Apg 20,7-12
Übersetzung
Apg 20,7-12:7 Am ersten Tag der Woche, als wir zum Brotbrechen versammelt waren, redete (der) Paulus zu ihnen, da er am nächsten Tag abreisen wollte; und er dehnte die Rede bis Mitternacht aus. 8 Es waren zahlreiche Lampen in dem Obergemach, wo wir versammelt waren. 9 Ein junger Mann namens Eutychus setzte sich auf die Fensterbank, versank in tiefen Schlaf, als (der) Paulus immer weiter redete, [und] stürzte − vom Schlaf überwältigt − vom dritten Stockwerk hinab und wurde tot aufgehoben. 10 Da stieg (der) Paulus hinab und warf sich auf ihn; und er umarmte [ihn] und sprach: "Regt euch nicht auf, denn seine Seele ist in ihm!“ 11 Und er stieg [wieder] hinauf, (und) brach das Brot und aß; und er redete noch lange bis zum Morgengrauen, dann ging er fort. 12 Sie brachten aber den Jungen lebend und wurden nicht wenig getröstet.
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Beobachtungen: Die Erzählung vom Fenstersturz und der Auferweckung des Eutychus unterbricht den Reisebericht 20,1-6.13-16. Es handelt sich um eine Begebenheit, die sich während des Aufenthaltes des Paulus in Troas ereignete. Vielleicht handelt es sich um eine ursprünglich selbstständige Erzählung, die der Verfasser der Apg in sein Werk eingebaut hat. Der Ortsname "Troas“ taucht nicht in der Erzählung auf, sie muss also nicht von Anfang an mit Troas verbunden gewesen sein. Allerdings legt dies die Zugehörigkeit zum Wir-Bericht nahe, der in V. 5-6 den Ortsnamen nennt.
Unklar ist, wer der Sprecher ist, der als einer Wir-Gruppe zugehöriger Augenzeuge erscheint. Paulus kann nicht der Sprecher sein, weil er in V. 7-12 namentlich erwähnt und über ihn gesprochen wird. Fraglich ist wegen der separaten Erwähnung des Paulus neben der Wir-Gruppe und einer weiteren Gruppe, zu der Paulus sprach, ob Paulus überhaupt der Wir-Gruppe zuzurechnen ist. Da sich in Troas alle namentlich in V. 4 genannten, zwischenzeitlich getrennten Begleiter wieder getroffen hatten, kommen alle in V. 4 namentlich genannten Begleiter des Paulus als Sprecher infrage. Ebenfalls kann aber auch ein in V. 4 und vielleicht auch im ganzen NT nicht namentlich genannter Begleiter des Paulus Sprecher sein. Geht man davon aus, dass der Sprecher von 20,7-12 mit demjenigen des ersten Wir-Berichtes 16,10-17 und mit dem Sprecher von 20,5-6 identisch ist, so dürfte dieser in allen genannten Passagen nicht namentlich genannt sein. Vermutlich war er in Philippi geblieben und stammte aus Troas bzw. war dort wohnhaft. Dass der Verfasser der Apg dieser Sprecher war, ist eher unwahrscheinlich (ausführlich zur Frage des Sprechers siehe 20,5).
Der Plural "sabbata“ kann entweder mit "Sabbate“ oder mit "Woche“ übersetzt werden. Da der Aufenthalt des Paulus in Troas kurz vor seinem Abschluss steht, kann nicht an den ersten Sabbat einer ganzen Reihe, noch in der Zukunft liegender Sabbate gemeint sein. Folglich ist hier die Übersetzung "Woche“ zu wählen. Die wörtliche Übersetzung der Formulierung "tê mia tôn sabbatôn“ lautet demnach "am [Tag] eins der Woche“. Vermutlich ist eine Sieben-Tage-Woche vorausgesetzt. Als "Tag eins“, also als erster Tag, galt den Christen der Sonntag, der Tag der Auferstehung Christi.
Dabei stellt sich jedoch die Frage nach der Abgrenzung des einzelnen Tags. Nach jüdischer Zeitrechnung dauerte ein Tag von einem Sonnenuntergang zum nächsten. Nach römischer Zeitrechnung dauerte ein Tag dagegen von Mitternacht zu Mitternacht, dem heutigen mitteleuropäischen Verständnis entsprechend. Da eine abendliche Versammlung im Blick ist, muss diese nach jüdischer Zeitrechnung am direkt auf den Sabbat folgenden Abend, also am Samstagabend, erfolgt sein. Nach römischer Zeitrechnung dagegen hätte der erste Tag der Woche dagegen nicht schon am Samstagabend begonnen, sondern erst am Sonntag. Die abendliche Versammlung hätte demnach an einem Sonntagabend gelegen.
Wirft man unter dem Gesichtspunkt der beiden verschiedenen Zeitrechnungen einen Blick auf den Reiseverlauf und die Zeitangaben von V. 6, so ergibt sich folgendes Bild: Da in der römischen Antike ein angebrochener Tag als ganzer Tag gezählt wurde, muss Paulus an einem Sonntag (bei jüdischer Zeitrechnung) oder an einem Montag (nach römischer Zeitrechnung) in Troas angekommen sein, denn Paulus hielt sich sieben Tage in Troas auf. Da Paulus fünf Tage für die Reise von Philippi nach Troas brauchte, muss er an einem Mittwoch (nach jüdischer Zeitrechnung) oder an einem Donnerstag (nach römischer Zeitrechnung) in Philippi abgefahren sein.
Da sich die Christen am ersten Tag der Woche zum Gottesdienst versammelten, ist das Brotbrechen wohl als liturgische Handlung zu verstehen. Es handelte sich also um das Brotbrechen im Gedenken an das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern, bei dem dieser das Brot gebrochen hatte (vgl. Mk 14,22; Mt 26,26; Lk 22,19). Da Jesus gemäß dem Lukasevangelium aber auch am Tag der Auferstehung bei einem Abendmahl mit Jüngern das Brot gebrochen hatte (vgl. 24,30), war das Brotbrechen von Anfang an mit dem Tag der Auferstehung verbunden. Ob bei der abendlichen Versammlung Apg 20,7-12 das eucharistische Brotbrechen mit einem Sättigungsmahl verbunden war, ist unklar, angesichts der von vornherein abzusehenden Länge der Versammlung jedoch wahrscheinlich.
Über den genauen Charakter der Rede des Paulus wird nichts gesagt. Handelte es sich um ein Reden im Rahmen des Gottesdienstes oder um ein Reden als Gast bei der Gemeinde? Handelte es sich um einen Vortrag oder um eine Unterhaltung? Das Verb "dialegomai“ lässt dies offen. Das Substantiv "logos“, das hier vermutlich "Rede“ bedeutet, lässt eher an einen Vortrag denken.
Dass Paulus die Rede bis Mitternacht ausdehnte, lässt sich damit begründen, dass Paulus am nächsten Tag abreisen wollte. Es war also die letzte Gelegenheit, der Gemeinde wichtige Dinge zu sagen. Vermutlich handelte es sich um eine Glaubensstärkung angesichts der Tatsache, dass damit zu rechnen war, dass Paulus die Gemeinde aufgrund der geplanten Reise nach Jerusalem und Rom nicht wiedersehen würde.
Paulus sprach zu "ihnen“, wobei offen bleibt, wer zu dieser Zuhörerschar gehörte. Der gottesdienstliche Charakter der Versammlung lässt an Christen der Gemeinde in Troas denken. Diese Christen bildeten die eigentliche Zuhörerschaft, weil Paulus bei ihnen zu Gast war. Der Wir-Gruppe gehörten wohl Begleiter des Paulus an, an die die Rede nicht konkret gerichtet werden brauchte, weil während der Reise ausreichend Gelegenheit zu Unterhaltung und Glaubensstärkung bestanden hatte. Die Reisebegleiter wohnten der abendlichen Versammlung allerdings bei, weil sie zur Gemeinschaft der Christen gehörten und wie Paulus in der Gemeinde Gäste waren. Die fehlende genauere Bestimmung der Zuhörerschaft weist darauf hin, dass die Erzählung 20,7-12 ursprünglich eigenständig war oder einem anderen Zusammenhang angehörte und der Verfasser der Apg sie nur noch in sein Werk einzubauen brauchte.
Weiterführende Literatur: J. Wehnert 1989, 193 geht kurz auf die durch Einschaltungen in mehrere Wir-Stücke zerfallene zweite Wir-Passage 20,5-21,18 ein, die offensichtlich die Kollektenreise des Paulus von Makedonien über Kleinasien nach Jerusalem schildere. J. Wehnert geht davon aus, dass sich Lukas bei den Wir-Passagen eines Stilmittels der jüdischen Literatur bediene, nämlich der (nachträglichen) Autorisierung eines Textes, und auf diese Weise seine um unbedingte Zuverlässigkeit bemühte Darstellung absichere (vgl. S. 182-183).
Laut D.-A. Koch 1999, 367-390 ergebe der Vergleich der beiden Seereisen in Apg 18,18-22a und 20-21, dass der Verfasser der Apg in 20-21 eine Quelle verwertet, und zwar den ersten Teil eines Rechenschaftsberichts, den ein Mitglied der in 20,4 genannten Kollektendelegation nach der Rückkehr aus Jerusalem angefertigt habe. Diese Quelle sei von vornherein im "Wir“-Stil verfasst gewesen. Dagegen gingen die Reiseroute und das "Wir“ von Apg 16,10-17; 17,1 auf Lukas selbst zurück, der so einen gemeinsamen Rahmen für die selbstständige Mission des Paulus bilde. Lukas betone dabei besonders die Lenkung des Geschehens durch den Geist.
C.-J. Thornton 1991 legt dar, dass es Lukas darauf ankomme, dass nicht missionarischer Ehrgeiz des Paulus oder eine zufällige Reiseangelegenheit das Evangelium nach Europa brachten, sondern Gott selbst habe diesen Schritt initiiert. Dafür sei Lukas Zeuge; das aber sei keine Zeugenschaft im Sinne historischer Autopsie, sondern ein Zeugnis des Glaubens, dass die miterlebte Vergangenheit von Gott geleitete Geschichte ist.
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Beobachtungen: Bei den Lampen (lampades) dürfte es sich um Öllampen gehandelt haben, die im Römischen Reich ein Massenprodukt waren. Als Brennstoff wurde Öl − gewöhnlich Olivenöl minderer Qualität − benutzt, das einen Docht für die offen brennende Flamme tränkte. Die Vielzahl der Lampen sorgte zum einen für ausreichend Licht, entwickelte zum anderen aber auch Wärme und verbrauchten Sauerstoff.
Der Codex Bezae Cantabrigiensis bietet "hypolampades“ statt "lampades“. Dabei ist unklar, ob ebenfalls "Lampen“ gemeint sind. Möglich ist auch, dass − mit Blick auf V. 9 − an Fenster gedacht ist. Dann hätte es gemäß dem Codex Bezae Cantabrigiensis im Obergemach viele Fenster gegeben.
Das Vorhandensein (mindestens) eines Obergemachs (hyperôon) setzt ein mindestens zweigeschossiges Haus voraus. Als einzige Funktion des Obergemachs lässt sich 20,7-12 entnehmen, dass es der Versammlung der Gemeinde und Gäste diente und in ihm Gottesdienst gefeiert wurde.
Weiterführende Literatur: B. Trémel 1980, 359-369 merkt an, dass es in der Erzählung Apg 20,7-12 viele Leerstellen gebe, die mehrere Deutungen zuließen und die Phantasie der Leser anregten. Es sei zu fragen, ob nicht von einer zweiten, einer symbolischen Deutung auszugehen ist. Der parallele Gebrauch von "epesen“ ("er fiel/stürzte“) und "epepesen“ ("er warf sich auf“; vgl. V. 10), der Kontrast des Lichtes der Lampen und der Dunkelheit der Nacht und die detailreiche Sprache im Hinblick auf Daseinsräume und −zustände (Leben und Tod) könnten symbolisch verstanden werden. A. D. Bulley 1994, 171-188 greift diese Beobachtungen auf und legt dar, dass diese zu der von ihm gebotenen semiotischen Analyse hinführten. Die Bedeutung von narrativen Rollen, von Räumen (z. B. in hinein / aus heraus; hinauf / hinunter), von Zeiten, zusammen mit der Beachtung von Gegensätzen innerhalb des Textes (z. B. Leben / Tod; licht / dunkel) seien für den semiotischen Ansatz grundlegend.
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Beobachtungen: Der griechische Name "Eutychus“ bedeutet übersetzt "der Glück hat“. Ob es sich um den wahren Namen einer Begebenheit handelt, die sich tatsächlich ereignet hat, oder ob der Name im Hinblick auf die erzählte Begebenheit gewählt wurde, ist fraglich. Auf jeden Fall hatte Eutychus, der im NT nur in dieser Erzählung erscheint, Glück im Unglück.
Die Bezeichnung "neanias“ meint einen "jungen Mann“. Dabei bleibt das genaue Alter offen. Es kann sich um einen Jugendlichen oder um einen jungen Erwachsenen maximal mittleren Alters (40 Jahre) handeln.
"Epi tês thyridos“ ist wörtlich "auf das Fenster“ zu übersetzen. Das Fenster bestand aus einer Fensteröffnung und einer Vertiefung in der Wand, in der sich die Fensteröffnung befand. An der Unterseite des Fensters muss die Vertiefung so groß gewesen sein, dass sie eine Sitzfläche bildete. Vielleicht war die Vertiefung von der Art einer Fensterbank. Auf diese setzte sich der junge Mann namens Eutychus, und zwar mit dem Rücken zur Fensteröffnung, den Blick zur Versammlung und wohl auch zum Redner Paulus gerichtet.
Dass Paulus die Rede bis Mitternacht ausdehnte, wird vor dem Hinsetzen des Eutychus auf die Fensterbank erwähnt. Das Partizip Präsens weist darauf hin, dass sich Eutychus erst im Laufe der Rede auf die Fensterbank setzte. Der Grund für das Umsetzen wurde wohl in V. 8 genannt: Die zahlreichen Öllampen hatten Wärme bewirkt und Sauerstoff verbraucht, so dass Eutychus, um wach zu bleiben und die Rede weiter verfolgen zu können, auf die Fensterbank setzte. Dort bekam er mehr Sauerstoff und konnte sich wach halten. Dass er jedoch angesichts des immer längeren Redens des Paulus dennoch in tiefen Schlaf verfiel, lässt daran denken, dass in V. 8 die Lampen nicht als Verursacher der Müdigkeit genannt werden, sondern ihnen symbolische Bedeutung als Lichtspender zukommt: Die Glaubensstärkung des Paulus fand im Licht statt, das wiederum symbolisch für Gottesnähe und Wahrheit steht. Mit der Finsternis wäre die Gottesferne und das Böse und Falsche verbunden gewesen und man hätte bei einer Versammlung im Dunklen den Versammelten obskure Machenschaften unterstellen können. Eine solche Deutung der Vielzahl Lampen ist jedoch nicht zwingend, weil eine vergrößerte Sauerstoffzufuhr nicht unbedingt das Einschlafen verhinderte, zumal der junge Mann die Rede des Paulus als zu lang und ermüdend empfunden haben mag und daher Konzentrationsschwierigkeiten hatte.
Mit dem "dritten Stockwerk“ ("tristegon“) dürfte das zweite Obergeschoss gemeint sein. Das Haus, in dem die Versammlung stattfand, muss also mindestens ein Erdgeschoss und zwei Obergeschosse gehabt haben. Vermutlich handelte es sich um ein Mietshaus. Mietshäuser konnten in größeren Städten recht hoch sein. Dass die Versammlung im dritten Stockwerk eines Mietshauses stattfand, weist zum einen auf beengte Platzverhältnisse in der Stadt Troas hin, zum anderen aber auch auf einen großen Anteil Angehöriger der Unter- und Mittelschicht in der Gemeinde.
Dass Eutychus tot war, wird nicht als Vermutung der entsetzten Gemeindeglieder, sondern als Tatsache dargestellt. Der tatsächlich eingetretene Tod ist Voraussetzung für eine Auferstehung von den Toten.
Weiterführende Literatur: D. S. Deer 1988, 246-247 macht deutlich, dass amerikanische und britische Übersetzungen von V. 9 bezüglich des "dritten Stockwerks“ ("tristegos“) unterscheiden müsste: Was für die Briten − wie auch für die Deutschen - das "Erdgeschoss“ ("ground floor“) sei, sei für die Amerikaner das "erste Stockwerk“ ("first floor/story“). Und was für die Briten − wie auch für die Deutschen - das "zweite Stockwerk“ ("second floor/stor[e]y) sei, sei für die Amerikaner das "dritte Stockwerk“ ("third story“). In amerikanischen Übersetzungen sei also der griechische Begriff "tristegos“, der das zweite Obergeschoss meine, mit "third story“ zu übersetzen, in britischen Übersetzungen mit "second floor/stor(e)y“.
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Beobachtungen: Es fällt auf, dass die Handlung des Paulus dem vorangegangenen Geschehen ähnelt: Eutychus fiel/stürzte (epesen) aus dem Fenster des dritten Stocks hinab und Paulus warf sich auf (epepesen) Eutychus.
Dass Paulus auf Eutychus warf und diesen umfasste/umarmte, hat Parallelen in den Totenerweckungen des Elija (vgl. 1 Kön 17,21) und Elischa (2 Kön 4,34). Insofern ist davon auszugehen, dass die Handlung tatsächlich zu einer Totenauferweckung führte. Vielleicht ist sie als Übertragung von Lebenskraft zu verstehen.
Das Verb "thorybeomai“ bedeutet "in Unruhe geraten“, wobei wohl nicht an eine stille innere Unruhe gedacht ist, sondern an lärmende Unruhe. Vermutlich handelte es sich bei dem Lärm um Äußerungen des Entsetzens und der Klage. Die Aufforderung des Paulus zielte also vermutlich darauf ab, dass sich die Gemeindeglieder innerlich und äußerlich beruhigen sollten, wobei er sogleich die Begründung lieferte.
Die Begründung "denn seine Seele ist in ihm“ kann nicht so verstanden werden, dass Eutychus noch lebendig war, denn dann wäre sein Tod keine Tatsache gewesen. Vielmehr sagt die Begründung aus, dass Eutychus nicht unumkehrbar sein Leben ausgehaucht hatte. Die "Seele“ ("psychê“) ist hier wohl als die Lebenskraft zu verstehen, die eine Auferstehung von den Toten noch ermöglichte. Möglicherweise stürzte sich Paulus auf Eutychus und umfasste/umarmte ihn, um das Vorhandensein der Lebenskraft festzustellen. Dann wäre die Handlung nicht als Übertragung von Lebenskraft zu verstehen, weil diese in Eutychus noch vorhanden gewesen wäre.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Das weitere Handeln des Paulus wird recht lapidar berichtet. Dass Paulus den Eutychus von den Toten erweckt hat, kommt nicht weiter zur Sprache. Paulus erscheint also eher als ein Gemeindeleiter, der redet und liturgisch handelt, als ein Wundertäter. Das fehlende Eingehen auf das wundersame Wirken des Paulus lässt sogar daran zweifeln, dass der Verfasser der Apg Paulus als Wundermann darstellen wollte, der Eutychus von den Toten auferweckt hat. Vielleicht wollte der Verfasser der Apg Gott oder Jesus Christus als die eigentlich den Toten auferweckende Macht darstellen. Paulus wäre dann nur Werkzeug Gottes bzw. Jesu Christi bei der Totenauferweckung gewesen.
Dass Paulus erst nach einer langen Zeit der Rede und nach dem Sturz des Eutychus aus dem Fenster das Brot brach und aß, mag damit zusammenhängen, dass das eucharistische Brotbrechen dem Gedenken an Jesu Tod und Auferstehung diente. Im Lichte Jesu Tod und Auferstehung sind auch Tod und Auferweckung des Eutychus zu verstehen. Insofern hatte das eucharistische Brotbrechen im Rahmen der Erzählung nach dem Tod und der Auferweckung des Eutychus seinen richtigen Ort. Dass Paulus wieder in den dritten Stock hinaufstieg, ohne dass ausdrücklich die Auferweckung des Eutychus von den Toten ausgesagt wurde, zeigt, dass Paulus sicher die Auferweckung annahm. Die Aussage "denn seine Seele ist in ihm“ ist also als Ausdruck der Sicherheit zu verstehen.
Es wird nur von Paulus ausgesagt, dass er das Brot brach und aß. Er wird also als Liturg herausgestellt. Dabei stellt sich die Frage, ob das Essen Bestandteil des eucharistischen Brotbrechens war oder auf ein dem Brotbrechen folgendes Sättigungsmahl hinweist. Für einen Hinweis auf ein Sättigungsmahl spricht, dass das Verb "geuomai“ ("essen“) in der Apg das der Sättigung dienende Essen meint (vgl. 10,10; 23,14) und das Essen bei Jesu letztem Abendmahl mit dem Verb "esthiô“ ausgedrückt wird (vgl. Mt 26,26).
Dass Paulus noch bis zum Morgengrauen redete und dann direkt fortging, weist darauf hin, dass er den Besuch bis zur letzten Minute für das Gespräch nutzen wollte. Dabei ist möglich, dass der Verbwechsel auf einen geänderten Charakter des Gesprächs hinweist. In V. 7 fand sich das Verb "dialegomai“ ("reden“), das in Verbindung mit dem Substantiv "logos“ ("Rede“) einen Vortrag annehmen ließ. Das in V. 11 benutzte Verb "homileô“ ("sich unterreden“) dagegen lässt eher an eine Unterhaltung denken, die vielleicht auch einen persönlicheren Charakter hatte. Paulus scheint also bis Mitternacht einen Vortrag gehalten zu haben und danach zu einer Unterhaltung übergegangen zu sein, die bis zum Morgengrauen dauerte.
Paulus ging fort, ohne sich zu vergewissern, ob Eutychus tatsächlich von den Toten auferweckt worden ist. Eine solche Vergewisserung wäre schon deshalb nahe liegend gewesen, weil Eutychus seit dem vor geraumer Zeit (Mitternacht?) erfolgten Fenstersturz nicht mehr zur Versammlung in den dritten Stock gekommen ist. Dass Paulus trotz des ausgebliebenen Erscheinens des Eutychus auf eine Vergewisserung der Auferweckung verzichtete, unterstreicht seine Sicherheit bezüglich der erfolgten Auferweckung.
Weiterführende Literatur: Laut D. Ziegler 2004, 194-196 zeige die Erzählung 20,7-12 unter drei Aspekten intertextuelle Anknüpfungspunkte an die dionysische Welt (vgl. die "Bakchen“ des Euripides): Zum einen sei zu beachten, dass die Wortverkündigung und die Feier des Brotbrechens die ganze Nacht andauert und erst in den frühen Morgenstunden endet. Das entspreche den Gepflogenheiten in vielen antiken, besonders aber auch den dionysischen Mysterien, die in der Regel in der Nacht gefeiert worden seien. Des Weiteren gehöre zur kritischen Rezeption antiker Mysterienfeiern die Betonung des Wortes und des Brotes. Und schließlich stellten gemäß dem antidionysischen Klischee die nächtlichen Kultfeiern für Dionysos eine große Gefahr für die Jugend dar. Zwar erwiesen sich demgegenüber die christlichen Mysterienfeiern als harmlos und unverdächtig, doch komme in der Erzählung 20,7-12 während einer nächtlichen Mysterienfeier ein junger Mann ums Leben, wobei der Jüngling letztendlich aufgrund des Eingreifens des Paulus letztlich wohlbehalten bleibe und ein Skandal verhindert werde.
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Beobachtungen: Das Substantiv "pais“ kann sowohl mit "Junge“ als auch mit "Sklave“ übersetzt werden. Eutychus war also entweder ein Junge oder ein Sklave. Als Junge wäre er ein Jugendlicher gewesen, der − entgegen der vom Codex Bezae Cantabrigensis zu V. 4 gebotenen Variante, die Eutychus als Begleiter des Paulus nennt − aufgrund seines geringen Alters Paulus wohl kaum auf seiner beschwerlichen Reise von Griechenland durch Makedonien bis nach Troas begleitet hat. Der jugendliche Eutychus könnte wohl deswegen am späten Abend besonders müde gewesen sein, weil er gewöhnlich früher ins Bett ging. Die Müdigkeit des Sklaven Eutychus könnte sich damit begründen lassen, dass er auch am ersten Tag der Woche arbeiten musste und abends entsprechend erschöpft war.
Erst nachdem Paulus weggegangen ist, wird der Junge - vermutlich von Gemeindegliedern − gebracht. Er war also stundenlang von der Gemeinschaft ausgeschlossen und hatte somit das weitere Reden des Paulus verpasst. Will man Paulus und die Gemeindeglieder wegen des Ausschlusses nicht der Hartherzigkeit bezichtigen, dann muss die verspätete Aufnahme in die Gemeinschaft einen Grund gehabt haben. Zunächst einmal ist festzustellen, dass Paulus sich trotz des ausbleibenden Erscheinens des Eutychus dessen Auferweckung von den Toten sicher war. Dies wird dadurch betont, dass Paulus vor dem Herbeiholen des Eutychus gegangen war. Darüber hinaus ist festzustellen, dass sich die Gemeindeglieder der Auferweckung wohl nicht so sicher waren, denn dann wären sie schon vor dem Erscheinen des Eutychus nicht wenig getröstet worden. Es ist davon auszugehen, dass sich der Trost auf das vorangegangene Entsetzen und Klagen bezieht, das sich nun als voreilig und nicht angemessen erwies, nicht aber auf Trauer wegen des Weggehens des Paulus. Dass die Gemeindeglieder nicht vorher Eutychus herbeiholten, mag damit zu erklären sein, dass sie den Worten des Paulus Glauben schenkten, auch wenn sie nicht restlos überzeugt gewesen zu sein scheinen. Das waren sie wohl erst nach dem Herbeiholen des Eutychus, das die Auferweckung allen unzweifelhaft vor Augen führte. Da Paulus schon gegangen war, konnte er nicht mehr als Wundertäter gepriesen werden. So bleibt abschließend die Feststellung, dass das Wunder in den Vordergrund tritt, Paulus als Wundertäter dagegen in den Hintergrund.
Gemäß dem Codex Bezae Cantabrigiensis war es Paulus, der Eutychus herbeiholte, und zwar als "sie“ − gemeint sind sicherlich die Gemeindeglieder − sich von ihm verabschiedeten. Diese Variante lässt sich als inhaltliche Korrektur eines Schreibers verstehen, der sich daran störte, dass Paulus nach der Auferweckung das Brot gebrochen, gegessen und geredet hatte und schließlich weggegangen war, ohne Eutychus herbeizuholen.
Weiterführende Literatur: Laut B. Kowalski 2005, 19-37 habe der Fenstersturz des Eutychus zur Abschiedssituation des großen Predigers Paulus geführt. Lukas verbinde dazu eine Herrenmahlfeier mit einer Totenerweckung durch das beiden gemeinsame Motiv der Auferstehung. In der Mahlfeier werde die Gegenwart des Auferstandenen gefeiert, die sich in der Auferweckung des Eutychus konkretisiere und bewahrheite. Lukas präsentiere am Beispiel des Paulus eine vorbildliche Gemeindesituation, in der der Gottesdienst in den Alltag und der Alltag in den Gottesdienst hineinwirkten.
D. R. MacDonald 1994, 5-24 legt dar, dass gewöhnlich davon ausgegangen werde, dass der ungewöhnlichen Erzählung Apg 20,7-12 Elijas Auferweckung des Sohnes einer Witwe (1 Kön 17,17-24) zugrunde liege. Auch könne an die Auferweckung der Tochter des Jairus (Mk 5,35-43) gedacht werden, die Lukas in 8,49-56 in abgeänderter Fassung wiedergab. Beide Auferweckungserzählungen könnten jedoch nicht die ungewöhnlichsten und erstaunlichsten Aspekte der Erzählung 20,7-12, nämlich die Lampen, den fatalen Sturz und die Verzögerung der Auferstehung bis zum nächsten Morgen erklären. Daher vermuteten einige Ausleger eine mündliche Tradition hinter der Eutychus-Erzählung. D. R. MacDonald geht jedoch davon aus, dass die Bücher 10-12 der Odyssee den Hintergrund bildeten. In diesen Büchern werde berichtet, wie Elpenor, der Jüngste der Mannschaft des Odysseus, auf einem Dach einschlief und mitten in der Nacht von dort zu Tode stürzte. Odysseus habe von dem Vorfall erst dann erfahren, als Elpenors Seele aus der Unterwelt heraufkam, um Odysseus zu treffen. Daraufhin sei Elpenors Leichnam die erforderliche Klage und Bestattung zuteil geworden.
Literaturübersicht
[ Hier geht es zur Übersicht der Zeitschriftenabkürzungen ]
Bulley, Alan D.; Hanging in the Balance: A Semiotic Study of Acts 20:7-12, EgT 25 (1994), 171-188
Deer, Donald S.; Getting the "Story“ Straight in Acts 20:9, BiTr 39 (1988), 246-247
Koch, Dietrich-Alex; Kollektenbericht, "Wir“-Bericht und Itinerar. Neue (?) Überlegungen zu einem alten Problem, NTS 45/3 (1999), 367-390
Kowalski, Beate; Eutychus, SNTU 30 (2005), 19-37
MacDonald, Dennis R.; Luke’s Eutychus and Homer’s Elpenor: Acts 20:7-12 and Odyssey 10-12, Journal of Higher Criticism 1 (1994), 5-24
Thornton, Claus-Jürgen; Der Zeuge des Zeugen: Lukas als Historiker der Paulusreisen (WUNT 56), Tübingen 1991
Trémel, Bernard; A propos d’Actes 20,7-12: Puissance du thaumaturge ou du témoin, RThPh 112/4 (1980), 359-369
Wehnert, Jürgen; Die Wir-Passagen der Apostelgeschichte: ein lukanisches Stilmittel aus jüdischer Tradition (Göttinger Theologische Arbeiten 40), Göttingen 1989
Ziegler, Detlef; Dionysos in der Apostelgeschichte − eine intertextuelle Lektüre (Religion und Biographie / Religion and Biography 18), Münster 2008