1 Tim 4,12-16
Übersetzung
1 Tim 4,12-16 : 12 Niemand soll dich wegen deiner Jugend geringschätzig behandeln. Werde du vielmehr Vorbild der Gläubigen durch Wort, Lebenswandel, Liebe, Glaube (und) Reinheit. 13 Bis ich komme, widme dich der Schriftlesung, der Ermahnung und der Lehre. 14 Vernachlässige nicht die Gnadengabe in dir, die dir gegeben worden ist mit Weissagung unter Handauflegung des Ältestenrates. 15 Dafür trage Sorge, davon lass dein Leben bestimmt sein, damit für alle dein Fortschreiten offensichtlich ist. 16 Hab acht auf dich selbst und auf die Lehre, bleib bei alledem! Denn wenn du das tust, wirst du sowohl dich selbst retten als auch die, die auf dich hören.
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Beobachtungen: Auf die Auseinandersetzung mit den asketischen Forderungen der Irrlehrer (4,1-11) folgen persönliche Anweisungen für die Gemeindeleitung (4,12-6,2). Diese sind auf dem Hintergrund der Wandlungen der Gemeindeverfassung zu verstehen. „Timotheus“ steht vermutlich exemplarisch für „Bischof“, womit es sich um Anweisungen an alle Bischöfe handelt. Die Anweisungen waren aufgrund der zunehmenden Bedeutung, Aufgaben und Befugnisse der Bischöfe, die ursprünglich in den Gemeinden „Aufseher“ waren, erforderlich. Die persönlichen Anweisungen beginnen mit einem Abschnitt (4,12-16), in dem „Timotheus“ dazu angehalten wird, eine Vorbildfunktion zu übernehmen. Die Vorbildfunktion betrifft Aspekte der Persönlichkeit ebenso wie auch Aspekte der Amtsausübung. Angesichts der Irrlehren kommt dabei der rechten Lehre eine besondere Bedeutung zu. Die Anweisungen des „Paulus“ zielen auf die „Rettung“ des „Timotheus“ wie auch seiner Hörer.
Das Substantiv „neotês“ kann „Jugend“, „jugendlicher Leichtsinn“ oder „(jugendliche) Unreife“ bedeuten. Die Übersetzung „Niemand soll dich wegen deiner Jugend geringschätzig behandeln“ geht davon aus, dass „Paulus“ das geringe Alter des „Timotheus“ für keinen Hindernisgrund hinsichtlich der Ausübung eines Amtes hält. Aber „Timotheus“ soll zum Vorbild werden, also nicht unreif sein, leben und handeln, sondern reif. Einem jungen Menschen trauen das manche Menschen anscheinend nicht zu. Aber „Timotheus“ soll diejenigen, die ihm ein kirchliches Amt nicht zutrauen und ihn darin auch nicht achten, eines Besseren belehren. Die zweite denkbare Übersetzung ist „Niemand soll dich wegen deiner Unreife geringschätzig behandeln [können]“. Bei dieser Übersetzung würde „Paulus“ den „Timotheus“ ermahnen, kein unreifes Verhalten an den Tag zu legen, sondern – im Gegenteil – reif und als Vorbild zu agieren. Bei dieser Deutung hätte auch „Paulus“ ein schlechtes Bild von der „Jugend“, weil auch er sie als einen unreifen Entwicklungsstand ansieht. Für eine solche Deutung und Übersetzung scheint aber zu stark die „Jugend/Unreife“ vorausgesetzt zu werden. Es ist eher so, dass „Timotheus“ jungen Alters ist, als dass er sich unreif verhalten könnte. Zudem ist auch in 1 Kor 16,10-11 davon die Rede, dass Timotheus nicht verachtet werden soll. In keinster Weise kommt dort jedoch in den Blick, dass Timotheus unreif ist oder sich unreif verhalten könnte. Vielmehr schreibt Paulus: „… denn er treibt das Werk des Herrn wie auch ich“. 1 Kor 16,10-11 geht davon aus, dass Timotheus in Korinth mit innergemeindlichen Konflikten konfrontiert wird und ihm von manchen Gemeindegliedern Verachtung entgegengebracht werden könnte. Dass Timotheus jung ist, wird nicht gesagt. Aber Timotheus ist „nur“ Mitarbeiter des Paulus. Insofern kann man in den Text hineinlesen, dass Timotheus jünger als Paulus ist und ihm auch deswegen nicht gleicher Respekt wie dem Apostel Paulus entgegengebracht werden könnte.
Die Worte des 1 Tim mögen auf einem ganz konkreten kirchengeschichtlichen Hintergrund zu verstehen sein, nämlich auf der Ablösung der Presbyter(ial)verfassung durch die Bischofsverfassung. Die Jerusalemer Urgemeinde wurde nach dem Vorbild der jüdischen Synagogen von „Ältesten“ („presbyteroi“) geleitet. Die Presbyter(ial)verfassung wurde in Rom und Kleinasien übernommen. Das Lebensalter und die Lebenserfahrung dürften also ein großes Gewicht gehabt haben. Der Begriff „episkopos“ bezeichnete in Rom und auch in den paulinischen Gemeinden zunächst keinen Bischof im eigentlichen Sinne, sondern einen „Gemeindeleiter“. Dieser „Gemeindeleiter“ wirkte zunächst in einem Kollegium weiterer kirchlicher Amtsinhaber. Das Bischofsamt im eigentlichen Sinne bildete sich erst ab der zweiten Hälfte des 2. Jh. heraus, als die frühen Hausgemeinden zu Ortsgemeinden wurden. Zentralisierung und Institutionalisierung gingen miteinander einher. Wesentliche Antriebsfedern dieser Entwicklung waren die zunehmenden Aufgaben innerhalb der wachsenden Gemeinden, die der verbesserten Koordination bedurften, und das Bedürfnis, die äußeren Kontakte der Gemeinden zu anderen Gemeinden und zu Nichtchristen in eine einzige Hand zu legen. Bei der Fortentwicklung der Presbyter(ial)verfassung zum Monepiskopat, also der Gemeindeleitung durch einen einzigen Bischof, scheint das Alter samt der Lebenserfahrung als Kriterium in den Hintergrund getreten zu sein. Verfechter der Presbyter(ial)verfassung konnten somit kritisieren, wenn ein Bischof jüngeren Alters war und noch nicht die Erfahrung der ältesten Gemeindeglieder aufweisen konnte.
Der altgriechische Begriff „logos“ („Wort“) meint hier kein einzelnes Wort und wohl auch keine einzelne Aussage, sondern das Evangelium. Das Evangelium wird gepredigt und gelehrt und ist auch Maßstab für das christliche Leben. Insofern ist es im Hinblick auf die Amtsführung von höchster Bedeutung.
Es bleibt offen, wem die Liebe gilt. Vermutlich ist an verschiedene Facetten der Liebe gedacht: Liebe Gottes, Liebe Christi, Nächstenliebe und Selbstliebe. Gemäß 1,5 ist die Liebe das Ziel der Unterweisung. Insofern ist die Liebe eng mit dem „Wort“, dem Evangelium, verbunden, das ja der Unterweisung zugrunde liegen soll.
Eine Textvariante fügt nach „Liebe“ „Geist“ ein. Dabei bleibt offen, ob an Gottes Geist oder an den Geist des „Timotheus“ gedacht ist. Der Einfügung liegt wahrscheinlich der Gedanke zugrunde, dass der Geist Gottes eine maßgebliche Wirkkraft ist. Demnach soll sich „Timotheus“ vom Geist Gottes erfüllen und leiten lassen. Eine Unterscheidung zwischen dem Geist Gottes und dem menschlichen Geist des „Timotheus“ ist nicht erforderlich, weil „Timotheus“ nicht unabhängig vom Geist Gottes agieren und nicht seinen eigenen Kopf durchsetzen soll.
Der altgriechische Begriff „hagneia“ taucht im NT nur in 4,12 und 5,2 auf. Er ist ein Beispiel dafür, dass sich im 1 Tim ein in hohem Maße anderes Vokabular als in den gemeinhin für echt gehaltenen paulinischen Briefen findet. Das weist darauf hin, dass der Autor des 1 Tim, „Paulus“, vermutlich nicht mit dem Apostel Paulus identisch ist. Der Apostel Paulus dürfte bei der Entstehung des 1 Tim bereits verstorben sein. In der Septuaginta (LXX) bezeichnet „hagneia“ in erster Linie die kultische Reinheit (vgl. Num 6,2.21LXX; 2 Chr 30,19LXX; 1 Makk 14,36). Auch 1 Tim 4,12 mag zunächst der Gedanke der kultischen Reinheit zugrunde liegen: Wer Gott bzw. Jesus Christus und der Gemeinde Gottes bzw. Christi dient, muss rein sein, weil Gott rein ist. Reinheit ist somit auch Charakteristikum eines gottgefälligen Lebens in der Nachfolge Christi. Die ganze Gesinnung soll rein sein. Und daraus resultiert auch moralische Reinheit. Dazu gehört z. B. auch, dass Bischöfe und Diakone nicht geldgierig bzw. gewinnsüchtig sein sollen (vgl. 1 Tim 3,3.8). Die Reinheit mag auch sexuell zu verstehen sein, allerdings sicherlich nicht im Sinne gänzlicher sexueller Enthaltsamkeit. Sowohl der Bischof als auch der Diakon dürfen nämlich eine (einzige) Frau haben (vgl. 1 Tim 3,2.12). Die Ehe diente in der Antike speziell der Zeugung legitimer Nachkommen. Zudem heißt es in 1 Tim 2,15, dass die Frau durch Kindergebären gerettet wird. Das Zeugen und Gebären von Kindern ist also keineswegs unrein, sofern es im Rahmen der Ehe geschieht.
Der altgriechische Begriff „pistos“ kann sowohl mit „Glaube“ als auch mit „Vertrauen“ übersetzt werden. Glaube und Vertrauen hängen eng zusammen. Der Glaube ist letztendlich das Vertrauen, dass das Evangelium wahr ist. Aus diesem Vertrauen resultiert die gläubige Annahme.
Weiterführende Literatur: Y. Redalié 2008, 87-108 legt dar, dass der 1 Tim zwar an Timotheus, den jungen Mitarbeiter des Paulus, adressiert sei (1,1), sich tatsächlich aber insbesondere an die Gemeinde in Ephesus richte, einschließlich derer, die Probleme verursachen. Darüber hinaus ermahne er auch alle anderen mit „Timotheus“ Mitgemeinten: reformierte Pastoren, Reformatoren und Mitstreiter, die dazu aufgefordert würden, dem „Patron“, dem von Paulus gegebenen Beispiel zu folgen.
B. Campbell 1997, 189-204 wendet sich gegen die Vorstellung, dass 1 Tim 4 eine Sammlung von Anweisungen ohne durchdachte Anordnung sei. Es sei durchaus ein rhetorischer Plan nach antikem Muster zu erkennen. Der Fokus liege auf Timotheus’ Charakter und Aktivität angesichts der falschen Lehre. Paulus setze auf Timotheus als guten Diener Jesu Christi. V. 1-5 stelle die „narratio“ dar, V. 6-10 die „expolitio“, V. 11-16 den „epilogus“.
H. Dionson 2015, 7-21 macht deutlich, dass 1 Tim in einer ernsten Lage geschrieben sei. In dieser ernsten Situation weiche der 1 Tim vom üblichen antiken brieflichen Schreibstil ab und verwende einen sehr intensiven Schreibstil. In der ernsten Lage benötige Timotheus nicht nur Anweisungen, wie er die Gemeinde durch die Schwierigkeiten steuern kann, sondern auch Trost und Ermutigung. Paulus setze auf Timotheus und beauftrage ihn mit einer enormen Aufgabe.
M. Villalobos Mendoza 2014, 45-80 legt dar, dass Timotheus zwar verschiedentlich als ein Macho dargestellt werde, sich aber in Wirklichkeit auf der anderen Seite befunden habe. Er sei nicht redegewandt gewesen, dazu jung und oftmals krank und habe weibisch Tränen vergossen. Er sei zwar zur Gemeindeleitung und zur Lehre ausersehen gewesen, jedoch wüssten wir nicht, ob er wirklich gelehrt, ermahnt und zurechtgewiesen hat. Es scheine so, dass es ihm nicht gelungen ist, ein „wahrer Mann“ („verus vir“) zu werden. Stets erschienen in den Pastoralbriefen die Stimmen der Anderen stärker als die Stimme des Timotheus. Er müsse kämpfen, um seiner Stimme Gehör zu verschaffen und als „wahrer Mann“ anerkannt zu werden, indem er sich als tugendhaft erweist.
Zur Bedeutung der Aussagen des 1 Tim (insbesondere 4,11-16) für die heutige Gemeindeleitung siehe Y. Redalié 1995, 2-21.
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Beobachtungen: Laut 1 Tim 1,3 ist „Paulus“ von Ephesus nach Makedonien gereist, wogegen „Timotheus“ in Ephesus blieb. In 3,14-15 hat „Paulus“ seine Hoffnung ausgedrückt, bald zu „Timotheus“ zu kommen, aber auch deutlich gemacht, dass sich sein Kommen verzögern könne. Diese zeitlich unbestimmte Abwesenheit erklärt die Aussage „bis ich komme“.
Das Substantiv „anagnôsis“ dürfte hier „Lesung“ oder „Verlesung/Vorlesung“ bedeuten. Es bleibt offen, ob „Timotheus“ für sich lesen soll, oder ob er vorlesen soll. Außerdem bleibt offen, was er lesen bzw. vorlesen soll. Angesichts der Tatsache, dass er sich auch der „Ermahnung“ und der „Lehre“ widmen soll – beides erfolgt nicht im stillen Kämmerlein, sondern ist nach außen, auf die Gemeinde, gerichtet -, dürfte das Vorlesen gemeint sein. Vermutlich soll er der Gemeinde vorlesen. Zuvörderst dürfte das Vorlesen im Gottesdienst erfolgen, wenn die Gemeindeglieder versammelt sind. Das würde den Lesungen aus der hebräischen Bibel (= AT) in den Synagogen entsprechen. Allerdings wird in V. 13 nicht gesagt, was gelesen bzw. vorgelesen werden soll. Insofern müssen wir das erschließen, wobei die beiden anderen ntl. Vorkommen des Begriffs „anagnôsis“ (2 Kor 3,14; Apg 13,15) für das Vorlesen im (christlichen und vielleicht auch jüdischen) Gottesdienst sprechen. Bei den Texten, die vorgelesen werden sollen, dürfte es sich folglich um geistliche Texte handeln, speziell um die „Schriften“. Zu diesen gehörte zur Zeit der Abfassung des 1 Tim sicherlich die hebräische Bibel (= AT) bzw. deren griechische Übersetzung, die Septuaginta (LXX). Darüber hinaus mögen aber auch Schriften im Blick sein, die wir heute dem NT zurechnen. Weil aber zur Zeit der Abfassung des 1 Tim die griechische Bibel (= NT) erst im Entstehen begriffen war und noch nicht fertig vorlag, bleibt offen, welche Schriften für die Verlesung zur Verfügung standen. Sicher können wir nur bezüglich des 1 Tim sein, dass er für die Verlesung zur Verfügung stand. Darüber hinaus haben wir an erster Stelle aber auch an die Paulusbriefe zu denken, die zeitlich früher als der 1 Tim anzusetzen sind. Für deren Verlesung spricht die Wertschätzung, die Paulus in der frühen Kirche zukam. Wie auch immer: Ebenso wie die Ermahnung und Lehre dürfte das Vorlesen den Zweck verfolgen, die Gemeindeglieder angesichts der Irrlehren und Abwesenheit des „Paulus“ auf rechtem Kurs zu halten.
Es bleibt offen, in welchem Rahmen die „Ermahnung“ und „Lehre“ erfolgen sollen. Wahrscheinlich ist die Offenheit beabsichtigt, weil keine örtliche Einschränkung im Blick ist. An erster Stelle ist an den Gottesdienst zu denken, speziell die Predigt, es kommt aber auch jede andere Gelegenheit infrage. Auch der Alltag kann gemeint sein, weil sich das christliche Leben nicht nur im Gottesdienst zeigt, sondern im gesamten Lebenswandel.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Es bleibt offen, welche Gnadengabe (charisma) gemeint ist und von wem sie gegeben ist. Man könnte an eine bestimmte Begabung, Fähigkeit denken, aber zu einer solchen passt die Lokalisierung „in dir“ nicht. In „Timotheus“ könnte der heilige Geist bzw. Geist Gottes/Christi sein. Dann wäre die Vorstellung, dass der heilige Geist bzw. Geist Gottes/Christi in Timotheus eingegossen oder eingezogen ist. Damit könnte Timotheus als lebendiger Tempel gedacht sein, in dem der heilige Geist bzw. Geist Gottes/Christi wohnt. Aber kann der heilige Geist bzw. Geist Gottes/Christi vernachlässigt werden? Wenn der heilige Geist bzw. Geist Gottes/Christi eine Wirkkraft ist, dann müsste sie wirken, ohne dass Timotheus sie antreiben muss. Angesichts dieser Ungereimtheit könnte man mit Blick auf die Handauflegung des Ältestenrates zu dem Schluss kommen, dass der Amtsauftrag die Gnadengabe ist, denn mit der Handauflegung dürfte eine Beauftragung verbunden sein. Allerdings ist ein Amtsauftrag genauso wenig in einem Menschen, wie es eine Begabung bzw. Fähigkeit ist. Ein Amtsauftrag ist nicht lokalisiert, sondern wird ausgeübt. Als Ergebnis bleibt also, dass keine der genannten Möglichkeit so recht überzeugt. Allerdings bleibt auch als Ergebnis, dass keine der genannten Möglichkeiten ganz auszuschließen ist. Das führt uns zu der Möglichkeit, dass alle genannten Möglichkeiten zugleich gemeint sind und sich gegenseitig ergänzen. Gehen wir davon aus, dass mit der Handauflegung des Ältestenrates tatsächlich ein Amtsauftrag, und zwar die Beauftragung mit dem Bischofsamt, verbunden ist, dann muss dieser ausgeübt werden. Nun könnte „Timotheus“ das Bischofsamt irgendwie, ohne jede Befähigung ausüben. Das wäre wahrscheinlich zum Schaden der Kirche und würde nicht nur seine Person, sondern das ganze Amt diskreditieren. Also benötigt „Timotheus“ für die Ausübung des Bischofsamtes Begabungen bzw. Fähigkeiten. Die Voraussetzungen werden in 3,1-7 beschrieben. Nun könnte sich „Timotheus“ anstrengen, alle die Voraussetzungen zu erfüllen und dann sein Amt gut auszuüben. Das wäre dann eine Leistung. Das NT ist aber von dem Gedanken durchzogen, dass nicht die Christen selbst Werke vollbringen, sondern dass es des Beistandes des heiligen Geistes bzw. des Geistes Gottes/Christi oder Gottes oder Jesu Christi bedarf. Diese sind die eigentlichen Wirkkräfte. Der (heilige) Geist kommt von Gott her, weshalb er am ehesten als Gabe gedacht sein dürfte. Und der heilige Geist bzw. Geist Gottes/Christi kann auch in „Timotheus“ sein. Er dürfte bewirken, dass „Timotheus“ die Voraussetzungen zum Bischofsamt erfüllen und sein Amt gut ausüben kann. „Timotheus“ soll sicherlich für das Wirken des heiligen Geistes offen sein. „Nicht vernachlässigen“ ist bezüglich des heiligen Geistes sicherlich kein passender Ausdruck. Er passt besser zu den Begabungen bzw. Fähigkeiten, die für die rechte Ausübung des Bischofsamtes nötig sind. Diese Begabungen bzw. Fähigkeiten soll „Timotheus“ nutzen, also nicht vernachlässigen. Sie sind geschenkt, sei es vom heiligen Geist bzw. Geist Gottes/Christi oder von Gott oder von Christus. Sie können in ihrer Gesamtheit ebenso als „Gnadengabe“ verstanden sein wie der Amtsauftrag oder das Bischofsamt selbst. Abschließend lässt sich festhalten: Die Formulierung „Gnadengabe in dir“ ist unklar und mehrdeutig. Aber gerade die Unklarheit und Mehrdeutigkeit ermöglicht es, mit einer einzigen Formulierung mehrere Aussagen zu machen, die zusammengenommen ein Ganzes ergeben.
Der altgriechische Begriff „presbyterion“ („Ältestenrat“) bezeichnet in Lk 22,66 und Apg 22,5 ein jüdisches Leitungsgremium, möglicherweise den Hohen Rat (Synedrion/Synhedrium; gewöhnlich als „synedrion“ bezeichnet). In 1 Tim 4,14 dagegen ist ein christliches Leitungsgremium gemeint, wobei noch in heutigen Gemeinden der Begriff „Presbyterium“ geläufig ist. Wie schon der Name „Ältestenrat“ sagt, dürfte im frühen Christentum das fortgeschrittene Alter der Mitglieder dieses Leitungsgremiums von Bedeutung gewesen sein. Das hohe Alter war demnach mit Erfahrung und Befähigung zur Leitung verbunden. Wenn ein Bischof vergleichsweise jung war, konnte das zu Argwohn angesichts des jungen Alters führen und die Befähigung zur Leitung infrage gestellt werden. Das mag der Hintergrund von V. 12 sein.
Der Amtsauftrag (und vielleicht auch die Gabe des heiligen Geistes bzw. Geistes Gottes/Christi und eine geistliche Stärkung) ist unter Handauflegung des Ältestenrates erfolgt. Dabei bleibt offen, wie die Handauflegung genau erfolgt ist, ob es ein leichtes Auflegen der Hände war oder ein Aufstemmen der Hände. Und wir wissen auch nicht, auf welchem Körperteil des „Timotheus“ die Handauflegung erfolgt ist. Wenn „Timotheus“ gestanden oder gekniet hat, dürfte die Handauflegung am ehesten auf dem Kopf oder auf den Schultern erfolgt sein. Es wird nur gesagt, dass der Ältestenrat, also das gesamte Leitungsgremium, die Hände aufgelegt hat. Aber wie haben wir uns das zu denken? Haben sich die Ältesten in einem Kreis oder Halbkreis direkt um „Timotheus“ versammelt und ihm gemeinsam die Hände aufgelegt? Oder soll die Formulierung „unter Handauflegung des Ältestenrates“ besagen, dass das gesamte Gremium gemeinsam gehandelt und somit die Amtsübertragung befürwortet hat? In letzterem Fall wäre die genaue Art und Weise der Handauflegung nebensächlich. Das Schwergewicht der Aussage wäre auf die Einmütigkeit des Handelns des gesamten Ältestenrates gelegt. Die Betonung der Einmütigkeit des Handelns könnte erkennen lassen, dass der Übergang von der Presbyter(ial)verfassung zur Bischofsverfassung bei manchen Gläubigen (und vielleicht sogar bei manchen Ältesten) auf Kritik gestoßen ist.
Verwunderung über das Auflegen der Hände seitens des gesamten Gremiums mag Grund für die Variante sein, die „presbyterou“ („des Ältesten“) statt „presbyteriou“ („des Ältestenrates“) bietet. Gemäß dieser Variante hat nicht der gesamte Ältestenrat die Hände aufgelegt, sondern nur „der Älteste“, also ein Ältester. Das mag eine Korrektur aufgrund der Verwunderung sein, aber auch ein Schreib- oder Hörfehler ist möglich. Ein Schreib- oder Hörfehler mag durch eine bestimmte Erwartung begünstigt worden sein, nämlich durch die Erwartung, dass nur ein Ältester die Hände aufgelegt hat.
Die Präposition „meta“ mit einem Genitiv gibt ein zeitgleiches Geschehen („unter“, „mit“) an. Das Auflegen der Hände seitens des Ältestenrates ist also zeitgleich mit den „Weissagungen“ bzw. der „Weissagung“ und/oder der Übermittlung der Gnadengabe erfolgt. Möglich, allerdings unwahrscheinlicher ist auch eine instrumentale oder kausale Bedeutung, womit die Übermittlung der Gnadengabe und/oder die „Weissagungen“ bzw. die „Weissagung“ durch das Auflegen der Hände oder wegen des Auflegens der Hände erfolgt wäre.
Von „Weissagungen“ war schon in 1,18 die Rede gewesen. Dort bleibt offen, wer sie geäußert hat und wann sie über „Timotheus“ ergangen sind. Es liegt nahe, die „Weissagungen“ dieses Verses auf ein Geschehen während der Beauftragung oder der Amtseinsetzung zu beziehen. Somit liegt ein Bezug auf 4,14 nahe. In 4,14 ist unklar, ob von einer „Weissagung“ oder von mehreren „Weissagungen“ die Rede ist. Das liegt daran, dass „prophêteias“ ein Akkusativ Plural oder ein Genitiv Singular sein kann. Voraus geht die Präposition „dia“. Folgt auf „dia“ ein Akkusativ, dann ist die Bedeutung temporal („während“) oder kausal („wegen“, „durch“). Die Gnadengabe wäre also während der „Weissagungen“ gegeben worden oder wegen der bzw. durch die „Weissagungen“. Folgt auf „dia“ ein Genitiv, dann ist die Bedeutung temporal („während“ oder „nach“) oder instrumental („durch“, „mittels“). Die Gnadengabe wäre also während der „Weissagung“ gegeben worden oder nach der „Weissagung“ oder wegen bzw. mittels der „Weissagung“. Je nach Präposition und Bedeutung stellt sich uns das geschehen verschieden dar. Wenn wir es hier mit einer kausalen Bedeutung zu tun haben, dann sind zuerst die „Weissagungen“ erfolgt und aufgrund der „Weissagungen“ hat der Ältestenrat die Hände aufgelegt und ist die Gnadengabe erfolgt. Haben wir es dagegen mit einer temporalen Bedeutung zu tun, dann begleiteten die „Weissagungen“ bzw. die „Weissagung“ das Auflegen der Hände seitens des Ältestenrates. Mit diesem Geschehen ist dann auch die Gnadengabe erfolgt. Bei der Bedeutung „nach“, die allerdings eher unwahrscheinlich ist, ist die Gnadengabe auf jeden Fall erst nach der „Weissagung“ und vielleicht auch nach dem Auflegen der Hände übermittelt worden Und bei einer instrumentalen Bedeutung schließlich ist die Gnadengabe zeitlich unmittelbar mit der „Weissagung“ verbunden. Auch das Auflegen der Hände ist zeitgleich zu denken. Kurz: Aufgrund der vielen Unklarheiten lässt sich ein genauer Ablauf der Ereignisse kaum rekonstruieren. Der genaue Ablauf der Ereignisse ist „Paulus“ aber anscheinend auch nicht wichtig. Wichtig ist der Zusammenhang der Ereignisse.
Es bleibt offen, durch wen die „Weissagungen“ bzw. „Weissagung“ erfolgt sind. Sie können vor der Auflegung der Hände erfolgt sein oder auch während der Auflegung der Hände. In ersterem Fall könnten Älteste oder gewöhnliche Gemeindeglieder geweissagt haben, vielleicht im Rahmen eines Gottesdienstes. In letzterem Fall wäre an Älteste (oder einen Ältesten) zu denken, die während der Handauflegung geweissagt haben. Der Inhalt der „Weissagungen“ bzw. „Weissagung“ bleibt ebenfalls offen. Es ist anzunehmen, dass sie sich auf das Amt des „Timotheus“ beziehen bzw. bezieht. Es kann sich um „Weissagungen“ bzw. eine „Weissagung“ im Sinne einer Vorhersage handeln. „Weissagung“ kann aber auch als Rede Gottes verstanden werden, die durch den Mund der Ältesten geäußert wurde. Propheten sind ja schließlich mehr als reine Wahrsager: Sie sind Sprachrohre Gottes. Und schließlich kann „Weissagung“ auch im Sinne der Bestärkung verstanden sein. Die „Weissagungen“ bzw. die „Weissagung“ können bzw. kann im Hinblick auf die Berufung des „Timotheus“, auf die Ordination, auf die Ausübung des Bischofsamtes oder auf die Entwicklung des Bischofsamtes erfolgt sein. Als Bestärkung verstanden, können sie bzw. kann sie die Ältesten darin bestärkt haben, „Timotheus“ mit dem Bischofsamt zu beauftragen bzw. ihn darin einzusetzen. Es kann aber auch eine Bestärkung des „Timotheus“ gewesen sein, das Amt anzunehmen. Wie auch immer: Die „Weissagungen“ bzw. „Weissagung“ sind bzw. ist auf dem Hintergrund der Irrlehren und Wandlungen in der Gemeindeverfassung zu verstehen, die besondere Herausforderungen mit sich brachten. So ging es gleichermaßen um Voraussicht, um die Erfüllung des göttlichen Willens und um Stärkung (der Ältesten, des „Timotheus“ wie auch der Gemeinden).
Weiterführende Literatur: E. Dassmann 1994, 38-40 werde in 1 Tim 4,14 wirkliche Amtsübertragung in einem konkreten kirchlichen Akt beschrieben. Die Handauflegung verleihe Gnadengabe Gottes, heiliges Pneuma, das immer neu belebt werden könne, wenn die Amtsausübung es erfordere. Das Charisma des Geistes zum bevollmächtigten Dienst in der Gemeinde werde nicht ohne Prüfung des Kandidaten, nicht ohne natürliche Voraussetzungen (Begabungen), letztlich aber doch unabhängig von persönlichen Qualitäten durch Handauflegung übertragen. Das sei echte Ordination, Übertragung des Geistes durch ein äußeres Zeichen; es sei sakramentales Tun.
Das Interesse von O. Hofius 2010, 261-284 gilt der Frage nach Gestalt und Bedeutung der in den Pastoralbriefen bezeugten Ordination. Diese Frage lasse sich ohne Rekurs auf den rabbinischen Ordinationsritus beantworten. O. Hofius befasst sich mit der Terminologie, dem ordinationsgebundenen Amt, dem Ordinator, der Voraussetzung für den Empfang der Ordination, der Handauflegung und der Verleihung des Amtscharismas, der Übergabe der apostolischen Lehrtradition und dem Bekenntnis der Ordinanden, der apostolischen Sukzession und abschließend mit dem soteriologischen Aspekt. In 1 Tim 4,14 sei vermutlich von einer Berufung zum Amt die Rede, die der Ordination zeitlich vorausgegangen und die – analog zu dem in Apg 13,1-3 berichteten Geschehen – in einer gottesdienstlichen Versammlung durch den Mund prophetisch begabter Gemeindeglieder erfolgt sei. Für dieses Verständnis spreche der Tatbestand, dass das Wort „prophêteia“ („Prophezeiungen“) in den Pastoralbriefen nur in 1 Tim 1,18 und in 4,14 im Plural vorkommt. Der Vollzug der Amtseinsetzung durch Handauflegung mitsamt der dafür verwendeten Terminologie sei letztlich dem atl. Bericht von der Amtseinsetzung des Josua durch Mose (Num 27,12-23) verpflichtet. In dessen hebräischem Text finde sich die Formulierung „die Hände aufstemmen“, und dementsprechend werde die Ordination der jüdischen Gelehrten als „Handaufstemmung“ bezeichnet. Von daher dürfe vermutet werden, dass unter der „Handauflegung“, von der die Pastoralbriefe sprechen, nicht eine nur leichte Berührung mit der Hand, sondern das kräftige Aufstützen beider Hände zu verstehen ist.
Das Interesse von O. Hofius 2008, 173-186 konzentriert sich auf das Problem, vor das die Exegese durch das Nebeneinander der beiden Sätze 1 Tim 4,14 und 2 Tim 1,6 gestellt werde. Den Worten von 2 Tim 1,6 zufolge habe Timotheus die Handauflegung durch Paulus empfangen; dass es dabei neben Paulus und zusammen mit ihm noch weitere Ordinatoren gegeben habe, werde an dieser Stelle weder gesagt noch auch nur indirekt angedeutet. Wenn man – wie die meisten Exegeten – davon ausgehe, dass in 1 Tim 4,14 das „presbyterion“ den „Ältestenrat“ meint, dann wäre gemäß dieser Darstellung gesagt, dass Timotheus von einem Kollegium von Ältesten ordiniert wurde. Dass dabei gleichwohl die Mitwirkung des Paulus stillschweigend vorausgesetzt wäre, ließe sich dem Text nicht entnehmen. O. Hofius löst den (scheinbaren) Widerspruch wie folgt auf: „Presbyterion“ könne in 1 Tim 4,14 die Bedeutung „Ältestenwürde“ haben. Dann finde sich in dem Vers die Weisung „Lass die Gnadengabe in dir nicht außer acht, die dir infolge eines Prophetenworts unter Handaufstemmung zur [Verleihung der] Ältestenwürde gegeben worden ist“.
Ebenfalls mit Blick auf 1 Tim 4,14 und 2 Tim 1,6 fragt J. C. Poirier 2009, 83-99: Beziehen sich die beiden Verse auf zwei verschiedene Situationen? Falls ja: Warum war es nötig, Timotheus zweimal die Hände aufzulegen? Wenn sich die beiden Verse dagegen auf zwei verschiedene Gelegenheiten beziehen, warum ist dann einmal von der Handauflegung der Ältesten und das andere Mal von der Handauflegung des Paulus die Rede? C. Poirier vertritt die These, dass sich die beiden Verse zum einen auf zwei verschiedene Situationen beziehen, zum anderen auf zwei verschiedene Riten. Die Handauflegung der Ältesten sei ein Ritus der Legitimation, durch den die Gemeinde Timotheus als ihren Repräsentanten und als Repräsentanten des Evangeliums legitimiere („Ordination“). Die Handauflegung des Paulus dagegen beinhalte den realen Übergang des Charismas von Paulus auf Timotheus.
R. Schwarz 2010, 145-159 befasst sich mit den Vorstellungen von Ordination in den Pastoralbriefen und mit der Ordination unter der Voraussetzung der Unechtheit der Pastoralbriefe. Zum letzteren Punkt: Erklärbar seien die in den Pastoralbriefen geschilderten Fakten bezüglich der Amtsträger und ihrer Ordination letztlich durch ein starkes Interesse an einer Rückbindung der „rechten Lehre“ an die Autoritäten des Anfangs, hier besonders an Paulus und seine Schüler Timotheus und Titus. Die Pastoralbriefe (besonders die beiden Timotheusbriefe) seien Zeugen einer den Adressaten bekannten Praxis der Ordination ihrer Amtsträger.
Zur Entwicklung der kirchlichen Ämter in frühchristlichen Gemeinden Kleinasiens siehe D.-A. Koch 2010, 166-206, der auf S. 188-204 auf die Pastoralbriefe und Ignatius von Antiochia eingeht. Er stellt fest, dass der Verfasser der Pastoralbriefe am Amt des Bischofs am meisten Interesse habe. Die Entstehung des Amtes des einen Bischofs werde in der Forschung seit langem mit der Abwehr der Gefahr der Irrlehre begründet. Die Signale, die diese Annahme stützen, seien in der Tat mehr als deutlich. Dann ergäben sich aber zwei Fragen: a) Warum wurde nicht sogleich eine monarchische Spitze gebildet, sondern zunächst ein kollektives Leitungsorgan? b) Warum wurde dieses kollektive Leitungsorgan aus „Ältesten“ gebildet? Antwort: Einem „Ältesten“ sei in der Antike Erfahrungswissen und Urteilsvermögen zugeschrieben worden, d. h. Sozialkompetenz. Und in der Regel habe ein „Ältester“ nicht nur sich selbst repräsentiert, sondern den Familienverband, also ein „Haus“ oder eine andere Gruppierung, der er angehörte, in der er seine Sozialkompetenz erworben hatte und in der er wohl in der Regel auch eine bestimmende Funktion innehatte. Und genau diese Kompetenz habe offenbar in die Gemeindeleitung integriert werden sollen, und zwar nicht die eines einzelnen „Ältesten“, sondern die einer Mehrzahl. Die kollektive Führungsstruktur habe dazu gedient, die verschiedenen Teile der Gemeinde durch ihre wichtigsten Vertreter einzubinden und sozusagen alle „mit ins Boot“ zu nehmen.
Das Charisma (Gnadengabe) und Amt bei Paulus hat N. Baumert 1986, 203-228 zum Thema, der auf S. 222-223 konkret auf 1 Tim 4,14 eingeht.
S. S. Schatzmann 1987, 49-50 legt dar, dass „charisma“ auch in 1 Tim 4,14 und 2 Tim 1,6 „Gnadengabe“ bedeute und – anders als man angesichts der Ordination meinen könnte – nicht die Bedeutung „(kirchliches) Amt“ angenommen habe.
G. Rednic 2010, 218-236 legt dar, dass das Priestertum nicht der Gnadengabe entgegengesetzt sei, sondern zu den Gnadengaben gehöre.
Das geringe Maß an Bezügen auf den heiligen Geist in den Pastoralbriefen habe laut M. A. G. Haykin 1985, 291-305 manche Ausleger zur Annahme verleitet, dass wir es in diesen Briefen mit einem rigideren, weniger charismatischen Verständnis christlicher Theologie und Praxis zu tun haben. Diese Annahme sei jedoch irrig. Auch wenn der heilige Geist in den Pastoralbriefen keine prominente Rolle spiele, gebe es keinen Grund dazu, die pneumatologischen Aussagen in die Nähe späterer Autoren wie Ignatius von Antiochien zu rücken. Ignatius von Antiochien habe die Gaben des heiligen Geistes, speziell die Prophetie, als dem Bischof vorbehaltene Domäne betrachtet. Der heilige Geist werde in den Pastoralbriefen weiterhin als Herr über die Kirche angesehen, denn er sei es, der Freiheit von der Sünde und Bevollmächtigung zum Dienst bewirke und sicherstelle, dass die Wahrheit in einer lebendigen und verlässlichen Weise von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es gebe also in den Pastoralbriefen hinsichtlich des heiligen Geistes nichts, was Paulus nicht hätte schreiben können.
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Beobachtungen: Es ist unklar, worauf sich „dafür“ („tauta“) bezieht. Vermutlich ist das gemeint, wozu „Timotheus“ in V. 12-13, vielleicht auch in V. 14 ermahnt worden ist. Eine genauere Bestimmung des Bezugs ist kaum möglich. Gleiches gilt für „en toutois“ („in diesem / in diesen Dingen“).
Bei der Verbform „isthi“ handelt es sich um einen Imperativ, der wörtlich mit „sei“ zu übersetzen ist. Die wörtliche Übersetzung von „en toutois isthi“ lautet also „in diesem / in diesen Dingen sei!“ Es handelt sich also wohl um eine existenzielle Aussage – um eine Aussage, wovon das Leben des „Timotheus“ bestimmt sein soll. Das Leben des „Timotheus“ soll vermutlich von den in V. 12-13-und vielleicht auch V. 14 genannten Dingen bestimmt sein.
1 Tim 4,12-16 geht von der Presbyter(ial)verfassung aus. Dem fortgeschrittenen Alter wird also bei der Gemeindeleitung eine besondere Bedeutung beigemessen. Dabei steht das Alter wohl für Erfahrung und Lebensweisheit, was beides zur Gemeindeleitung befähigt. Der 1 Tim handelt vermutlich vom Übergang zur Episkopalverfassung, in der die Gemeindeleitung in die Hände von Bischöfen gelegt wird. V. 12 legt zugrunde, dass ein Bischof im Alter nicht fortgeschritten sein muss. Das birgt die Gefahr, dass er mit Argwohn betrachtet und geringschätzig behandelt wird. Wenn V. 15 nun das „Fortschreiten“ thematisiert, dann geht es zunächst einmal um Persönlichkeitsentwicklung. Diese Persönlichkeitsentwicklung ist geistlich gedacht. Es geht um eine Entwicklung hinsichtlich Predigt und Lehre, Lebenswandel und Reinheit. Es ist vorausgesetzt, dass „Timotheus“ von Anfang an ausreichend für das Bischofsamt befähigt ist. Die Befähigung ist jedoch nicht statisch, sondern es gilt, sie fortzuentwickeln. Der Bischof darf bezüglich seiner Persönlichkeit nicht gegenüber den Ältesten abfallen. Die Grundlage für die Weiterentwicklung ist das „Wort“, das Evangelium. Nun ist die Persönlichkeitsentwicklung kein Selbstzweck, damit „Timotheus“, der wohl alle Bischöfe repräsentiert, ein glückliches und erfülltes Leben führt. Vielmehr geht es um Gemeindeleitung und Gemeindeaufbau, deren Voraussetzung die Persönlichkeitsentwicklung ist. Der Gemeindeaufbau geschieht durch Schriftlesung, Ermahnung und Lehre. Das Evangelium ist auch Grundlage dieses Gemeindeaufbaus. „Timotheus“ soll diesbezüglich die „Gnadengabe“ nicht vernachlässigen. Er soll also für das Wirken des heiligen Geistes offen sein und seine Begabungen und Fähigkeiten nicht vernachlässigen. So soll er seinen Amtsauftrag recht erfüllen und sein Bischofsamt zu aller Zufriedenheit recht ausfüllen. Die Gemeinde wird durch Schriftlesung, Ermahnung und Lehre gestärkt, insbesondere auch gegenüber Irrlehren. So gestärkt befindet sie sich auf festem und sicherem Grund und kann wachsen.
„Alle“ sind in erster Linie sicherlich die Christen, speziell auch die „Ältesten“, die von der neuen Gemeindeverfassung und den auf ihrer Grundlage beauftragten Gemeindeleitern erst noch überzeugt werden mussten. Dann sind es aber sicherlich auch die Nichtchristen, denn die frühen Christen sahen sich in der mehrheitlich nichtchristlichen Umgebung Anfeindungen ausgesetzt. Insofern mussten sie auch das nichtchristliche Umfeld überzeugen, dass Christen keine Spinner und keine Angehörige einer obskuren oder gar gefährlichen Sekte sind. Für diese Überzeugungsarbeit waren die Persönlichkeit und der Lebenswandel der Gemeindeleiter, speziell der Bischöfe, von großer Bedeutung.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: V. 16 hebt die Persönlichkeitsentwicklung und die rechte Lehre als Voraussetzungen für die „Rettung“ - vermutlich ist die Rettung vor dem ewigen Tod gemeint – hervor. Die Persönlichkeitsentwicklung und Lehre dienen zugleich der eigenen „Rettung“ des „Timotheus“ als auch der „Rettung“ derjenigen, die „Timotheus“ hören. Letztendlich geht es um den rechten Glauben, um das rechte Lehren und um das rechte Leben und Handeln aus dem Glauben heraus.
„Bei alledem“ („autois“) kann sich auf „Hab acht auf dich selbst und die Lehre“ beziehen, aber auch auf all das, was zuvor in V. 12-15 genannt worden ist (vgl. die Beobachtungen zu V. 15). Persönlichkeitsentwicklung, Verkündigung, Lehre, Glaube und Lebenswandel hängen untrennbar zusammen, wobei V. 16 den Fokus insbesondere auf Persönlichkeitsentwicklung und Lehre richtet, auf die „Timotheus“ achthaben soll.
Das Verb „akouô“ („hören“) steht mit dem Akkusativ. Es geht also nicht nur um das rein akustische Hören, sondern er geht auch um eine Bewertung des Gehörten als richtig. Das Gehörte ist in erster Linie die Lehre, kann aber auch eine Predigt oder auch eine Ermahnung im Alltagsleben sein. „Paulus“ hat eine Lehre im Blick, die von ihm selbst als richtig bewertet wird, also aus seiner Sicht der paulinischen Lehre entspricht. Der Verfasser des 1 Tim nennt sich ja selbst „Paulus“, womit er für sich die paulinische Autorität in Anspruch nimmt und sich selbst und seine Theologie als „paulinisch“ kennzeichnet. Diese „paulinische“ Theologie wird klar von den Irrlehren abgegrenzt. Diejenigen, die die „paulinische“ Lehre hören, sollen von ihr nicht unberührt bleiben, sondern sie als richtig anerkennen. Es soll aber nicht bei einem rein kognitiven Prozess bleiben, sondern die Hörer sollen ihr Leben nach der „paulinischen“ Lehre ausrichten und dementsprechend handeln. Wenn sie all dies tun, werden sie „gerettet“.
Es fällt auf, dass „Paulus“ im Hinblick auf verschiedene Personengruppen verschiedene Voraussetzungen für die „Rettung“ nennt. Bei den verschiedenen Personengruppen handelt es sich um die christlichen Frauen (vgl. 2,15), um die Bischöfe (4,16) und um die reichen Christen (vgl. 6,19). Allen diesen Personengruppen ist als Voraussetzung für die „Rettung“ (bzw. das „wahre Leben“) der rechte Glaube gemein. Über den rechten Glauben herausgehend werden dann weitere, ganz spezifische Voraussetzungen genannt.
Weiterführende Literatur:
Literaturübersicht
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