Unterkleid wurde direkt auf dem Körper getragen und bestand nur aus einem großen, viereckigen Wolltuch (oder: Leinentuch), das an der linken Körperseite gefaltet wurde und geschlossen war, an der rechten Seite jedoch offen blieb und an der Schulter mit einer Heftnadel zusammengehalten wurde (dorische Form). Das Unterkleid konnte aber auch sackartig geschlossen (ionische Form) und hemdartig mit Ärmeln versehen sein. Oftmals wurde das Unterkleid gegürtet getragen. Die Aufforderung, dass sich Petrus gürten solle, weist darauf hin, dass Petrus mit einem ungegürteten Unterkleid geschlafen hat. Das Gürten ist ein Zeichen der Beendigung des Schlafs und des Beginns der Aktivität. Das Oberkleid wurde über dem Unterkleid getragen und bestand ebenfalls aus einem großen, viereckigen Wolltuch. Dieses wurde um den Körper geschlungen und auch drapiert, wobei ein Arm unbedeckt blieb. Es konnte auch mit einer Heftnadel auf einer Schulter befestigt werden. Frauen zogen das Oberkleid oftmals über ihren Kopf und trugen es als Kopftuch. Das Oberkleid hatte Petrus zum Schlaf abgelegt, weshalb er es für den Aufbruch wieder umwerfen musste.
In V. 8 erfolgt ein nicht gekennzeichneter zweifacher Subjektwechsel: Zunächst ist "der Engel“ das Subjekt, dann "er“, wobei Petrus gemeint ist. Dann ist erneut "er“ das Subjekt, wobei diesmal nicht Petrus, sondern der Engel gemeint ist.
Die präsentische Verbform "legei“ ("er spricht“) inmitten von Verbformen des Aorists ist möglicherweise damit zu erklären, dass der Verfasser der Apg die Erzählung lebendig gestalten und die Dramatik des Geschehens unterstreichen will.
Weiterführende Literatur: Im Rahmen seiner Analyse der Befreiungswunder analysiert J. Hintermaier 2000, 187-240 auch Apg 12. Anhand von Vergleichstexten insbesondere des Lukasevangeliums macht J. Hintermaier deutlich, dass Apg 12 auf der Passion (V. 1-6) und Auferstehung Jesu (V. 12-19) aufbaue. Insbesondere ab V. 6 kämen Elemente des Exodusmotivs hinzu, das für Apg 12 eine zentrale Bedeutung habe. Es handele sich nicht nur um Anspielungen auf den gemeinsamen Zeitpunkt der Befreiung (in jener Nacht, Pascha) oder den Ablauf des Paschafestes, der in den Anordnungen des Engels im Gefängnis anklinge (Hüften gürten, Schuhe an den Füßen, hastig), sondern auch die narrative Struktur (Gefangenschaft, Bitte um Hilfe, Befreiung, Erkenntnis, Weggang, Verfolgung, Bestrafung der Verfolger) sei in der Apg aufgegriffen worden. Zudem fänden sich einzelne Stichwörter, die sowohl in Exodus als auch in Apg 12 von Bedeutung seien (patassô, exagô, kyrios), und die mit den anderen Elementen eine ganze Kette von Zusammenhängen bildeten. Die Aufgliederung in Szenen und die sprachlich-syntaktische und semantische Betrachtung zeigten laut J. Hintermaier die grundsätzliche Einheit der gesamten Perikope 12,1-23 auf, auch wenn in der Begründung des Straftodes ein Bruch festzustellen sei.
Auch W. Radl 1983, 81-96 weist auf den Bezug der Befreiungswundergeschichte zur Herausführung Israels (Exodus) hin und spricht Parallelen zum Lukasevangelium an. Der entscheidende Gesichtspunkt sei der, dass Petrus wie Jesus von Gott gerettet wird. Sicher nicht aus dem Tod, sondern nur aus dem Gefängnis. Aber seine Einkerkerung, aus der es kein Entkommen gebe, sei gleichbedeutend mit dem Tod. Und im Kontrast zum Tod des Herodes erscheine die Befreiung des Petrus wie eine Rückkehr ins Leben. Über Gott lasse sich aussagen, dass dieser kontinuierlich als Gott des Exodus erscheine. Laut W. Radl solle die Befreiung des Petrus aus der Gewalt des Herodes die Christen ermutigen und die Juden vom Christusglauben überzeugen.
S. R. Garrett 1990, 656-680 vertritt die These, dass Tod, Auferstehung und Himmelfahrt als ein "Exodus“ erschienen, weil Jesus, der "Stärkere“, mittels dieser Ereignisse das Volk aus den Fesseln des Satans befreit habe. Dieser "Exodus“ sei typologisches Vorbild für Petrus' Befreiung aus der Gefangenschaft und den Fall des Tyrannen Herodes.
D. T. N. Parry 1995, 156-164 weist auf den Zusammenhang von Passafest, Auferstehung und Befreiung mit eschatologischen Erwartungen hin.
Laut D. Ziegler 2008, 183-187 evoziere Apg 12 die aus dem dionysischen Kontext (vgl. die "Bakchen“ des Euripides) hinreichend bekannten Motive des theomachos, der abrupt einsetzenden (erneuten) Verfolgung, die sogar von einem König (vgl. Pentheus!) initiiert werde, und das Motivrepertoire eines Türöffnungs- und Befreiungswunders, begleitet vom Gebet der Gemeinde. Der Tod des Agrippa werde in einer Weise geschildert, die der antiken Gattung vom Tod des Verfolgers entspricht.
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Beobachtungen: Erneut ist "er“ das Subjekt, wobei nicht, wie unmittelbar zuvor, der Engel, sondern wieder Petrus gemeint ist.
In V. 9 steht das Substantiv "horama“ im Gegensatz zur Wirklichkeit. Somit kommt die gewöhnliche Bedeutung "Erscheinung“ nicht infrage. Das Erscheinen des Engels ist nämlich sowohl Wirklichkeit als auch eine (übernatürliche) Erscheinung. Die Bedeutung von "horama“ in V. 9 ist vom geistigen Zustand des Petrus her zu erfassen: Petrus hat fest geschlafen und dabei vermutlich auch geträumt. Die Ereignisse der Träume spielten sich nur in der Traumwelt, nicht aber in der Wirklichkeit ab. Dass Petrus die Ereignisse nach seinem Aufwachen aus dem Schlaf falsch bewertete, weist darauf hin, dass er noch nicht ganz wach war, sondern sich im Halbschlaf befand. Im Halbschlaf konnte er die Ereignisse der Träume und der Wirklichkeit nicht deutlich unterscheiden. Weil er gerade der Traumwelt entrissen worden war, hielt er die Ereignisse der Wirklichkeit für einen Traum oder für eine Erscheinung im Traum (Traumgesicht). Bei einem Traum oder einer Erscheinung im Traum wäre Petrus nicht tatsächlich mit dem Engel geflohen, sondern in der Gefängniszelle geblieben.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: In 12,4.6 bedeutete das Substantiv "phylakê“ "Gefängnis“. In V. 10 ist diese Bedeutung allerdings ausgeschlossen, denn der Engel wird mit Petrus nicht durch zwei Gefängnisse hindurchgegangen sein. Hier dürfte also die Bedeutung "Wache/Wachtposten“ vorliegen, denn an den Wachtposten mussten der Engel und Petrus ja vorbei. Doch welche Wachtposten sind gemeint? In V. 6 werden die beiden Wachen in der Zelle des Petrus als "stratiôtai“ ("Soldaten“) bezeichnet, die beiden Wachtposten vor der Gefängnistür als "phylakes“ ("Wachtposten“). Wegen der fehlenden begrifflichen Übereinstimmung können also sowohl die beiden Wachen in der Zelle als auch die beiden Wachen vor der Gefängnistür als "phylakai“ bezeichnet werden. Auch die Zahlworte "erster“ ("prôtê“) und "zweiter“ ("deutera“) helfen nicht weiter, weil unklar ist, von wo aus gezählt wird. Von Petrus und dem Engel aus gesehen stellen die Wachen in der Zelle die erste und die zweite Wache dar, an der sie vorbei müssen. Für denjenigen, der in das Gefängnis hinein will, stellen die Wachen vor der Gefängnistür die erste und die zweite Wache dar. Weil der Fluchtweg nur rudimentär beschrieben wird, lässt sich anhand des Fluchtwegs auch nur schwer darauf schließen, wo sich die erste und die zweite Wache befinden. Das Verlassen der Gefängniszelle wird nicht erwähnt, ebenso nicht die Tür, vor der sich gemäß V. 6 (zwei) Wachen befanden. Auch ist nicht von einer dritten und einer vierten Wache die Rede. Dass mit der "ersten und zweiten Wache“ die beiden Wachtposten vor der Gefängnistür gemeint sind, lässt sich nur aus der Tatsache erschließen, dass auf die "erste und zweite Wache“ das Eisentor folgt, das in die Stadt führt. Das Eisentor muss der letzte Schritt auf dem Weg in die Stadt gewesen sein. Gemäß V. 6 befanden sich die beiden das Gefängnis bewachenden Wachtposten vor der Tür, also vermutlich vor der Gefängnistür, nicht aber vor dem Eisentor. So ist anzunehmen, dass das Gefängnis von einer Mauer oder anderen Befestigungsanlage umgeben war, deren Durchgang mittels eines Eisentores gesichert war. Zwischen der Mauer oder Befestigungslage und dem Gefängnisgebäude befand sich vermutlich ein Hof, in dem die beiden Wachtposten vor der Gefängnistür Wache schoben. Durch diese beiden Wachtposten mussten der Engel und Petrus hindurch gehen, wobei anscheinend der eine links und der andere rechts von der Tür postiert war.
Dass sich das Eisentor von selbst öffnete, zeigt, dass der Engel und Petrus auf dem Fluchtweg durch nichts gehindert wurden. Der Engel war völlig problemlos und unbemerkt zu Petrus in die Zelle gelangt und ebenso problemlos und unbemerkt führte er diesen aus dem Gefängnis heraus.
Dass keiner der Wächter etwas von dem Engel und der Flucht des Petrus mit dem Engel gemerkt haben sollte, verwundert. Will man nicht annehmen, dass in der Zelle ein Scheinleib des Petrus verblieb, so müssen mindestens die Wächter, die sich in der Zelle aufhielten, das Fehlen des Petrus bemerkt haben. Dass sie dies nicht getan haben, lässt sich nur so erklären, dass sie schliefen. Auch dass die beiden Wächter vor der Gefängnistür nicht merkten, dass der Engel und Petrus zwischen ihnen hindurch schritten, lässt sich am ehesten damit erklären, dass sie schliefen. Möglich ist aber auch, dass die geradezu übernatürlich erscheinende Flucht des Petrus mit dem Engel von den Wächtern auch im Wachzustand nicht wahrgenommen werden konnte. Dass sämtliche Wächter geschlafen haben sollten, erscheint angesichts des Wechsels von vier Schichten Nachtwachen zwecks Sicherstellung der Wachsamkeit der Wächter (vgl. Beobachtungen zu 12,4) merkwürdig. Am ehesten lässt sich der merkwürdige Sachverhalt mit dem Wirken des Engels oder Gottes erklären: Obwohl sich Herodes Agrippa I. und die Soldaten alle Mühe gegeben haben, für eine ausreichende Zahl Wachen und für die Wachsamkeit der Wachen zu sorgen und so die Flucht des Petrus zu einem Ding der Unmöglichkeit zu machen, sind die Wachen doch (aufgrund des Wirkens des Engels oder Gottes) eingeschlafen und haben die Flucht des Petrus nicht verhindert.
Lässt sich aus den rudimentären Angaben zum Fluchtweg des Engels und des Petrus der historische Ort der Gefangenschaft des Petrus erschließen? Am ehesten kommen in Jerusalem der Palast des Herodes ("Zitadelle“) im Westen der Stadt beim heutigen Jaffator und die Festung Antonia im Norden als Orte infrage. Der Palast des Herodes war Königspalast und in den Jahren 6 − 41 n. Chr. Residenz (Prätorium) der Statthalter der römischen Provinz Judäa. Regierten die Statthalter gewöhnlich von Cäsarea am Mittelmeer aus, so zogen sie während der Festzeiten vorübergehend nach Jerusalem, um dort für Ruhe zu sorgen. Die Festung Antonia diente den Truppen des Statthalters als Kaserne. Aus der Angabe, dass das Eisentor in die Stadt führte, lässt sich nichts zum historischen Ort des Gefängnisses sagen, außer dass das Gefängnis im Stadtgebiet oder dem nahen Umland gelegen haben muss. Bedeutsam wird die Angabe nur dann, wenn sie so gedeutet wird, dass sie implizit aussagt, wo das Eisentor nicht hinführte. Wenn tatsächlich die Festung Antonia Ort der Gefangenschaft des Petrus war, dann hätte das Eisentor auch zum Tempel, an den die Festung grenzte, führen können. Folgt man dieser Deutung, dann führte das Eisentor der Festung Antonia eben nicht zum Tempel, sondern in die Stadt. Einige Handschriften, darunter der Codex Bezae Cantabrigiensis (D), fügen die Angabe hinzu, dass der Engel und Petrus (sieben) Stufen hinabstiegen. Da eine theologische Bedeutung dieser Hinzufügung nicht ersichtlich ist, lässt sich diese am ehesten mit Ortskenntnissen seitens des Schreibers (oder: der Schreiber) erklären. Bei der Lokalisierung des historischen Gefängnisortes hilft die Hinzufügung jedoch nicht wirklich weiter: Denn selbst wenn sich die erwähnten (sieben) Stufen einem ganz bestimmten Gebäude zuweisen ließen, wäre immer noch nicht nachgewiesen, dass dieses Gebäude auch tatsächlich der Ort der Gefangenschaft des Petrus war.
Der Engel verließ Petrus, sobald das Gefängnis verlassen und die Entfernung einer Straße − der Begriff "rhymê“ meint insbesondere eine schmale Gasse − zurückgelegt war. Diese eine Straße Entfernung scheint der Sicherheitsabstand zum Gefängnis gewesen zu sein. Nachdem der Sicherheitsabstand erreicht und von den Wächtern nichts zu sehen war, war die Mission des Engels erfüllt und er konnte Petrus verlassen. Dabei wird die Trennung vom Verfasser der Apg nur kurz und nüchtern, ohne sentimentale Ausschmückungen angemerkt.
Weiterführende Literatur: R. I. Pervo 1987, 62-63 weist darauf hin, dass in Apg 12,5-17 Komik und Spannung kunstvoll miteinander verwoben seien. Dies sei u. a. daran zu erkennen, dass Petrus am Passafest ("Tage der ungesäuerten Brote“), dem Fest der Befreiung aus der Gefangenschaft, ins Gefängnis geworfen und aus diesem wundersam befreit wird.
Literaturübersicht
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Alkier, Stefan; Hinrichtungen und Befreiungen: Wahn − Vision − Wirklichkeit in Apg 12. Skizzen eines semiotischen Lektüreverfahrens und seiner theoretischen Grundlagen, in: S. Alkier u. a. [Hrsg.], Exegese und Methodendiskussion, Tübingen − Basel 1998, 111-134
Garrett, Susan R.; Exodus from Bondage. Luke 9:31 and Acts 12:1-24, CBQ 52/4 (1990), 656-680
Hintermaier, Johann; Die Befreiungswunder in der Apostelgeschichte: motiv- und formkritische Aspekte sowie literarische Funktion der wunderbaren Befreiungen in Apg 5,17-42; 12,1-23; 16,11-40, Rom 2000
Hofrichter, Peter; Parallelen zum 24. Gesang der Ilias in den Engelerscheinungen des lukanischen Doppelwerkes, PzB 2/1 (1993), 60-76
Kratz, Reinhard; Rettungswunder: Motiv-, traditions- und formkritische Aufarbeitung einer biblischen Gattung (Europäische Hochschulschriften: Reihe XXIII, Theologie; Bd. 123), Frankfurt a. M. u. a. 1997
MacDonald, Dennis R.; Does the New Testament Imitate Homer? Four cases from the Acts of the Apostles, London 2003
Marguerat, Daniel; Un jeu d’échos intertextuels. L’évasion de Pierre et la mort du tyran (Actes 12), in: D. Marguerat [éd.], Quand la bible se raconte, Paris 2003, 163-188
Parry, David T. N.; Release of the Captives: Reflections on Acts 12, in: C. M. Tuckett [ed.], Luke’s Literary Achievement (JSNTS 116), Sheffield 1995, 156-164
Pervo, Richard I.; Profit with Delight: The Literary Genre of the Acts of the Apostles, Philadelphia, Pennsylvania 1987
Radl, Walter; Befreiung aus dem Gefängnis. Darstellung eines biblischen Grundthemas in Apg 12, BZ NF 27/1 (1983), 81-96
Rakocy, W.; Struktura literacka Dz Ap 12,1-19, ColT 64/4 (1994), 39-45
Rakocy, W.; Studium gatunku literackiego opowiadania o uwolnieniu Piotra z więzienia, RTK 41/1 (1994), 85-97
Wall, Robert W.; Successors to "the Twelve“ according to Acts 12:1-17, CBQ 53/4 (1991), 628-643
Ziegler, Detlef; Dionysos in der Apostelgeschichte − eine intertextuelle Lektüre (Religion und Biographie / Religion and Biography 18), Münster 2008
Zoroddu, Donatella; Does the New Testament imitate Homer?, Athenaeum (Pavia), 97 (2009), 563-603