1 Tim 5,3-8
„
Übersetzung
1 Tim 5,3-8 : 3 Witwen versorge, wenn sie wirklich Witwen sind! 4 Wenn eine Witwe aber Kinder oder Enkel hat, so sollen diese erst lernen, Frömmigkeit am eigenen Haus zu erweisen und Empfangenes der älteren Generation zu vergelten; denn das ist wohlgefällig vor (dem) Gott. 5 Die aber wirklich Witwe und vereinsamt ist, hat ihre Hoffnung auf Gott gesetzt und bleibt bei (den) Flehen und (den) Gebeten Tag und Nacht. 6 Die aber in Üppigkeit lebt, ist lebendig tot. 7 Und dies gebiete, damit sie untadelig sind! 8 Wenn aber jemand für die Seinen und besonders für [die] Hausgenossen nicht sorgt, so hat er den Glauben verleugnet und ist schlechter als ein Ungläubiger.
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Beobachtungen: Nachdem „Timotheus“ dazu angehalten worden ist, eine Vorbildfunktion einzunehmen, und so ein Idealbild des Bischofs skizziert worden ist (4,12-16), geht „Paulus“ in seinen persönlichen Anweisungen (4,12-6,2) zum rechten Umgang mit verschiedenen Personengruppen in der Gemeinde über (5,1-16). Dabei befasst er sich zunächst mit dem Umgang mit Menschen verschiedenen Alters (5,1-2). Danach geht er auf den Umgang mit den Witwen ein (5,3-16), wobei er zunächst (5,3-8) klärt, welche Witwen Anspruch auf Versorgung seitens der Gemeinde haben. Der rechte Umgang mit verschiedenen Personengruppen in der Gemeinde gehört wesentlich zu vorbildlichem Verhalten dazu.
Eine Witwe ist eine Frau, deren Ehemann verstorben ist. V. 3 unterscheidet „wirkliche“ Witwen von „nicht wirklichen“ Witwen. Nur Witwen, die seitens der Gemeinde versorgt werden müssen, sind „wirkliche“ Witwen, wie aus den folgenden Versen hervorgeht.
Das Verb „timaô“ bedeutet zunächst einmal „ehren“. Witwen, die wirklich Witwen sind, sollen geehrt werden. Wenn eine Witwe bedürftig ist, muss sich die Ehre aber konkret zeigen. Nur von salbungsvollen Worten wird eine bedürftige, hungrige Witwe nicht satt. Wir haben also davon auszugehen, dass hinsichtlich der Ehre ganz konkret an Versorgung gedacht ist. Witwen, die wirklich Witwen sind, sollen also versorgt werden. Da „timaô“ nicht nur „ehren“ oder „versorgen“, sondern auch „besolden/entlohnen“ bedeuten kann, ist durchaus möglich, dass die Versorgung durch eine Geldzahlung erfolgen soll. Sicher lässt sich das aber nicht sagen, weil es nicht um die Art der Versorgung geht, sondern um die Notwendigkeit der Versorgung an sich.
Weiterführende Literatur: A. Standhartinger 2004, 103-126 untersucht den traditionsgeschichtlichen Zusammenhang der „Witwen“. Dazu stellt sie zunächst einzelne Witwengruppen vor und fragt jeweils, was zur Charakterisierung dieser Gruppen als „Witwen“ geführt haben könnte. Im zweiten Schritt stellt sie dann einige jüdische Witwentraditionen vor. Abschließend fragt sie nach der Aufnahme jüdischer Witwentraditionen in Texten des entstehenden Christentums. Ergebnis: Die Existenz von Frauengruppen im entstehenden Christentum, die als „Witwen“ bezeichnet werden, erkläre sich weder aus einer sonst nicht belegten speziellen Witwenfürsorge, noch aus dem später hervortretenden Witwenamt. Vielmehr deute vieles darauf hin, dass Frauen mit dem Begriff „Witwe“ eine theologische Tradition weiterführten, die insbesondere in der hellenistisch-jüdischen Weisheitsbewegung entwickelt, tradiert und gepflegt wurde.
Zu den eingesetzten Witwen siehe U. E. Eisen 1996, 138-153. Wie die Traditio Apostolica (Rom; erstes Drittel des 3. Jh.) zeige, sei zwischen den Witwen, die zu einem kirchlichen Dienst eingesetzt wurden, und den Witwen, die kirchliche Versorgungsempfängerinnen waren, zu unterscheiden. Als Versorgungsempfängerinnen begegneten sie schon im NT (Apg 6,1; 9,39; 1 Tim 5,3-16). In 1 Tim 5,3-16 zeichne sich zudem ein Witwenamt ab, das vor allem in den Kirchenordnungen der folgenden Jahrhunderte Konturen zeige.
In 1 Tim 5,3-16 sei laut M. Tsuji ein Konflikt erkennbar zwischen dem Idealbild der Witwen und dem Status quo. Gemäß dem Verfasser des 1 Tim, dessen Ansicht christlicher Tradition entspreche, sollten ausschließlich die „wirklichen Witwen“ und nicht alle Frauen, die zu seiner Zeit als Witwen bezeichnet wurden, Objekt der Versorgung sein. Unter diesen Witwen habe es auch jüngere Frauen gegeben, die gar nie verheiratet gewesen waren. Der Verfasser versuche nun, diese „jüngeren Witwen“ aus der Gruppe der Witwen auszuschließen, indem er das traditionelle Witwenbild gegenüber dem Status quo stark mache. Seine Motivation sei wohl die Abwehr gegen eine asketisch orientierte Irrlehre, die besonders unter den „jüngeren Witwen“ große Resonanz gefunden habe.
C. Back 2015, 168-191 zur Witwenliste in 1 Tim 5,3-16: Diese Perikope zeuge davon, dass die jeweilige Ortsautorität darum bemüht war, die Witwenversorgung in der Gemeinde zu organisieren, zu systematisieren und ihr für einen eng begrenzten Empfängerkreis eine gewisse Verbindlichkeit zu geben ohne darauf zu verzichten, die betroffenen Witwen zum stellvertretenden Gebet für die Gemeinde und zur Askese zu verpflichten. Außerdem sei dieses Bestreben nicht so weit gegangen, dass sich eventuell Angehörige nicht mehr für die Witwe verantwortlich fühlen mussten. Auch Einzelpersonen, wie z. B. gläubige, wohlhabende Frauen, die Witwen in ihrem Haus aufgenommen hatten, seien aufgefordert worden sich um die bedürftigen verwitweten Frauen zu kümmern.
Die literarische und motivkritische Untersuchung U. Wagener 1994, 115-233 erbringt das Ergebnis, dass dem Autor des 1 Tim eine traditionelle Ämterordnung vorgelegen habe, in der Bestimmungen zur Bezahlung und Auswahl von Gemeindewitwen sowie zum Presbyteramt enthalten gewesen seien. Die Grundlage dieses Witwenamtes bilde ein spiritualisiserter Witwenbegriff, der asketisch und charismatisch orientiert sei. Eine besondere Gottesbeziehung, die sich im Gebet manifestiere, sei demnach Grundlage prophetischer Begabung der Witwe, die ihr eine ausgezeichnete Ehrenstellung sichere. Allerdings habe schon auf der Ebene der den Pastoralbriefen zugrunde liegenden Tradition eine gewisse Institutionalisierung eingesetzt, wie Besoldungsanweisung und formalisierter Auswahlprozess zeigten. Die asketische Ausrichtung bleibe aber in der traditionellen Amtsregel als Grundlage der Ehrenstellung der Witwen bestehen. Zu diesem asketisch-charismatischen Grundcharakter der Witweninstitution stehe nun der Verfasser der Pastoralbriefe in kaum verhohlenem Widerspruch, was die auffälligen und in der Exegese schon lange gesehenen Spannungen und Brüche in 1 Tim 5,3-16 erklären könne. Der Verfasser trage seine am „Haus“ orientierte ekklesiologische und ethische Leitvorstellung in zweifacher Weise in die Witwentradition ein: Zum einen schließe er alle Frauen, die häusliche Aufgaben haben oder aufgrund ihres Alters wahrnehmen können, vom Zugang zum Witwenamt aus. Zum anderen orientiere er die Zugangsvoraussetzungen zum Witwenamt selbst an den Pflichten und Werten des „Hauses“. Vgl. U. Wagener 2004, 90-93.
J. Bassler 1984, 23-41 deutet 1 Tim 5,3-16 mit Blick auf das Streben nach sozialer Freiheit. Das frühe Christentum sei eine egalitäre Bewegung gewesen. In den Pastoralbriefen sei aber eine Wandlung der Kirche nach einem in der Gesellschaft verbreiteten hierarchischen und patriarchalen Muster zu erkennen. Die Pastoralbriefe ließen einen Rückzug von Frauen in einen Kreis Witwen erkennen, in dem der zölibatäre Lebensstil vor den patriarchalen Gesellschaftsstrukturen bewahrt habe. Als auch der Witwenstand an herkömmlichen Normen ausgerichtet worden sei, sei ein weiterer Rückzug in eine gnostisierende Häresie erfolgt. Diese habe die gemeinschaftliche Gleichheit bewahrt, wenn auch nicht die Reinheit der Lehre.
M. Sommer 2015, 287-307 stellt die These einer kontrastiven Schriftrezeption in 1 Tim 5 auf. Witwen seien in der Tora (und auch in den Geschichtsbüchern; in der Tora insbesondere im Deuteronomium) immer dann als literarische Figuren herangezogen worden, wenn ein literarisches Identitätsbild von Israels Gesellschaftsstruktur mit der Tora als ihrem Kern entfaltet werden sollte. Wohl kaum dürften Witwen bloße Repräsentantinnen einer gesellschaftlichen Randgruppe gewesen sein, anhand derer die Texte eine karitative Option für sozial Benachteiligte aussprechen. Die Nachgeschichte des Deuteronomiums sei mit vielen Adaptions- und Interpretationsprozessen einhergegangen. Im ersten und zweiten Jahrhundert reiße die Traditionskette der Witwen-Tora nicht ab. Wenn auch die Intensität ihrer Spuren etwas nachlasse, sei sie angesichts der Vielzahl Belege noch deutlich präsent. In den Texten des „Neuen Testaments“, der frühchristlichen Apologien und der Väterliteratur spielten Witwen in einer – wie auch immer gearteten – Diskussion um Schrift, Tora und Gesetz eine Rolle. Die Pastoralbriefe hätten diese Diskussion gekannt, ja sogar mit ihr gespielt und 1 Tim 5 in gewisser Weise als Kontrast dazu gestaltet.
B. G. Edwards 2016, 87-105 befasst sich mit den Anweisungen zur Witwenversorgung unter dem Gesichtspunkt der Rolle der Kirche in Fragen der sozialen Gerechtigkeit.
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Beobachtungen: V. 4 ist unter dem Aspekt der Notwendigkeit der Versorgung zu lesen, und zwar unter dem Aspekt der Versorgung der Witwe. Demnach bedarf eine Witwe, die Kinder oder Enkel hat, zwar der Versorgung, aber nicht seitens der Gemeinde. Um das zu verstehen, müssen wir uns bewusst machen, dass es in der Antike noch keine Rentenversicherung gab. Die „Rente“ waren die leiblichen Nachkommen, die für ihre alt gewordenen Eltern und Großeltern zu sorgen hatten. Ohne leibliche Nachkommen hatten die Alten niemanden, der sie versorgte. Verheiratete hatten zwar theoretisch die Möglichkeit, sich durch den Ehepartner oder durch die Ehepartnerin versorgen zu lassen, wenn sie sich selbst nicht mehr versorgen konnten, allerdings war diese Möglichkeit in der Antike noch weniger gegeben als in der Gegenwart. Wir dürfen nicht vergessen, dass das damalige Gesundheitswesen nicht mit dem heutigen, gut ausgebauten vergleichbar ist. Menschen wurden damals nicht so alt wie heute und wurden auch eher gebrechlich. Wenn heutzutage Menschen gebrechlich werden, so liegt dies meist am hohen Alter, zumindest in der mittleren und oberen Bevölkerungsschicht. Wenn ein Ehepartner gebrechlich wird, so ist oftmals der andere noch mehr oder weniger in der Lage, für die Versorgung zu sorgen. Und die Grundabsicherung ist meist durch die Rente oder Pension oder eine andere staatliche Absicherung gegeben. Auch sind heutzutage mehr Geldmittel vorhanden, mittels derer Versorgungsleistungen bezahlt werden können. Von einem solchen Maß an Absicherung konnten viele Alte in der Antike nur träumen. Das müssen wir uns bewusst machen, wenn wir den Inhalt und die Sprache von 1 Tim 5,3-8 verstehen wollen. Dass nur von Witwen und nicht von Witwern die Rede ist, mag damit zusammenhängen, dass Frauen – sofern sie die Geburten unbeschadet überstanden – eine höhere Lebenserwartung als Männer hatten, aber die körperliche Konstitution keine Selbstversorgung zuließ.
Bei dem Verb „manthanetôsan“ („sie sollen lernen“) handelt es sich um einen Plural. Es ist also eine Mehrzahl Menschen im Blick, die lernen soll. Bei der Mehrzahl kann es sich um die Witwen oder um die Kinder und Enkel handeln. Da es um die Versorgung der Witwen geht, ist wahrscheinlicher, dass die Enkel gemeint sind, zumal in V. 4 die Formulierung „eine Witwe“ ist, was ein Singular ist. Die Kinder und Enkel sollen also erst lernen, Frömmigkeit am eigenen Haus zu erweisen und Empfangenes der älteren Generation zu vergelten. Das „eigene Haus“ ist die eigene Hausgemeinschaft, wobei hier insbesondere die in der Hausgemeinschaft lebende Witwe gemeint sein dürfte.
V. 4 erinnert an das Gebot „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“ (vgl. Ex 20,12; Dtn 5,16). Die Versorgung der Witwen durch ihre Kinder und Enkel ist eine Form des Ehrenerweises gegenüber Vater und Mutter, speziell gegenüber der Mutter bzw. Großmutter. Die Versorgung ist eine Vergeltung von etwas Empfangenem. Gemeint ist wahrscheinlich, dass die Kinder und Enkel von der Witwe, als sie noch jünger war, aufgezogen worden sind. Sie haben also im Kindesalter Versorgung seitens ihrer Mutter bzw. Großmutter erfahren. Sobald die Kinder und Enkel erwachsen geworden sind, dreht sich das Erfordernis der Versorgung um: Nun sind es die Kinder und Enkel, die versorgen sollen, und die ehemals verheiratete und noch nicht gebrechliche Witwe soll versorgt werden. Diese Umkehr der Versorgungsleistung erklärt vermutlich die Formulierung „so sollen sie erst lernen“. Die Kinder und Enkel waren bisher gewohnt, versorgt zu werden, nun sollen sie lernen, zu versorgen.
Bezüglich des altgriechischen Begriffs „progonoi“ stellt sich ein interessantes Übersetzungsproblem. „Progonoi“ meint eigentlich die Vorfahren. Die Übersetzung „Vorfahren“ legt sich hier aber nicht nahe, weil man gewöhnlich von „Vorfahren“ spricht, wenn sie verstorben sind. Hier sind aber noch lebende Vorfahren der Kinder und Enkel im Blick. Die Formulierung ist aus Sicht der Kinder und Enkel gewählt. Die Witwen sind die Mütter der Kinder und die Großmütter der Enkel. Auch wenn der Begriff „progonoi“ hier wohl in erster Linie die Witwen meint, bezeichnet er allgemein die Eltern und Großeltern der Kinder, die im Alter der Versorgung bedürfen. Insofern kann man „progonoi“ mit „Eltern und Großeltern“ übersetzen. Genau genommen müsste die Übersetzung aber „Eltern beziehungsweise Großeltern“ lauten, denn es sind nicht die Eltern und Großeltern der Kinder und Enkel gemeint, sondern die Eltern von den Kindern und die Großeltern der Enkel. Die Großeltern der (bereits erwachsenen) Kinder dürften bereits verstorben sein und die Eltern der Enkel sind die (bereits erwachsenen) Kinder. Die (bereits erwachsenen) Kinder bedürfen aber nicht der Versorgung, sondern sollen ihre Eltern, speziell ihre verwitweten Mütter, versorgen. Es sind also drei Generationen im Blick. Die älteste Generation ist die Generation der „progonoi“. Diese Generation bedarf der Versorgung. Die darauf folgende Generation ist die Generation der Kinder der ältesten Generation. Und die jüngste Generation ist die Generation der Enkel der ältesten Generation. Insofern trifft die Übersetzung „ältere Generation“ am genauesten den Sinn des Begriffs. Gemeint ist nämlich die Generation, die sowohl älter als die Generation der Kinder als auch älter als die Generation der Enkel ist.
Die Versorgung der Witwen und generell der älteren Generation, also der Eltern bzw. Großeltern, ist nicht nur eine soziale Pflicht, sondern ein Ausdruck der Frömmigkeit, und zwar Frömmigkeit am eigenen „Haus“. Als „Haus“ wird die Wohn-, Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft bezeichnet, der die zu versorgenden Alten ebenso angehören wie ihre (erwachsen gewordenen) Kinder und (erwachsen gewordenen) Enkel. Insbesondere die Enkel könnten noch im Kindesalter sein, aber solche minderjährigen, noch nicht zur Versorgung von Familienangehörigen fähigen Enkel bleiben hier außen vor, weil sie für die Aussage von V. 4 irrelevant sind. „Frömmigkeit“ ist ein religiöser Begriff, der eine Haltung und einen Lebenswandel aus dem Glauben an den Gott Israels und Jesus Christus heraus meint. Die Formulierung „das ist wohlgefällig vor (dem) Gott“ macht deutlich, wem gegenüber die gläubigen Kinder und Enkel rechenschaftspflichtig sind: Gott. Und sie macht auch deutlich, dass die Versorgungsleistung bei Gott Wohlgefallen auslöst, also positiv bewertet wird.
Eine alternative Deutung von V. 4 ist: Wenn Witwen noch Kinder und/oder Enkel haben, dann sollen sie – sofern sie nicht gebrechlich sind – sich nicht von der Gemeinde versorgen lassen, sondern ihre (möglicherweise noch minderjährigen) Kinder und Enkel versorgen. Diese Kinder und Enkel gehören also demnach zum „eigenen Haus“ der Witwen. Indem die Witwen ihre Kinder und/oder Enkel versorgen, vergelten sie die Versorgungsleistung, die ihnen seitens ihrer Eltern und eventuell Großeltern zuteil wurde. Diese alternative Deutung ist jedoch unwahrscheinlich, denn Witwen stehen eher für Versorgungsbedürftigkeit als für Versorgung von Minderjährigen. So erklärt sich auch, dass der folgende Vers von „wirklichen“ Witwen handelt und erst im übernächsten Vers wohlhabende Witwen in den Blick kommen. Bei der alternativen Deutung wäre dagegen zu erwarten, dass es schon im folgenden Vers um die wohlhabenden Witwen geht, weil unmittelbar nach V. 4 deutlich gemacht werden müsste, warum bestimmte Witwen nicht der Versorgung bedürfen, sondern durchaus versorgen können.
Weiterführende Literatur: M. Y. MacDonald 2014, 109-147 befasst sich mit der christlichen Versammlung und Familie in den Pastoralbriefen. Dabei geht sie auch auf die Witwen ein. Sie legt dar, dass Frauen in einem jüngeren Alter als Männer geheiratet hätten. So hätten Kinder eher noch lebende Mütter und Großmütter als noch lebende Väter und Großväter gehabt. Es werde geschätzt, dass im Alter von 15 Jahren nur noch 10 % der Kinder einen lebenden Großvater gehabt haben.
Das Buch G. W. Peterman 1997 stellt eine Studie zu Paulus‘ Antwort auf die Hilfe, die er von der Gemeinde in Philippi zur Zeit seiner Gefangenschaft in Rom erhalten hat, dar. Ergebnis: Der Austausch von Geschenken oder die soziale Gegenseitigkeit mit ihren Erwartungen und Verpflichtungen habe alle Ebenen der antiken Gesellschaft zur Zeit des Apostels durchdrungen. Die S. 192-193 gehen auf die Fürsorge der Kinder ihren Eltern gegenüber als Gegenleistung für die zuvor von den Eltern geleistete Fürsorge ein.
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Beobachtungen: Die „wirkliche“ Witwe hat keine Kinder und Enkel, die für sie sorgen können oder für sie sorgen. Sie ist insofern vereinsamt, weil sie keinen Menschen hat, der für sie sorgt. Weil der Ehemann verstorben ist, kann auch dieser nicht mehr für sie sorgen. Folglich bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihre Hoffnung auf Gott zu setzen, dass er auf irgendeine Weise ihre Versorgung bewirken möge. Dabei ist der Gott Israels gemeint, der – das macht eine Alternative deutlich, die „auf den Herrn“ statt „auf Gott“ liest – als „Herr“ gedacht ist. Dem Titel „Herr“ liegt der Gedanke der Gegenseitigkeit zugrunde, wie er für das römische Klientelverhältnis typisch ist. Der „Herr“ übt über seine Untergebenen (= Klienten), hier konkret die „wirklichen“ Witwen, Macht aus, ist zugleich aber deren Schutzherr. Die Untergebenen wiederum sind dem „Herrn“ dafür zum Dienst verpflichtet. Die Christen befinden sich demnach also in der machtvollen Heilssphäre Jesu Christi, dem sie untergeben sind und dienen. Hier dient die „wirkliche“ Witwe dem „Herrn“ durch ihre Treue, der sich religiös im Glauben ausdrückt. Die „wirkliche“ Witwe hat ihre Hoffnung auf ihren Schutzherrn gesetzt und erweist ihm im Gegenzug für den erhofften Beistand in der Not Treue im Glauben. Dabei glaubt die „wirkliche“ Witwe nicht an einen abstrakten Gott, sondern an einen wirkmächtigen Gott. Und der Glaube erweist sich im Flehen und Gebeten. Und sie fleht und betet nicht nur zu bestimmten Zeiten, sondern Tag und Nacht. Das haben wir nicht so zu verstehen, dass sie nie schläft, sondern so, dass ihr ganzes Leben als Witwe vom Flehen und Beten geprägt ist. Unklar ist, ob die „wirkliche“ Witwe auch noch Tag und Nacht fleht und betet, wenn ihr die Fürsorge der Gemeinde zuteil wird. Möglicherweise ist die Fürsorge der Gemeinde als Erfüllung der Gebete gedacht.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: V. 6 macht deutlich, dass es auch Witwen gibt, die der Versorgung durch die Gemeinde nicht bedürfen. Das Verb „spatalaô“ bedeutet „schwelgen“, „in Üppigkeit leben“. Dabei bleibt offen, wie wir uns genau das Schwelgen und die Üppigkeit vorzustellen haben. Auf jeden Fall ist an sehr gut ausreichende Geldmittel und/oder Güter zu denken. Nun irritiert aber, dass überhaupt vom Schwelgen und von Üppigkeit die Rede ist. Eine Witwe, die nicht der Versorgung durch die Gemeinde bedarf, braucht ja noch lange nicht zu schwelgen und in Üppigkeit zu leben, sondern kann auch durchaus knapp über die Runden kommen. Warum also die Rede vom Schwelgen und von der Üppigkeit? Und warum die scheinbar unnötige scharfe Kritik? Drei Aspekte kommen in den Sinn: Erstens lässt das Verhalten der schwelgenden Witwe kein Klientelverhältnis erkennen. Die schwelgende Witwe hat ihre Hoffnung nicht auf Gott gesetzt und es wirkt auch so, als habe sie das Wirken Gottes nicht nötig. Daher ist auch nicht davon die Rede, dass sie fleht und betet. Die schwelgende Witwe scheint als Christin gedacht zu sein, ohne dass in irgendeiner Weise deutlich wird, dass sie Christin ist. Insofern ist sie geistlich tot, obwohl sie körperlich höchst aktiv ist. Zweitens lebt die schwelgende Witwe nur für sich, sie lebt also ein ganz selbstbezogenes Dasein. Sie muss von niemandem versorgt werden, aber sie versorgt auch niemanden. Damit, so könnte man sagen, fällt sie niemandem zur Last. Warum also die Kritik? Möglicherweise nimmt „Paulus“ daran Anstoß, dass die schwelgende Witwe ihre Wohlstand für sich verprasst, ohne daran zu denken, dass es notleidende Witwen gibt. Dadurch, dass sie ihren Wohlstand verprasst, enthält sie der Gemeinde potenzielle Mittel für den Unterhalt der „wirklichen“ Witwen vor. Damit klinkt sie sich gleichsam aus der christlichen Glaubensgemeinschaft aus und ist geistlich tot. Drittens mag V. 6 ein Topos zugrunde liegen, wonach das Schwelgen und die Üppigkeit dem geistlichen Leben widersprechen und damit negativ zu bewerten sind. Auch unter diesem Aspekt ist die schwelgende Witwe geistlich tot. Zuletzt könnte man noch daran denken, dass die schwelgende Witwe auch sexuell ausschweifend lebt, oder dass sie nicht ihrer Pflicht nachkommt und ihre Kinder und Enkel versorgt. Um Sexualität geht es aber in 1 Tim 5,3-8 gar nicht. Und die Vernachlässigung der Versorgungspflicht setzt voraus, dass die schwelgende Witwe überhaupt Kinder und/oder Enkel hat. Das ist aber nicht gesagt. Sie legt sich nur bei der unwahrscheinlichen, alternativen Deutung von V. 4 nahe.
Weiterführende Literatur: I. L. E. Ramelli 2010, 237-250 sieht hinsichtlich der Vorstellung vom geistlichen Tod eine Parallele zwischen 1 Tim 5,6 und zeitgenössischen, vom römischen Stoizismus und Mittelplatonismus beeinflussten Autoren. Diese Parallele (wie auch diejenige zwischen 1 Tim 5,1-2 und Hierokles dem Stoiker) beweise, dass der Autor von 1 Tim das Gedankengut hellenistischer Morallehre und -philosophie kannte und adaptierte.
würden im Hinblick auf den Respekt gegenüber betagten Menschen gewöhnlich aus der klassischen antiken Literatur insbesondere Ciceros Schrift Von den Pflichten (De officiis; 1,34) und die Historien (Historiae) des Polybios und aus der biblischen Literatur insbesondere Lev 19,32 und Sir 8,6 herangezogen. Diese Schriften seien zwar in einem gewissen Maße hinsichtlich 1 Tim 5,1-2 relevant, aber zu allgemein. Spezifischer sei der Bezug zu 1 Tim 5,1-2 in den Gesetzen (Nomoi/Leges) des Platon (9,879C) und in den Attischen Nächten (Noctes Atticae; 2,15) des Gellius. Eine besonders interessante, meist übersehene Parallele stelle jedoch Hierokles der Stoiker dar, der wahrscheinlich zur gleichen Zeit wie der Verfasser des 1 Tim oder etwas früher gelebt habe. Die Übereinstimmung mit 1 Tim 5,1-2 betreffe nicht nur den respektvollen Umgang mit betagten Menschen – mit einer Bevorzugung der Ermahnung gegenüber der brüsken Zurechtweisung -, sondern auch die umfassendere und tiefer gehende Vorstellung von der „Kontraktion der Kreise“. Diese Theorie sei bei Hierokles dem Stoiker zu finden und sei auf die frühen Stoiker und Plato zurückzuführen. Sie baue auf der fundamentalen stoischen Lehre der „oikeiôsis“ („Wahrnehmung von etwas als das Eigene“; dazu bietet I. L. E. Ramelli eine Literaturübersicht) und „kathêkonta“ („angemessene Handlungen“) auf, die den philosophischen Rahmen von 1 Tim 5,1-2 bilde. In diesem philosophischen Rahmen gelesen gehe es in 1 Tim 5,1-2 nicht einfach nur um respektvolles Verhalten gegenüber betagten Menschen, sondern konkret um deren Ermahnung, Trost und Stärkung. Und es gehe auch nicht nur um betagte Menschen, sondern um den angemessenen Umgang mit verschiedenen Menschengruppen, der gemäß dem Verfasser des 1 Tim die Distanz zwischen ihnen verringern helfen solle.
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Beobachtungen: Anordnen/Unterweisen und Lehren sind die beiden wesentlichen Aufgaben eines christlichen Amtsinhabers, gerade auch im Anbetracht von Irrlehren. „Timotheus“ erhält selbst von „Paulus“ Anordnungen und wird unterwiesen (vgl. 1,18; 6,13) und er soll selbst anordnen und unterweisen (1,3.5; 4,11; 5,7; 6,17).
Hinsichtlich V. 7 stellen sich zwei Fragen: Worauf bezieht sich „dies“? Und wer ist mit „sie“ gemeint? Zwei Antworten sind möglich: Die erste mögliche Antwort ist, dass sich V. 7 auf V. 4 und V. 8 bezieht und „dies“ die Versorgung der älteren Generation meint und „sie“ die Kinder und Enkel der älteren Generation. Die zweite mögliche Antwort ist, dass sich V. 7 auf die V. 5-6 bezieht. Das Gebot wäre demnach, die Hoffnung auf Gott zu setzen und Tag und Nacht bei Flehen und Gebeten zu verharren, außerdem nicht zu schwelgen. Das Gebot würde sich dann an die Witwen richten, die mit „sie“ gemeint wären. Die V. 5-6 enthalten aber keine Gebote, sondern nur Aussagen. Das spricht dafür, dass erstere Antwort im Blick ist. Die zweite Antwort kommt aber angesichts möglicher Doppeldeutigkeit auch infrage, wäre aber nachrangig. V. 7 würde demnach das in V. 4-6 Gebotene und Gesagte unterstreichen und auch die Verantwortung vor Gott („untadelig sein“) betonen.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: „Die Seinen“ sind wohl die Angehörigen von Christen, die zur Versorgung von Angehörigen in der Lage sind. Und die „Hausgenossen“ sind wohl die Angehörigen des engeren Familienkreises, wobei in erster Linie die (bedürftigen) Eltern und Großeltern, insbesondere die verwitwete (Groß-)Mutter und vielleicht auch der verwitwete (Groß-)Vater im Blick sind.
Das Verleugnen des Glaubens meint nicht einen formalen Akt der Abwendung vom christlichen Glauben, sondern das Versagen im Verhalten. Der Glaube zeigt sich nicht nur im Glaubensbekenntnis oder in rechtgläubiger Rede, sondern im rechten, also dem christlichen Glauben gemäßen Handeln. Wenn aber jemand für die Seinen und besonders für die Hausgenossen nicht sorgt, handelt er nicht so, wie es von einem gläubigen Menschen zu erwarten wäre. Ein ungläubiger Mensch kann seinen (christlichen) Glauben nicht verleugnen. Er gibt nicht vor, „heilig“ zu sein, und sieht christliches Verhalten nicht als seine Leitschnur an. Wer den Glauben verleugnet, lebt nicht nur wie ein Ungläubiger, womit er sich diesem gleich machen würde, sondern er kommt darüber hinaus nicht dem nach, worauf er sich verpflichtet hat. Damit ist er schlechter als ein Ungläubiger, denn dieser hat sich zu nichts (den christlichen Glauben Betreffendes) verpflichtet. Die Schärfe der Formulierung mag sich damit erklären, dass die Verweigerung der Versorgungsleistung seitens der Kinder und Enkel einer Witwe zu einem unnötigen sozialen Problemfall und damit auch zu einer unnötigen Belastung der Gemeindekasse führt.
Weiterführende Literatur: Mit der Bedeutung der Formulierung „kai malista oikeiôn“ in 1 Tim 5,8 befasst sich R. A. Campbell 1995, 157-160. Es stelle sich die Frage, worin sich „oikeiôn“ von „idiôn“ unterscheidet. Mal werde angenommen, dass sich „oikeiôn“ auf einen engeren Kreis Hausgenossen als „idiôn“ beziehe, mal werde das Gegenteil vertreten. Stets werde aber angenommen, dass „oikeiôn“ eine weltliche Personengruppe meine. Tatsächlich handele es sich aber wohl um christliche Glaubensgenossen. „Glaubensgenossen“ sei auch die Bedeutung des Worts in Gal 6,10 und Eph 2,19, den anderen beiden Stellen des NT, wo es vorkomme. In Gal 6,10 werde es ebenfalls in Verbindung mit „malista“ („mehr noch / besonders“) verwendet und in allen drei Versen werde eine sehr ähnliche Gesinnung ausgedrückt. Die von R. A. Campbell vorgeschlagene Deutung sei nicht spezifisch paulinisch, sondern gehe auch mit dem Gedankengut und der Ausdrucksweise der Pastoralbriefe konform. Der Beginn von 1 Tim 5,8 sei also wie folgt zu deuten: „Wenn aber jemand für die Seinen nicht sorgt, insbesondere wenn er sich daran entsinnt, dass sie seine Glaubensgenossen sind,…“.
Literaturübersicht
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Back, Christian; Die Witwen in der frühen Kirche, Frankfurt a. M. 2015
Bassler, Jouette M.; The Widows' Tale: A Fresh Look at 1 Tim 5:3-16, JBL 103/1 (1984), 23-41
Campbell, R. A.; Kai malista oikeion - A New Look at 1 Timothy 5,8, NTS 41 (1995), 157-160
Edwards, Benjamin G.; Honor True Widows: 1 Timothy 5:3-16 with Implications for the Church's Social Responsibilities, DBSJ 21 (2016), 87-105
Eisen, Ute E.; Amtsträgerinnen im frühen Christentum: epigraphische und literarische Studien (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 61), Göttingen 1996
MacDonald, Margaret Y.; The Power of Children: The Construction of Christian Families in the Greco-Roman World, Waco, Texas 2014
Peterman, Gerald W.; Paul’s gift from Philippi: Conventions of gift-exchange and Christian giving, Cambridge 1997
Ramelli, Ilaria; 1 Tim 5:6 and the Notion and Terminology of Spiritual Death: Hellenistic Moral Philosophy in the Pastoral Epistles, Aevum 84/1 (2010), 237-250
Sommer, Michael; Witwen in 1 Tim 5: Eine subkulturelle Annäherung aus der Perspektive der Schriften Israels und ihrer Auswirkungen auf das frühe Christentum, ASEs 32/2 (2015), 287-307
Standhartinger, Angela; „Wie die verehrteste Judith und die besonnenste Hanna.“ Traditionsgeschichtliche Beobachtungen zur Herkunft der Witwengruppen im entstehenden Christentum, in: F. Crüsemann u. a. [Hrsg.], Dem Tod nicht glauben, FS L. Schottroff, Gütersloh 2004, 103-226
Tsuji, Manabu; Zwischen Ideal und Realität: Zu den Witwen in 1 Tim 5.13-16, NTS 47/1 (2001), 92-104
Wagener, Ulrike; Die Ordnung des „Hauses Gottes“. Der Ort von Frauen in der Ekklesiologie und Ethik der Pastoralbriefe (WUNT II/65), Tübingen 1994
Wagener, Ulrike; Verschwenderische Fülle oder haushälterische Vernunft? Oikonomia Gottes, christliche Existenz und Geschlechterdifferenz im frühen Christentum, in: E. Klinger, S. Böhm, T. Franz [Hrsg.], Haushalt, Hauskult, Hauskirche, Würzburg 2004, 79-105