Kol 1,1-2
Übersetzung
Kol 1,1-2: Paulus, Apostel Christi Jesu durch Gottes Willen, und der Bruder Timotheus 2 an die heiligen und treuen Geschwister in Christus, [die] in Kolossä [sind]: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater.
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Beobachtungen: Der Briefeingang (Präskript) ist zweiteilig, was der orientalischen Form des Briefanfangs entspricht. Zunächst werden Absender und Adressat angegeben, dann folgt ein Segenswunsch. Die Nennung des Absenders im Nominativ vor dem Adressaten im Dativ entspricht
der hellenistischen Form. Somit handelt es sich bei dem Anfang dieses Briefes und anderer paulinischer Briefe um eine Mischform.
Verfasser des Briefes sind gemäß V. 1 Paulus und sein enger Mitarbeiter Timotheus. Offen bleibt, ob Timotheus tatsächlich einen gewichtigen Anteil an der Abfassung hatte, oder ob er nur deswegen genannt wird, damit der Brief einen offiziellen Charakter bekommt und nicht als reine Privatsache des Paulus erscheint. Für letztere Annahme spricht, dass schon der Titel „Apostel“ Paulus gegenüber dem nur „Bruder“ genannten Timotheus eine herausgehobene Stellung zuweist. Möglich ist auch, dass Timotheus die Funktion eines Schreibers innehatte, dem Paulus diktiert hat.
Wenn der als „(Glaubens-)Bruder“ bezeichnete Timotheus als Mitverfasser genannt wird, so besagt dies, dass er sich in Paulus' Nähe aufhalten muss.
Paulus hat den Brief (mit Timotheus) nicht als reine Privatperson verfasst, sondern als „Apostel Christi Jesu“. Ein „Apostel“ ist zunächst einmal ein Gesandter, wie sie von Gemeinden geschickt werden. Paulus ist allerdings nicht im Auftrage einer Gemeinde tätig, sondern im direkten Auftrage Jesu Christi. Es war nicht Paulus’ eigener Wille, sich zum „Apostel“ zu ernennen, sondern es war Gottes Wille. Es ist möglich, wenn auch nicht zwingend anzunehmen, dass sich Paulus auf seine in Apg 9,1-9 geschilderte, von einer Audiovision bewirkte Bekehrung vom Christenverfolger zum Christen bezieht. Der Hinweis auf Gottes Willen soll vielleicht Einwände von Kritikern im Hinblick auf Paulus’ Legitimation entkräften.
Möglich ist, dass schon die Nennung von Paulus und Timotheus der Legitimation und Einordnung der Inhalte des Briefes dienen. Wenn jemand anderes als Paulus der Verfasser des Kolosserbriefes ist, stellen sich die Fragen: Woher nimmt der Verfasser die Autorität, einen solchen Brief zu schreiben? Und welchem Gedankengut fühlt sich der Verfasser verpflichtet? Der Verfasser kann durchaus ein Amt innegehabt haben oder auch ohne ein Amt eine angesehene Person gewesen sein und dennoch unter falschem Namen (= Pseudonym) geschrieben haben. In der Antike war es durchaus nicht ungewöhnlich, dass man sich unter Verwendung eines falschen Namens eine höhere Autorität verschaffte und zu erkennen gab, wessen Gedankengut das Geschriebene angehörte. Der Verfasser (oder: die Verfasser) hätte seinem Schreiben also so große Bedeutung beigemessen, als sei es von Paulus selbst verfasst worden. Um sicherzustellen, dass seinem Schreiben seitens der Empfänger auch tatsächlich die gewünschte Bedeutung beigemessen wird, hätte er unter falschem Namen geschrieben. So wussten die Empfänger auch gleich, dass der Inhalt dem Gedankengut des Paulus entsprach. Wenn sie den Verfasser kannten, dann dürfte ihnen natürlich klar gewesen, dass es nicht der leibhaftige Paulus war, der ihnen den Brief geschrieben hatte. Es kann sein, dass der leibhaftige Paulus bei der Abfassung des Briefes an die Kolosser bereits gestorben war und die Empfänger des Briefes das auch wussten. Sollte der Name Paulus falsch sein, dann ist dies auch bei Timotheus anzunehmen. Timotheus wäre nur in Angleichung an die echten Paulusbriefe genannt worden. Die Nennung wäre nur erfolgt, um dem Brief einen offizielleren Charakter zu geben und ihn nicht als reine Privatsache des Verfassers erscheinen zu lassen. Sollten tatsächlich falsche Namen verwendet worden sein, so ist dies also nicht im Sinne einer Fälschung zu deuten und sicherlich von den Empfängern auch nicht so gedeutet worden.
Timotheus wird nicht als "Apostel" bezeichnet, sondern "nur" als "der Bruder". Das fehlende Possessivpronomen "mein" oder "euer" weist darauf hin, dass es hier nicht um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Person wie Paulus oder die Kolosser geht, sondern um das Brudersein. Timotheus ist nicht ein leiblicher Bruder, sondern ein geistlicher: Er ist ebenso wie Paulus und die Adressaten des Briefes in Kolossä ein Christ.
Weiterführende Literatur: Laut V. Balabanski 2015, 131-150 werde oft angenommen, dass Philemon, Apphia und Philemons Hauskirche in Kolossä zu verorten seien. Dabei wundere man sich darüber, dass im Kol kein Gruß an Philemon zu finden ist. Diese Annahme und Verwunderung basiere jedoch auf der irrigen Annahme, dass der Kolosserbrief und der Philemonbrief für die zeitgleiche Versendung abgefasst worden seien. Die fehlerhafte Logik sei wie folgt: Bezüglich Archippus werde angenommen, dass er (gemäß Phlm 1-2) am gleichen Ort wie Philemon sei. In Verbindung mit der Annahme, dass sich Archippus in oder nahe Kolossä aufhalte (vgl. Kol 4,17), komme man zu dem Ergebnis, dass Philemon und seine Hauskirche in Kolossä zu verorten seien. Diese Schlussfolgerung sei zwar möglich, aber keinesfalls zwingend, weil der Kol und der Phlm zwei verschiedene Briefe mit zwei verschiedenen Szenarien und zwei verschiedenen Entstehungszeiten bzw. Versandzeiten seien. Ähnlich kurzschlüssig gehe man bezüglich Onesimus vor: Onesimus werde zu seinem Herrn Philemon zurückgesandt (vgl. Phlm 12). Und Onesimus werde (gemäß Kol 4,9) zusammen mit Tychikus als dessen Begleiter nach Kolossä geschickt. Daraus werde geschlossen, dass Philemon in Kolossä wohnhaft sei. Das sei ebenfalls möglich, aber ebenfalls aus den genannten Gründen keine zwingende Schlussfolgerung. Der Kol sei weder an Philemon noch an Apphia noch an Philemons Hauskirche gerichtet. V. Balabanski geht davon aus, dass der Phlm in der frühen Phase seiner Gefangenschaft in Rom verfasst worden sei, vielleicht 60 n Chr. Philemon, Apphia und Philemons Hauskirche seien in Italien zu verorten, vielleicht sogar in Rom. Der Kol dagegen sei von Timotheus verfasst worden, und zwar ein oder zwei Jahre nach dem Phlm, und richte sich an die Kolosser.
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Beobachtungen: "Hagiois" kann sowohl ein Substantiv als auch ein Adjektiv sein. Es kann sich also um "Heilige", handeln, und zwar um "Heilige [, die] in Kolossä [sind]", oder um "heilige und treue/gläubige Geschwister in Christus".
Geht man davon aus, dass "hagiois" ein Substantiv ist, dann ist möglich, dass es sich bei den "Heiligen in Kolossä" und den "treuen/gläubigen Geschwistern in Christus" um zwei Personengruppen handelt. Allerdings bliebe bei der zweiten Personengruppe unklar, wo sie wohnt. Außerdem handelt es sich bei "gläubigen Geschwistern" um "Heilige". Selbst wenn man "pistois" mit "treue" übersetzt, sind die "treuen Geschwister" zugleich gläubig und damit "Heilige". Und schließlich spricht gegen zwei Personengruppen das Fehlen des bestimmten Artikels "die" vor "treuen/gläubigen Geschwister in Christus". Daher ist anzunehmen, dass es sich bei den Adressaten nur um eine Personengruppe handelt, und zwar um "Heilige in Kolossä", die zugleich "treue/gläubige Geschwister in Christus" sind.
Das Adjektiv "pistois" kann mit "treue" oder "heilige" übersetzt werden. Hier ist wohl die Übersetzung "treue" richtig, weil "heilige" und "gläubige" bedeutungsgleich ist. Die Adressaten sind zugleich treu und gläubig, d. h. sie sind im Glauben treu und damit in der Bedrängnis oder gegenüber Irrlehren standhaft (vgl. 1,11).
Paulus bzw. der Verfasser des Kol benutzt den Begriff „Heilige“ im Hinblick auf alle Christen und nicht nur im Hinblick auf besonders herausragende Christen, die Wunder oder andere herausragende Taten vollbringen. „Heilige“ sind nach seinem Verständnis Menschen, die aus dem gewöhnlichen Alltag herausgehoben und dem heiligen Gott Vater und dessen Sohn Jesus Christus zugeeignet sind. Sie befinden sich in deren Macht- und Heilsbereich.
Die Christen, an die der Brief gerichtet ist, befinden sich in Kolossä. Es ist nicht von einer Gemeinde die Rede, sondern die Christen in Kolossä erscheinen als eine Menge Einzelpersonen. Liegt dies daran, dass sie (noch) nicht zu einer Gemeinde zusammengeschlossen sind? Dann hätten sich die verschiedenen Christen in Kolossä zum Gottesdienst an einem Ort versammelt, ohne dass es verfestigte Gemeindestrukturen gab. Oder es hätte verschiedene Hausgemeinden gegeben, die untereinander Kontakt hatten. Ein Versammlungsort der Christen oder Kontakt zwischen den Hausgemeinden ist mindestens anzunehmen, weil sonst der Brief an die Kolosser weder hätte verlesen noch dessen Inhalt unter den Christen in Kolossä hätte bekannt gemacht werden können.
Die phrygische Stadt Kolossä lag etwa 170 Kilometer (Luftlinie) östlich von Ephesus im Tal des Lycus/Lykos (heute: Çürüksu Çayɩ), eines Nebenflusses des Meandros (Mäander; heute: Menderes), an der Handelsroute von Ephesus ins Innere Kleinasiens. Das Tal war sehr fruchtbar, wurde aber häufig von Erdbeben heimgesucht. Kolossä bildete mit den beiden Städten Hierapolis und Laodizea ein Dreieck in der agrarisch geprägten Region, verlor jedoch gegenüber diesen Städten im 1. Jh. n. Chr. an Bedeutung. Das Erdbeben von 60/61 n. Chr. mag dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben, wobei unklar ist, wie stark die Zerstörungen waren. Was den Kolosserbrief angeht, so dürfte dieser bald nach dem Erdbeben verfasst worden sein. Das würde bedeuten, dass die christliche Gemeinde nicht ausgelöscht worden ist. Sollte das doch der Fall gewesen sein, was nicht ganz auszuschließen ist, wäre die Adressatenangabe fiktiv. "Kolossä" könnte ein Ortsname sein, für den man jeden beliebigen anderen Ortsnamen einsetzen könnte, womit der Kolosserbrief ein Brief wäre, der sich eigentlich an alle Christen richtet. Ab dem 8. Jh. war Kolossä auf jeden Fall nicht mehr besiedelt. Die unbedeutenden Reste von Kolossä liegen heute 16 Kilometer östlich der Stadt Denizli.
Der Segenswunsch enthält den Wunsch, Gnade und Friede sollten bei den Christen in Kolossä sein. Bezüglich der Gnade bleibt offen, um wessen Gnade es sich handelt. Weil der Friede von Gott stammt, ist zunächst auch an die Gnade Gottes, des Vaters der Christen, zu denken. In den gemeinhin für echt gehaltenen paulinischen Briefen wird die Gnade meistens genauer bestimmt, und zwar als "Gnade Jesu Christi". Auch der Friede kommt dort nicht unbedingt (nur) von Gott, sondern verschiedentlich (auch) von Jesus Christus (vgl. 1 Kor 1,3; 2 Kor 1,2 u. a.). In der ursprünglichen Fassung von Kol 1,2 wird Jesus Christus dagegen nicht erwähnt. Seine Erwähnung scheint dem Verfasser nicht so wichtig gewesen zu sein oder er wollte die Aussage auf Gott fokussieren. Aufgefallen ist den späteren Textschreibern die Auslassung schon, wie die zahlreichen Textzeugen beweisen, die "und dem Herrn Jesus Christus" anfügen.
Mit dem Frieden ist vermutlich kein seelischer Zustand gemeint, aus dem der Friede der Christen untereinander resultiert, sondern das durch Jesus Christus bereinigte Verhältnis zu Gott.
Weiterführende Literatur: M. M. Sokupa 2008, 145-158 befasst sich mit heiligen Personen und Heiligkeit im Kolosserbrief. Der häufige Gebrauch der adjektivischen Form des Wortes "hagios" ("heilig"; "Heiliger") in Kol 1 sei bedeutsam für die Deutung des Kol. Ihm komme im Zusammenhang des Themas "in Christus" hinsichtlich des nächsten Kapitels eine besondere Bedeutung zu. Dort werde vor Philosophen, die aufgrund ihres verzerrten Christusbildes eine abweichende Vorstellung von Heiligkeit hätten, gewarnt.
Zu epigraphischen und papyrologischen Belegen fiktiver Verwandtschaftsbeziehungen in kleinen Gruppen oder Vereinigungen im griechischsprachigen östlichen Mittelmeerraum siehe P. A. Harland 2005, 491-513.
Literaturübersicht
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Balabanski, Vicky; Where is Philemon? The Case for a Logical Fallacy in the Correlation of the Data in Philemon and Colossians 1.1-2; 4,7-18, JSNT 38/2 (2015), 131-150
Harland, Philip A.; Familial Dimensions of Group Identity: 'Brothers' (ADELPHOI) in Associations of the Greek East, JBL 124 (2005), 491-513
Sokupa, Mxolisi Michael; Holy Persons and Holiness in Colossians, JAAS 11/2 (2008), 145-158