Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Zweiter Thessalonicherbrief

Der zweite Brief des Paulus an die Thessalonicher

2 Thess 2,13-17

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

2 Thess 2,13-17



Übersetzung


2 Thess 2,13-17 : 13 Wir aber müssen (dem) Gott allezeit für euch danken, vom Herrn geliebte Geschwister, weil euch (der) Gott als Erstlingsgabe erwählt hat zur Rettung in [der] Heiligung des Geistes und im Glauben an die Wahrheit, 14 wozu er euch durch unser Evangelium berufen hat zur Teilhabe an der Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus. 15 So steht nun also fest, Geschwister, und haltet euch an die Überlieferungen, in denen ihr unterwiesen worden seid, sei es mündlich oder durch unseren Brief. 16 Er (selbst) aber, unser Herr Jesus Christus, und Gott, unser Vater, der uns geliebt und ewigen Trost und gute Hoffnung in Gnade gegeben hat, 17 der tröste eure Herzen und stärke [sie] in jedem guten Werk und Wort.



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V. 13


Beobachtungen: In 2,1-2 hat der Verfasser (oder: die Verfasser) des 2 Thess deutlich gemacht, dass der Tag des "Herrn" noch nicht da sei. In V. 3-12 hat er dann die dramatischen endzeitlichen Ereignisse geschildert, die dem Tag des "Herrn" vorausgehen. Wesentliche Merkmale der Darstellung sind die betonte Gegenüberstellung von Heiden und Christen, Ablehnung des Evangeliums (= Unglaube) und Annahme des Evangeliums (= Glaube), Irrtum/Lüge/Gesetzlosigkeit und Wahrheit, Verderben und Rettung. Der Fokus der Schilderung liegt auf Irrtum, Gesetzlosigkeit und Lüge und geht von einer Steigerung von all diesem im dramatischen endzeitlichen Geschehen aus, bis zur Vernichtung des "Gesetzlosen" durch den "Herrn" Jesus. Angesichts dieser Schilderung könnten bei den Adressaten Ängste aufkommen, dass auch sie irregeleitet sein oder werden könnten und auch sie das Verderben treffen könnte. Um dem entgegenzutreten und die klare Unterscheidung zwischen den Christen und den Nichtchristen - speziell Heiden - zu betonen, wendet sich der Verfasser (oder: die Verfasser) des 2 Thess in 2,13-17 wieder den Adressaten zu, und zwar unter dem Gesichtspunkt der "Rettung". Es wird klar: Das Schicksal der Adressaten ist völlig anders als das der Nichtchristen - speziell Heiden - geartet. Dies erklärt der Verfasser (oder: die Verfasser) des 2 Thess mit der Erwählung der Adressaten, für die er Gott dankt.


Der Plural "wir müssen danken" lässt annehmen, dass Paulus (oder: "Paulus") nicht der Hauptverfasser des Briefes ist, sondern es sich bei ihm um ein Gemeinschaftswerk handelt (anders 2 Thess 3,17). Dabei weist das "müssen" auf ein gebührendes Verhalten, auf eine Verpflichtung hin, und zwar vermutlich Gott gegenüber. Die Sprache ist formal und unpersönlich, was typisch für den 2 Thess ist.


Der Dank erfolgt allezeit, womit wohl eher eine Geisteshaltung als eine Vielzahl einzelner Gebete gemeint ist. Der Dank erfolgt für die Erwählung der Adressaten seitens Gottes und ist die zweite Danksagung nach 1,3-4.


Der Titel „Herr“ gibt ein Herrschaftsverhältnis an: Der „Herr“ herrscht über seine Diener/Sklaven, die ihm bedingungslos zu dienen haben. Im Römischen Reich galt der Sklave als Sache. Der „Herr“ konnte also am Sklaven Willkür walten lassen. Allerdings erscheint Jesus Christus (oder: Gott) nicht als ein willkürlicher „Herr“, sondern vielmehr als einer, der seinen Sklaven für ihren Dienst Heil zukommen lässt. Der Sklave/Diener Jesu Christi (oder: Gottes) gehört also zu den sozial privilegierten Sklaven/Dienern. Der Aspekt der Gegenseitigkeit, wie er für das römische Klientelverhältnis typisch ist, spielt eine entscheidende Rolle: Der „Herr“ übt über seine Untergebenen (= Klienten) Macht aus, ist zugleich aber deren Schutzherr. Die Untergebenen wiederum sind dem „Herrn“ dafür zum Dienst verpflichtet. Die Christen befinden sich demnach also in der machtvollen Heilssphäre Jesu Christi, dem sie untergeben sind und dienen.

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„Geschwister“ meint hier nicht leibliche Geschwister, sondern Glaubensgeschwister, nämlich Christinnen und Christen. Bei dem Substantiv „adelphoi“ handelt es sich zwar um eine maskuline Form, die zunächst mit „Brüder“ zu übersetzen ist, jedoch sind hier vermutlich auch die „Schwestern“ eingeschlossen. Dass diese unkenntlich bleiben, liegt an der männerzentrierten Sprache, die gemischtgeschlechtliche Gruppen als reine Männergruppen erscheinen lässt.


Bezüglich der Präzisierung der Erwählung gibt es zwei Textversionen: Die eine liest "aparchên" ("als Erstlingsgabe") und die andere "ap' archês" ("von Anfang an"). Von der Bezeugung der beiden Textversionen her lässt sich nicht eindeutig bestimmen, welche Textversion die ursprüngliche ist. "Aparchên" ist eine Formulierung, die sich in den gemeinhin für echt gehaltenen paulinischen Briefen findet, "ap' archês" dagegen nicht. Wenn man davon ausgeht, dass Paulus der Verfasser des 2 Thess ist oder sich der Verfasser sprachlich an Paulus orientiert, dann ist anzunehmen, dass die Textversion "aparchên" ursprünglich ist. Umgekehrt kann man aber auch argumentieren: Gerade weil "ap' archês" keine paulinische Formulierung ist, ist es eine unerwartete und damit die schwierigere Lesart. Da lag es nahe, zur paulinischen Formulierung "aparchên" hin zu korrigieren. Das spricht dafür, dass die Textversion "ap' archês" ursprünglich ist. Allerdings kann man gegen diese Deutung einwenden, dass sich in Röm 16,5 und Offb 14,4 ebenfalls beide Textversionen finden und in beiden Fällen ganz eindeutig von "aparchên" zu "ap' archês" geändert worden ist.

Den Hintergrund der Bezeichnung „Erstling/Erstlingsgabe“ („aparchê“) bildet die atl. Vorschrift, die ersten Früchte der Ernte und die ersten Abkömmlinge des Viehs Gott als Erstlingsgabe darzubringen (vgl. Lev 23,9-14 u. a.). Die Erstlinge galten nämlich als Gottes Eigentum, wobei sie - wie die Menschen - teils auszulösen waren. Die Darbringenden sollten durch diesen Ritus bei ihrem Gott Gefallen finden (vgl. Lev 23,11). Die Erstlingsgabe hat somit Heilsbedeutung. In 2 Thess 2,13 geht es allerdings nicht darum, dass die Adressaten sich selbst dargebracht haben, sondern darum, dass sie von Gott erwählt worden sind. Demnach hätte Gott selbst sich die Adressaten als Erstlingsgabe dargebracht, was merkwürdig ist und einer der Gründe für eine Änderung des Wortlautes gewesen sein kann. Allerdings setzt der Verfasser des 2 Thess (oder: die Verfasser) eine gewisse Eigenverantwortung und Aktivität bei der Zurückweisung oder Annahme des christlichen Glaubens voraus (vgl. 2 Thess 2,10). Insofern können die Adressaten durchaus als "Erstlingsgabe" angesehen werden, zumal sie zu den ersten Menschen Europas gehören, die den christlichen Glauben angenommen haben.


Der Zweck der Erwählung ist die "Rettung". Bei der "Rettung" handelt es sich um die Rettung vor dem Verderben. Die Rettung, die die Adressaten zu erwarten haben, steht in einem klaren Gegensatz zur Verderbnis, die die "Verlorenen" (= Nichtchristen, insbesondere Heiden) zu erwarten haben.


Die Präposition "en" kann sowohl mit "in" als auch mit "durch" übersetzt werden. Folglich kann der Schluss von V. 13 mit "zur Rettung in [der] Heiligung des Geistes und im Glauben an die Wahrheit" oder mit "zur Rettung durch [die] Heiligung des Geistes und durch [den] Glauben an die Wahrheit" übersetzt werden. Die Heiligung und der Glaube können also die Sphäre sein, in der die Rettung geschieht, oder das Mittel, das zur Rettung führt.


Der altgriechische Begriff "hagiasmos" kommt mehrfach in den gemeinhin für echt gehaltenen paulinischen Briefen vor, ist aber insbesondere im 1 Thess (vgl. 4,3-4.7) von besonderer Bedeutung. In diesem Brief wird die Heiligung des ganzen Menschen als Wille Gottes dargestellt. So wie Gott heilig ist, so sollen auch die gläubigen Menschen heilig sein. Dieses Prinzip der Entsprechung ist schon im AT verbreitet (vgl. Lev 11,44; 19,2 usw.). Der 2 Thess folgt dieser Theologie, spricht dabei konkret von der "Heiligung des Geistes". Dabei kann der Genitiv "des Geistes" so verstanden werden, dass der Geist selbst geheiligt wird oder die Heiligung vom Geist her erfolgt, also durch ihn geschieht. Bei ersterem Verständnis wäre es der menschliche Geist, der geheiligt wird, bei letzterem Verständnis der heilige Geist, der den Menschen bzw. menschlichen Geist heiligt. Vermutlich ist die Doppeldeutigkeit beabsichtigt, denn die beiden Deutungen ergänzen sich hier perfekt. Theoretisch kann "hagiasmos" auch "Heiligkeit" bedeuten, womit die "Heiligkeit des Geistes" gemeint wäre und die Rettung in der "Heiligkeit des Geistes" oder durch die "Heiligkeit des Geistes" erfolgen würde. Mit dem "Geist" wäre der heilige Geist gemeint, dem ja Heiligkeit eigen ist. Allerdings wäre bei dieser Deutung zu erwarten, dass die folgende Formulierung "Glaube/Vertrauen der Wahrheit" so zu verstehen ist, dass der Wahrheit selbst Glaube bzw. Vertrauen eigen ist. Diese Deutung ist jedoch mit Sicherheit nicht zutreffend.


Der altgriechische Begriff "pistis" kann sowohl mit "Glaube" als auch mit "Vertrauen" übersetzt werden. Insofern kann die Formulierung "pistei alêtheias" (wörtlich: "Glaube/Vertrauen der Wahrheit") mit "Glaube an die Wahrheit" oder mit "Vertrauen in die Wahrheit" übersetzt werden. Die "Wahrheit" ist ein Begriff, der Gott und Jesus Christus zugeordnet ist. So kann Jesus Christus als zentraler Inhalt des Evangeliums die "Wahrheit" sein oder auch das Evangelium selbst als "Wahrheit" verstanden werden. Der Glaube an Jesus Christus bzw. das Vertrauen auf Jesus Christus und/oder der Glaube an das Evangelium bzw. das Vertrauen auf Jesus Christus ist bzw. sind also für die Rettung maßgeblich.


Weiterführende Literatur: Laut O. Merk 1994, 405-414 wisse der Verfasser des 2 Thess aus 1 Thess um Gottes erwählendes und rettendes Handeln. Er interpretiere die Erwählungskonzeption auf das Sein der Christen zwischen Christwerden (Taufe) und Wiederkunft Christi.


Laut E. Lubahn 1984, 114-123 sei das größte eschatologische Ereignis in der Auferstehung Jesu Christi ein für allemal geschehen. Dies einzigartige, unüberbietbare Ereignis werde sich in der Zukunft in konkreten, eschatologischen Ereignissen in Gericht und Heil zur Verherrlichung Gottes auswirken. Die Spannung müsse durchgehalten werden: Schon-jetzt und Noch-nicht. Von dieser Feststellung ausgehend erklärt E. Lubahn 2 Thess 2. 2 Thess 2 sei die notwendige Ergänzung zu 1 Thess 4,13-5,11.


J. L. Sumney 1990, 192-204 geht der Frage nach, ob es sich bei dem 2 Thess um einen authentischen Paulusbrief handelt, der literarisch einheitlich ist. J. L. Sumney sieht den entscheidenden Beleg in dem rhetorischen Muster A B A gegeben, das typisch paulinisch sei (und sich zudem auch in den beiden Danksagungen 1,3-12 und 2,13-3,5 erkennen lasse). Es sei weniger wahrscheinlich, dass ein späterer Autor dieses Muster erkannt und auf seinen Brief übertragen hat, als dass Paulus selbst es erneut verwendet hat. Das sei jedoch noch kein abschließendes Argument für die Abfassung des Briefes durch Paulus. Es lasse sich nur sagen, dass die Infragestellung der paulinischen Verfasserschaft in erster Linie von theologischen Unterschieden zwischen Paulus und dem 2 Thess auszugehen hat, nicht aber von Unterschieden hinsichtlich der brieflichen Form.


P. Arzt-Grabner 2010, 151-157 vergleicht den 2 Thess mit zeitgenössischen Papyri und illustriert anhand von zwei besonders aussagekräftigen Beispielen, warum es sich bei dem 2 Thess vermutlich um ein pseudepigraphisches Schreiben handele. Erstes Beispiel: Einige Paulusbriefe enthielten gleich nach dem Eingangsgruß eine Formulierung des Dankes (Röm 1,8; 1 Kor 1,4; Phil 1,3; 1 Thess 1,3; Phlm 4), die sich – im Einklang mit Danksagungen an vergleichbarer Stelle in Papyrusbriefen – als Dank für gute Nachrichten erweise und üblicherweise das Briefkorpus einleite. Eine Formulierung des Dankes begegne auch in 2 Thess 1,3 (auch hier also gleich nach dem Eingangsgruß) und dann ein weiteres Mal in 2,13. Aber der ganze Brief enthalte keinen Hinweis darauf, dass der Verfasser zuvor von den Adressaten oder über sie gute Nachrichten erhalten hätte.


J. A. D. Weima 2006, 67-88 legt dar, dass viele Prediger eine Scheu davor hätten, apokalyptische Texte wie 2 Thess 2,1-17 zu verkündigen. Diese Scheu solle überwunden werden. In 2 Thess 2,1-17 seien zwar viele Punkte diskussionswürdig und offen für verschiedene Deutungen, jedoch sei die entscheidende Absicht des Abschnittes ziemlich klar zu erfassen: Er wolle seine Leser trösten (siehe v. a. V. 13-14). Die Christen seien von Gott erwählt. Diese Botschaft sollten Prediger ihrer Gemeinde klar und deutlich vermitteln.


Zum Geist in 2 Thess siehe V. P. Furnish 2004, 229-240. Zu 2,13: Es sei (wie in 1 Pet 1,2) der Geist Gottes gemeint, der mit dem Gedanken göttlicher Erwählung verbunden sei.


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V. 14


Beobachtungen: Der Begriff "doxa" ("Herrlichkeit") kann mit "Ehre", "Ruhm", "Glanz" oder "Herrlichkeit" übersetzt werden. Die hier gut passende Übersetzung "Herrlichkeit" enthält alle diese Aspekte. Diese sind dem "Herrn" der Christen, Jesus Christus, eigen, allerdings nicht exklusiv. So ist das Ziel der Berufung "durch unser Evangelium" die "peripoiêsis doxês", was zunächst mit "Erwerb der Herrlichkeit" zu übersetzen ist. Allerdings erfolgt mit dem Erwerb gewöhnlich der Übergang einer Sache von einem Besitzer zum nächsten. Das würde bedeuten, dass die Adressaten die Herrlichkeit ihres "Herrn" Jesus Christus in Besitz nehmen und sich dieser damit seiner Herrlichkeit entledigt. Das ist aber mit Sicherheit nicht der Fall. Vielmehr bleibt dem "Herrn" Jesus Christus seine Herrlichkeit erhalten. Insofern ist das Substantiv "peripoiêsis" statt mit "Erwerb" besser mit "Teilhabe" zu übersetzen. Ziel der Berufung "durch unser Evangelium" ist also die Teilhabe der Adressaten an der Herrlichkeit ihres "Herrn" Jesus Christus.


Weiterführende Literatur:


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V. 15


Beobachtungen: Trotz der Erwählung der Adressaten sieht sich der Verfasser (oder: die Verfasser) des 2 Thess bemüßigt, die Adressaten dazu zu ermahnen, fest - gemeint dürfte sein: fest im christlichen Glauben - zu stehen. Die Ermahnung dürfte zum einen auf Standhaftigkeit und Glaubenstreue in den Verfolgungen und den Bedrängnissen, die die Adressaten erdulden (vgl. 1,4), abzielen, zum anderen auf Standfestigkeit gegenüber verwirrenden Irrlehren wie der Behauptung, dass der Tag des "Herrn" schon da sei (vgl. 2,2). Die Standfestigkeit ist für die "Rettung" nötig, bewahrt die klare Trennlinie zwischen Nichtchristen (speziell Heiden) und Christen, also zwischen den "Verlorenen" und den "Geretteten".


Bei den "paradoseis" handelt es sich um "Überlieferungen" oder "Unterweisungen". Der genauen Wortbedeutung nach handelt es sich um Unterweisungen, die weitergegeben werden, und zwar mindestens von den unterweisenden Personen an die unterwiesenen Personen. Bei einer solchen einmaligen Weitergabe kann man von "Unterweisungen" sprechen, wobei wichtig wäre, dass sie von Paulus, Silvanus und Timotheus kommen. Geht man allerdings davon aus, dass die drei die Unterweisungen nicht als persönliche Unterweisungen auf Grundlage ihrer Theologie verstanden haben wollen, sondern als Unterweisungen, die auch sie selbst empfangen haben, dann spricht man besser von "Überlieferungen". Das, was Paulus, Silvanus und Timotheus überliefert worden ist, geben sie an die Adressaten weiter, sei es mündlich oder in ihrem Brief. Aber woher stammt die Überlieferung? Haben sie die Unterweisungen von anderen Christen überliefert bekommen? Das ist eher unwahrscheinlich, denn Paulus, Silvanus und Timotheus sind ja Christen der ersten Generation. Und was Saulus/Paulus betrifft, so ist nirgends davon die Rede, dass er christlichen Unterricht genossen hat. Ganz im Gegenteil: Saulus/Paulus erscheint als von Jesus Christus persönlich bekehrt und gesandt (vgl. Apg 9,1-22; 22,4-16; 26,9-20; Gal 1,12). Das, was er verkündigt, dürfte in diesem Bekehrungs- bzw. Sendungserlebnis begründet sein. Jesus Christus ist sein "Herr" und darüber hinaus auch der "Herr" aller Christen. Insofern gründet christliche Überlieferung letztlich in Jesus Christus. So liegt die Deutung nahe, dass die "Überlieferungen" zum einen auf Jesus Christus zurückgehen, zum anderen aber auch - richtig weitergegeben - gesamtkirchlichen Charakter haben. Nun ist das Christentum aber nicht urplötzlich aus dem Nichts entstanden, sondern hat seine Wurzeln in den atl. Überlieferungen, wobei es zur Zeit der Entstehung des 2 Thess noch kein NT und AT gab, sondern das sogenannte AT war die vornehmlich in hebräischer Sprache verfasste Bibel schlechthin. In dieser ist vermutlich auch Saulus/Paulus intensiv unterwiesen worden (vgl. Apg 22,3), denn er war ja ein beflissener Jude und als solcher setzte er sich mit großem Eifer für die Überlieferungen der Erzväter des Volkes Israel ein. Diese sind in der hebräischen Bibel (= AT) niedergeschrieben. Nun hat Saulus/Paulus nach seiner Bekehrung/Sendung nicht aufgehört, Jude zu sein, sondern er ist Jude geblieben. Saulus/Paulus ist nicht vom Judentum zum Christentum übergetreten, sondern hat mit seiner Bekehrung/Sendung Jesus als Messias (= Christus) und als seinen "Herrn" anerkannt. Er war also von nun an ein christusgläubiger Jude, der die Überlieferungen der Erzväter Israel nicht zurückgewiesen, sondern im Lichte Jesu gedeutet hat. Insofern ist möglich, dass die "Überlieferungen", von denen in 2 Thess 2,15 die Rede ist, auf dem - christlich gedeuteten - atl. Horizont zu verstehen ist. Und der 2 Thess greift ja an verschiedenen Stellen atl. Passagen auf (vgl. die Beobachtungen zu 1,8.12; 2,3.8).


Die Formulierung "eite dia logou eite di' epistolês hêmôn" ist wörtlich mit "sei es durch Wort oder durch unseren Brief" zu übersetzen. "Durch Wort" dürfte im Sinne von "mündlich" zu verstehen sein. Das Possessivpronomen "hêmôn" ("unser/unseren") steht nach "epistolês" ("Brief"), womit auf jeden Fall ein Bezug zum Brief vorliegt. Es handelt sich also um "unseren Brief", also um den des Paulus, Silvanus und Timotheus (vgl. 1,1). Aber handelt es sich auch um "unser Wort", also um mündliche Unterweisung seitens des Paulus, Silvanus und Timotheus? Das ist zwar nicht sicher, aber doch wahrscheinlich, denn von wessen mündlicher Unterweisung sollte sonst die Rede sein?


Weiterführende Literatur: Mit der apostolischen Tradition gemäß 2 Thess 2,13-3,8 befasst sich H. Blocher 2006, 91-97. Diese beinhalte das gesprochene und das geschriebene Wort (2,15) und werde von Paulus „Wort des Herrn“ genannt (3,1). An dieses sollten sich die Adressaten halten und ihr Leben streng danach ausrichten (2,15; 3,6). Paulus habe keine Hemmungen zu gebieten (3,4.6.10) und stelle sich selbst als ein nachzuahmendes Beispiel dar (3,7-10).


Mit der Traditionsvorstellung, wie sie uns im Ersten und Zweiten Thessalonicherbrief begegnet, befasst sich C. Vander Stichele 1990, 499-504. In diesen beiden Briefen werde der Begriff „paradosis“ („Überlieferung“) nur in 2 Thess 2,15 und 3,6 verwendet. Die strukturelle Übereinstimmung und die terminologischen Ähnlichkeiten zwischen beiden Briefen seien jedoch sicherlich nicht rein zufällig. Es sehe danach aus, als habe der 2 Thess den 1 Thess als Modell verwendet. Aber Ähnlichkeit sei nicht mit Identität gleichzusetzen. Im 2 Thess liege eine stärkere Betonung auf der Tradition. Diese Betonung liege auf einer Linie mit dem Ersten Korintherbrief.


2 Thess 2,15 sei laut G. Lüdemann 1996, 117-128 zweifelsfrei im Zusammenhang auf den 2 Thess zu beziehen, dessen Lehre die Christen bewahren sollten und der von einem gefälschten Brief antithetisch abgehoben werde. Dieser in 2 Thess 2,2 genannte Brief sei wohl mit dem 1 Thess identisch. Die Empfänger des 2 Thess sollten also die gültigen Überlieferungen bezüglich des Endes festhalten, die ihnen durch mündliches Wort oder durch den vorliegenden 2 Thess vermittelt worden seien.


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V. 16


Beobachtungen: Die V. 16-17 stellen eine Fürbitte dar: Es wird erbeten, dass den Adressaten ein bestimmtes Heilsgeschehen zuteil werden möge. Das Heilsgeschehen wird von Jesus Christus und Gott erbeten. Dabei handelt es sich bei Jesus Christus und Gott zwar um zwei "Personen" (der Trinität), die aber zu einer "Person" zu verschmelzen scheinen.


V. 16 bietet an zwei Stellen abweichende Lesarten. Zum einen sind sich die Textzeugen nicht einig, ob "theos" "Gott" oder "ho theos" ("der Gott") zu lesen ist, zum anderen lesen einige Textzeugen "ho patêr" ("der Vater"), andere dagegen "kai patêr" ("und Vater"). Die Uneinigkeit bezüglich des Textes spiegelt sowohl Unsicherheit bezüglich echt paulinischer Formulierung als auch Unsicherheit im Verhältnis der beiden "Personen" zueinander wider. In den gemeinhin für echt gehaltenen Paulusbriefen ist "kai patêr" gängig. Im Hinblick auf 2 Thess 2,16 ist insbesondere 1 Thess 3,11 von Interesse, denn dort findet sich die Formulierung "ho theos kai patêr hêmôn" ("unser Gott und Vater"), die auch eine Variante von 2 Thess 2,16 bietet. Es liegt nahe, dass die Variante die für Paulus untypische Formulierung "theos ho patêr hêmôn" (oder: "ho theos ho patêr hêmôn": "(der) Gott, unser Vater") an paulinischen Sprachgebrauch angepasst hat. Zur Unsicherheit des Verhältnisses der beiden "Personen" Jesus Christus und Gott zueinander: Fehlt der bestimmte Artikel "der" vor "Gott", dann werden Jesus Christus und Gott geradezu in einer "Person" verschmolzen. Und von dieser einen "Person" wird das tröstende und stärkende Handeln erwartet. Diejenigen Textzeugen, die vor "Gott" den bestimmten Artikel "der" bieten, betonen dagegen stärker, dass es sich bei Jesus Christus und Gott um zwei "Personen" handelt. Dennoch bleiben sie durch das Personalpronomen "er" und die Verbformen im Singular (statt des zu erwartenden Plurals) eng miteinander verbunden.


Bei den beiden Partizipien "agapêsas" ("der geliebt hat") und "dous" ("der gegeben hat") handelt es sich um Aoriste, mit denen Vorzeitigkeit ausgesagt wird. Doch wie ist diese Vorzeitigkeit zu verstehen? Zunächst einmal ist festzustellen, dass uns Gott geliebt und ewigen Trost und gute Hoffnung gegeben hat. Bedeutet das, dass er nun nicht mehr liebt und nun keinen ewigen Trost und keine gute Hoffnung mehr gibt? Das ist unwahrscheinlich, denn im ganzen Zusammenhang wird ja vorausgesetzt, dass den Christen Heil zukommt bzw. zukommen wird. Das Heil ist also nicht auf die Vergangenheit beschränkt. Wahrscheinlicher ist also, dass ein ganz bestimmtes Liebeshandeln und ein ganz bestimmtes Geben in der Vergangenheit im Blick ist. Zwei Geschehnisse kommen bezüglich des konkreten Liebeshandelns infrage: Zum einen der Kreuzestod Jesu Christi zur Vergebung der Sünden, der die Grundlage für Rechtfertigung und ewiges Leben darstellt, und zum anderen die Erwählung zum christlichen Glauben. Der Glaube an den Kreuzestod Christi ist die Voraussetzung dafür, dass Rechtfertigung und ewiges Leben im Hinblick auf das eigene Leben wirksam werden. Damit wird dem gläubigen Menschen Trost (im Sinne von Ermunterung und Bestärkung, besonders in Bedrängnis) und Hoffnung gegeben, nicht dem ewigen Verderben anheim zu fallen. Weil das konkrete Heilsgeschehen in der Vergangenheit stattfand, werden die Gabe von Trost und Hoffnung ebenfalls in der Vergangenheit verortet. Rechtfertigung und ewiges Leben, Trost und Hoffnung haben in einem vergangenen Heilsgeschehen ihren Anfang, reichen in ihrer Bedeutung aber über die Gegenwart hin zur Zukunft.


Wie ist zu verstehen, dass der Trost "ewig" ist? Sowohl "paraklêsin" ("Trost") als auch "aiônian" ("ewig") sind Akkusative. Das bedeutet, dass sich der Trost nicht auf die Ewigkeit bezieht, auf das ewige Leben, sondern dass der Trost selbst ewig ist. Es handelt sich also um einen Trost, der nicht nur auf die irdische Zeit der Bedrängnis bezogen ist, sondern bis zur Wiederkunft Christi reicht und darüber hinaus kein Ende hat. Die Zeit, in der die Christen bedrängt werden, ist begrenzt, der Trost dagegen ewig. Da mit der Sündenvergebung aufgrund des Kreuzestodes Jesu Christi auch das ewige Leben verbunden ist, dürfte "ewig" - das allerdings nachrangig - auch das ewige Leben einschließen.


Und wie ist die Formulierung "gute Hoffnung" zu verstehen? Ist nicht die Hoffnung grundsätzlich auf etwas Gutes gerichtet? Wer erhofft sich schon etwas Schlechtes? Höchstens einer unliebsamen Person mag man etwas Schlechtes wünschen, beispielsweise Krankheit oder Tod. Bei der Überlegung, was hier "gut" bedeuten könnte, ist zu bedenken, dass es sich um einen theologischen Begriff handeln dürfte. Das bedeutet, dass "gut" nicht einfach nur "gut" im Sinne einer ethischen Bewertung gemeint sein dürfte. "Gut" dürfte vielmehr ein Begriff sein, der Heil aussagt, d. h. die Hoffnung bezieht sich auf Heil. Und wenn man "gute Hoffnung" im Lichte des "ewigen Trostes" liest und das mit Jesus Christus verbundene Heilsgeschehen bedenkt, dann ist die "gute Hoffnung" eine Hoffnung, die auf Jesus Christus und dem Glauben an ihn gründet, auf dem Kreuzestod, auf der Sündenvergebung, Auferstehung von den Toten und auf dem ewigen Leben. Und die Hoffnung setzt eine negative oder zumindest nicht ganz so gute Zeit voraus, die die Hoffnung auf bessere Zeiten entstehen lässt. Im Falle der Adressaten ist die "gute Hoffnung" auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Bedrängnis durch Nichtchristen, speziell Heiden, zu verstehen.


Die Präposition "en" kann sowohl mit "durch/infolge" als auch mit "in" übersetzt werden. Sie sagt also aus, wodurch etwas geschieht oder worin etwas geschieht. In ersterem Fall wird mit ihr das Mittel einer Handlung oder eines Geschehens ausgesagt, in letzterem Fall ein Raum, der als Wirkraum gedacht ist. Jesus Christus bzw. Gott hat den Christen also nicht wegen ihrer guten Werke und Verdienste "gute Hoffnung" und auch "ewigen Trost" - "durch/in Gnade" steht zwar direkt hinter "gute Hoffnung", bezieht sich vermutlich aber auch auf "ewigen Trost" - gegeben, sondern aufgrund seiner Gnade. Gott hat das Heilsgeschehen bewirkt und dieses wurde durch Jesus Christus verkörpert und umgesetzt. Gott hat die Christen gnädig erwählt, so dass sie an Jesus Christus und das mit diesem verbundene Heilsgeschehen glauben (vgl. 2 Thess 2,13). Und mit dem christlichen Glauben sind die Erwählten in einen Raum eingetreten, in dem Heil gewirkt wird, und zwar aufgrund von Gnade, nicht von guten Werken und Verdiensten.


Weiterführende Literatur: Gemäß T. Stewart 2012, 229-245 sei 2,1-17 der am stärksten anti-imperialistisch gefärbte Text in den paulinischen Briefen. Er sei jedoch nicht auf eine politische Revolte aus, sondern nur insoweit anti-imperialistisch, als die kaiserliche Herrschaft als Werkzeug des Satans angesehen werde, das gegen die Christen gerichtet ist. Den bedrängten und verwirrten Gläubigen werde pastoral Trost gespendet, indem der Sieg Gottes über das Böse beschrieben wird.


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V. 17


Beobachtungen: In V. 17 wird nicht gesagt, wer gefestigt bzw. gestärkt werden soll. Sollen die Herzen der Adressaten gefestigt bzw. gestärkt werden oder sollen die Adressaten gefestigt bzw. gestärkt werden? Beide Bezüge sind gleichermaßen möglich, wie der Erste Thessalonicherbrief zeigt: In 1 Thess 3,2 liegt ersterer Bezug vor, in 3,13 letzterer. Es macht keinen großen Unterschied, ob die Adressaten gefestigt bzw. gestärkt werden oder die Herzen der Adressaten. Der einzige Unterschied dürfte darin liegen, dass das "Herz" die Innerlichkeit des Menschen betont.


Einige Textzeugen drehen die Reihenfolge "Werk" und "Wort" um. Die sich damit ergebende Reihenfolge "Wort" und "Werk" ist die übliche, wie sie sich in den paulinischen und deuteropaulinischen Briefen auch in Röm 15,18 und Kol 3,17 findet, darüber hinaus in der Apostelgeschichte in 3,22. In Lk 24,19 dagegen findet sich die Reihenfolge "Werk" und "Wort", aber auch hier kehrt eine Textvariante die Reihenfolge um. Unklar ist, ob die Reihenfolge auch etwas zur Wichtigkeit aussagt, wonach zuerst genannt wird, was wichtiger ist.


Wie ist zu verstehen, dass die Adressaten in jedem guten Werk und Wort gestärkt werden? Vermutlich vermag 1 Thess 3,13 bei der Deutung zu helfen: Die Stärkung des Herzens ist eng mit der Tadellosigkeit des Menschen verbunden. Sie soll sicherstellen, dass die Herzen (auch) in dem Augenblick untadelig sind, wenn es entscheidend wird: bei der Wiederkunft Jesu Christi.

"Gute Werke" und "gute Worte" können in einem allgemein ethischen Sinn verstanden werden, wonach es beispielsweise gut ist, einem beliebigen Menschen, sei er Heide, Jude oder Christ, in einer Notlage zu helfen. Allerdings ist auch an eine spezifisch christliche Bedeutung zu denken, wonach gute Werke in Jesus Christus und dem Glauben an ihn gründen. Eine spezifisch christliche Bedeutung dürfte ja auch bei der "guten Hoffnung" in 2 Thess 2,16 vorliegen. Möglich und durchaus auch wahrscheinlich ist darüber hinaus auch, dass zuvörderst an Werke und Worte in der christlichen Gemeinschaft gedacht ist. Die guten Werke und guten Worte erfolgen demnach in der christlichen Gemeinschaft und dienen dem Gemeindeaufbau. Dabei sind die "guten Werke" und "guten Worte" in einem engen Zusammenhang mit der "guten Hoffnung" zu sehen.


Weiterführende Literatur:



Literaturübersicht


Arzt-Grabner, Peter; Neues zu Paulus aus den Papyri des römischen Alltags, EChr 1 (2010), 131-157

Blocher, Henri; L'Écriture d'après l'Écriture: la tradition apostolique (2 Thessaloniciens 2.13- 3.8), in: H. Blocher [éd.], La Bible au microscope. Exégèse et théologie biblique. Vol. I, Vaux-sur-Seine 2006, 91-97

Furnish, Viktor Paul; The Spirit in 2 Thessalonians, in G. N. Stanton et al. [eds.], The Holy Spirit and Christian Origins, Grand Rapids, Michigan 2004, 229-240

Lubahn, Erich; Hermeneutischer Ansatz für die Eschatologie, mit beispielhafter Anwendung auf 2 Thessalonicher 2, in: G. Maier [Hrsg.], Zukunftserwartung in biblischer Sicht, Wuppertal 1984, 114-123

Lüdemann, Gerd; Ketzer: die andere Seite des frühen Christentums, Studienausgabe, Stuttgart 1996

Merk, Otto; Überlegungen zu 2 Thess 2,13-17, in: C. Mayer u. a. [Hrsg.], Nach den Anfängen fragen, FS G. Dautzenberg, Gießen 1994, 405-414

Stewart, Tyler; The Imperial Implications of Paul's Pastoral Apocalypse, SCJ 15/2 (2012), 229-245

Sumney, Jerry L.; The Bearing of a Pauline Rhetorical Pattern on the Integrity of 2 Thessalonians, ZNW 81/3-4 (1990), 192-204

Vander Stichele, Caroline; The Concept of Tradition and 1 and 2 Thessalonians, in: R. F. Collins [ed.], The Thessalonian Correspondence (BETL 87), Leuven 1990, 499-504

Weima, Jeffrey A. D.; The Slaying of Satan's Superman and the Sure Salvation of the Saints: Paul's Apocalyptic Word of Comfort: (2 Thessalonians 2:1-17), CTJ 41/1 (2006), 67- 88

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