Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Erster Timotheusbrief

Erster Brief des Paulus an Timotheus

1 Tim 5,9-16

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

1 Tim 5,9-16



Übersetzung


1 Tim 5,9-16 : 9 Als Witwe soll [nur] die eingetragen werden, die nicht unter 60 Jahre alt ist, [nur] eines Mannes Frau [war], 10 in guten Werken ausgewiesen ist, wenn sie Kinder aufgezogen, Fremde beherbergt, Heiligen [die] Füße gewaschen, Bedrängten beigestanden hat [und] jedem guten Werk nachgegangen ist. 11 Jüngere Witwen dagegen weise ab. Wenn sie nämlich (dem) Christus zuwider ihren sinnlichen Trieben folgen, wollen sie [wieder] heiraten 12 und ziehen sich so [das] Urteil zu, dass sie die erste Treue gebrochen haben. 13 Zugleich lernen sie (auch) untätig [zu sein], indem sie von Haus zu Haus laufen, dabei aber nicht nur untätig, sondern auch geschwätzig und neugierig [sind] und reden, was sich nicht gehört. 14 So will ich nun, dass jüngere [Witwen] heiraten, Kinder gebären, den Haushalt führen [und] dem Widersacher keinen Anlass zu übler Nachrede geben. 15 Es sind nämlich schon einige auf Abwege geraten, dem Satan nach. 16 Wenn aber eine gläubige Frau Witwen [bei sich im Haus] hat, soll sie für sie sorgen, und die Gemeinde soll nicht belastet werden, damit sie für die sorgen kann, die wirklich Witwen sind.



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V. 9


Beobachtungen: Im Abschnitt 5,3-16 geht „Paulus“ auf den Umgang mit den Witwen ein. In V. 3-8 klärt er zunächst, welche Witwen Anspruch auf Versorgung seitens der Gemeinde haben. Als Grundregel gilt, dass eine Witwe „vereinsamt“ sein muss. „Vereinsamt“ bedeutet, dass sie keine Kinder und Enkel hat, die für sie sorgen können. Die Kinder und Enkel sieht „Paulus“ in der Fürsorgepflicht, was er mit scharfen Worten deutlich macht. Es gibt zwei Gründe, weshalb eine Witwe keine Kinder und Enkel haben kann, die für sie sorgen (können): Entweder hat sie keine Kinder und Enkel, aus welchem Grund auch immer. Oder die Kinder und Enkel weigern sich, ihre Mutter bzw. Großmutter zu versorgen. Aber neben den Witwen, die von ihren Kindern und Enkeln versorgt werden können und denen, die unversorgt ihre Hoffnung auf Gott setzen (müssen) gibt es auch solche, die über Wohlstand verfügen und in diesem schwelgen können. Wie sie zu dem Wohlstand gekommen sind, bleibt offen und ist auch unerheblich. Entscheidend ist, dass „Paulus“ dies als verwerflich ansieht. Dabei bleibt der Grund offen.


Aus den V. 3-8 ist das Bestreben zu erkennen, die Gemeinde nicht unnötig mit Versorgungsleistungen für Witwen zu belasten, die von anderer Seite Hilfe bekommen können. „Von anderer Seite“ sind ausdrücklich zunächst einmal die Kinder und Enkel. Vielleicht ist aber auch an die wohlhabenden Witwen zu denken, die ja durchaus mit ihrem Wohlstand unversorgten Witwen unter die Arme greifen könnten, statt ihn selbst zu verprassen. Aber eine weitere Möglichkeit der Versorgung bleibt interessanterweise in den V. 3-8 völlig außer acht: Zumindest die Witwen, die im Alter noch nicht fortgeschritten sind, könnten ja erneut heiraten. Ihr erster Ehemann ist ja tot, womit sie wieder „zu vergeben“ sind. Wenn sie noch im gebärfähigen Alter sind und noch keine Kinder haben, dann könnten sie durch die zweite Ehe zu Kindern kommen. Diese Logik legt sich angesichts der Tatsache nahe, dass die Ehe bis in die jüngste Vergangenheit dazu diente, legitime Kinder zu zeugen. Und diese legitimen Kinder wären dann für die Altersversorgung ihrer Mutter zuständig. Im Hinblick auf die V. 9-16 wäre also davon auszugehen, dass weiter auf die Versorgung von Witwen eingegangen wird und dabei auch eine erneute Heirat als Möglichkeit der Sicherstellung der Altersversorgung der Witwen in den Blick kommt. Das gilt umso mehr, als ja auch der Ehepartner bei der Versorgung Beistand leisten könnte, sofern er körperlich dazu noch in der Lage ist. Tatsächlich ist es aber so, dass dieser Gedanke erst in V. 14-16 zur Sprache kommt. Die V. 9-13 dagegen sehen eine erneute Heirat von Witwen kritisch. Diesen merkwürdigen Sachverhalt gilt es im Folgenden aufzuklären.


Das Verb „katalegomai“ bedeutet „gezählt werden zu“, „aufgeschrieben werden“ oder „in eine Liste eingetragen werden“. Ganz allgemein gesagt geht es also darum, wer zu den Witwen gezählt wird. Wahrscheinlich haben wir von einem förmlichen Vorgang auszugehen, bei dem eine Registrierung stattfand. Eine anerkannte Witwe wurde vermutlich aufgeschrieben, konkreter: in eine Liste eingetragen. Demnach hätte es eine Liste der anerkannten Witwen gegeben. Von V. 3-8 her gesehen ist zunächst einmal anzunehmen, dass diejenigen Witwen registriert wurden, die von der Gemeinde versorgt werden mussten. Wer genau die Witwen eingetragen hat und wie Versorgung erfolgte, bleibt offen.


Das Mindestalter von 60 Jahren lässt daran denken, dass die jüngeren Witwen meist noch körperlich in der Lage waren, ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Angesichts der Tatsache, dass in der Antike die Lebenserwartung niedriger als heute war, erscheint diese Altersgrenze jedoch sehr hoch. Es stellt sich die Frage, was mit jüngeren „vereinsamten“ Witwen geschehen sollte, die nicht in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen. Gerade bei den jüngeren Witwen wäre ja an eine erneute Heirat zu denken, mittels derer zumindest der neue Ehemann hätte Beistand leisten können, sofern er dazu körperlich in der Lage war. Aber genau diese Lösung sieht „Paulus“ anscheinend nicht vor. Durch eine erneute Heirat hätte sich nämlich eine Frau jeglicher Chance beraubt, im Alter von über 60 Jahren von der Gemeinde versorgt zu werden. Nach dem Tode ihres zweiten Mannes wäre sie zwar Witwe gewesen, aber nicht als bedürftig anerkannt worden, eben weil sie Frau nicht nur eines einzigen Mannes war. Dass Polyandrie im Blick ist, also die Ehe mit mehreren Männern zugleich, ist unwahrscheinlich. Das „Verbot“ einer erneuten Heirat lässt daran zweifeln, dass es in V. 9-16 (oder V. 9-14; vgl. die Beobachtungen zu V. 14-16) weiterhin an erster Stelle um die Witwenversorgung geht. Es legt sich die Vermutung nahe, dass es in V. 9-16 um eine Art Witwenstand oder Witwenamt geht. Der Witwenstand oder das Witwenamt kann mit Bedürftigkeit verbunden sein, muss es aber nicht.

Bemerkenswert ist, dass gemäß 3,2.12 die Bischöfe und Diakone „Mann einer einzigen Frau“ sein sollen. Von 5,9 her gesehen ist das wohl so zu deuten, dass sie nach dem Tod der Ehefrau oder – sofern überhaupt als möglich erachtet – nach einer Scheidung von der Ehefrau keine andere Frau heiraten sollten. Im Hinblick auf Gemeindeämter und bestimmte Stände scheint „Paulus“ der Einzigehe eine besondere Bedeutung beizumessen.


Weiterführende Literatur: M. Y. MacDonald 2014, 109-147 befasst sich mit der christlichen Versammlung und Familie in den Pastoralbriefen. Dabei geht sie auch auf die Witwen ein, wobei sie vermutet, dass es sich bei den „eingeschriebenen Witwen“ um einen sich in der Entstehung befindlichen Stand älterer, asketisch lebender Frauen handeln könne.


A. Standhartinger 2004, 103-126 untersucht den traditionsgeschichtlichen Zusammenhang der „Witwen“. Dazu stellt sie zunächst einzelne Witwengruppen vor und fragt jeweils, was zur Charakterisierung dieser Gruppen als „Witwen“ geführt haben könnte. Im zweiten Schritt stellt sie dann einige jüdische Witwentraditionen vor. Abschließend fragt sie nach der Aufnahme jüdischer Witwentraditionen in Texten des entstehenden Christentums. Ergebnis: Die Existenz von Frauengruppen im entstehenden Christentum, die als „Witwen“ bezeichnet werden, erkläre sich weder aus einer sonst nicht belegten speziellen Witwenfürsorge, noch aus dem später hervortretenden Witwenamt. Vielmehr deute vieles darauf hin, dass Frauen mit dem Begriff „Witwe“ eine theologische Tradition weiterführten, die insbesondere in der hellenistisch-jüdischen Weisheitsbewegung entwickelt, tradiert und gepflegt wurde.


Zu den eingesetzten Witwen siehe U. E. Eisen 1996, 138-153. Wie die Traditio Apostolica (Rom; erstes Drittel des 3. Jh.) zeige, sei zwischen den Witwen, die zu einem kirchlichen Dienst eingesetzt wurden, und den Witwen, die kirchliche Versorgungsempfängerinnen waren, zu unterscheiden. Als Versorgungsempfängerinnen begegneten sie schon im NT (Apg 6,1; 9,39; 1 Tim 5,3-16). In 1 Tim 5,3-16 zeichne sich zudem ein Witwenamt ab, das vor allem in den Kirchenordnungen der folgenden Jahrhunderte Konturen zeige.


In 1 Tim 5,3-16 sei laut M. Tsuji ein Konflikt erkennbar zwischen dem Idealbild der Witwen und dem Status quo. Gemäß dem Verfasser des 1 Tim, dessen Ansicht christlicher Tradition entspreche, sollten ausschließlich die „wirklichen Witwen“ und nicht alle Frauen, die zu seiner Zeit als Witwen bezeichnet wurden, Objekt der Versorgung sein. Unter diesen Witwen habe es auch jüngere Frauen gegeben, die gar nie verheiratet gewesen waren. Der Verfasser versuche nun, diese „jüngeren Witwen“ aus der Gruppe der Witwen auszuschließen, indem er das traditionelle Witwenbild gegenüber dem Status quo stark mache. Seine Motivation sei wohl die Abwehr gegen eine asketisch orientierte Irrlehre, die besonders unter den „jüngeren Witwen“ große Resonanz gefunden habe.


C. Back 2015, 168-191 zur Witwenliste in 1 Tim 5,3-16: Diese Perikope zeuge davon, dass die jeweilige Ortsautorität darum bemüht war, die Witwenversorgung in der Gemeinde zu organisieren, zu systematisieren und ihr für einen eng begrenzten Empfängerkreis eine gewisse Verbindlichkeit zu geben ohne darauf zu verzichten, die betroffenen Witwen zum stellvertretenden Gebet für die Gemeinde und zur Askese zu verpflichten. Außerdem sei dieses Bestreben nicht so weit gegangen, dass sich eventuell Angehörige nicht mehr für die Witwe verantwortlich fühlen mussten. Auch Einzelpersonen, wie z. B. gläubige, wohlhabende Frauen, die Witwen in ihrem Haus aufgenommen hatten, seien aufgefordert worden sich um die bedürftigen verwitweten Frauen zu kümmern.


Die literarische und motivkritische Untersuchung U. Wagener 1994, 115-233 erbringt das Ergebnis, dass dem Autor des 1 Tim eine traditionelle Ämterordnung vorgelegen habe, in der Bestimmungen zur Bezahlung und Auswahl von Gemeindewitwen sowie zum Presbyteramt enthalten gewesen seien. Die Grundlage dieses Witwenamtes bilde ein spiritualisiserter Witwenbegriff, der asketisch und charismatisch orientiert sei. Eine besondere Gottesbeziehung, die sich im Gebet manifestiere, sei demnach Grundlage prophetischer Begabung der Witwe, die ihr eine ausgezeichnete Ehrenstellung sichere. Allerdings habe schon auf der Ebene der den Pastoralbriefen zugrunde liegenden Tradition eine gewisse Institutionalisierung eingesetzt, wie Besoldungsanweisung und formalisierter Auswahlprozess zeigten. Die asketische Ausrichtung bleibe aber in der traditionellen Amtsregel als Grundlage der Ehrenstellung der Witwen bestehen. Zu diesem asketisch-charismatischen Grundcharakter der Witweninstitution stehe nun der Verfasser der Pastoralbriefe in kaum verhohlenem Widerspruch, was die auffälligen und in der Exegese schon lange gesehenen Spannungen und Brüche in 1 Tim 5,3-16 erklären könne. Der Verfasser trage seine am „Haus“ orientierte ekklesiologische und ethische Leitvorstellung in zweifacher Weise in die Witwentradition ein: Zum einen schließe er alle Frauen, die häusliche Aufgaben haben oder aufgrund ihres Alters wahrnehmen können, vom Zugang zum Witwenamt aus. Zum anderen orientiere er die Zugangsvoraussetzungen zum Witwenamt selbst an den Pflichten und Werten des „Hauses“. Vgl. U. Wagener 2004, 90-93.


M. Sommer 2015, 287-307 stellt die These einer kontrastiven Schriftrezeption in 1 Tim 5 auf. Witwen seien in der Tora (und auch in den Geschichtsbüchern; in der Tora insbesondere im Deuteronomium) immer dann als literarische Figuren herangezogen worden, wenn ein literarisches Identitätsbild von Israels Gesellschaftsstruktur mit der Tora als ihrem Kern entfaltet werden sollte. Wohl kaum dürften Witwen bloße Repräsentantinnen einer gesellschaftlichen Randgruppe gewesen sein, anhand derer die Texte eine karitative Option für sozial Benachteiligte aussprechen. Die Nachgeschichte des Deuteronomiums sei mit vielen Adaptions- und Interpretationsprozessen einhergegangen. Im ersten und zweiten Jahrhundert reiße die Traditionskette der Witwen-Tora nicht ab. Wenn auch die Intensität ihrer Spuren etwas nachlasse, sei sie angesichts der Vielzahl Belege noch deutlich präsent. In den Texten des „Neuen Testaments“, der frühchristlichen Apologien und der Väterliteratur spielten Witwen in einer – wie auch immer gearteten – Diskussion um Schrift, Tora und Gesetz eine Rolle. Die Pastoralbriefe hätten diese Diskussion gekannt, ja sogar mit ihr gespielt und 1 Tim 5 in gewisser Weise als Kontrast dazu gestaltet.


B. G. Edwards 2016, 87-105 befasst sich mit den Anweisungen zur Witwenversorgung unter dem Gesichtspunkt der Rolle der Kirche in Fragen der sozialen Gerechtigkeit.


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V. 10


Beobachtungen: V. 10 beschreibt nicht, was die „einzutragenden“ Witwen getan haben sollen, nicht was sie tun sollen. Insofern werden nicht die Aufgaben eines möglichen Witwenamtes beschrieben. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass von den „einzutragenden“ Witwen ein solches Verhalten weiterhin erwartet wird.


Es fällt auf, dass das Handeln anderen Menschen zugute kommt und die eigene Versorgung – sofern sie überhaupt eine Rolle spielt – zweitrangig ist. Damit liegt ein ganz entscheidender Unterschied zu den V. 5-8 vor, wo es darum ging, dass die Witwen selbst versorgt werden. Damit ist nicht gesagt, dass die „einzutragenden“ Witwen nicht der Versorgung bedürfen. Es ist damit aber gesagt, dass die Bedürftigkeit von Witwen kein alleiniges und vielleicht auch kein entscheidendes Kriterium für die Eintragung ist. Mindestalter, Einzigehe und ein von Nächstenliebe geprägtes Verhalten sind entscheidende Kriterien. Bedürftigkeit mag vorausgesetzt sein, muss es aber nicht.


Die verschiedenen von Nächstenliebe geprägten Handlungen sind allgemein formuliert, weshalb wir sie auch allgemein deuten sollten. Die „guten Werke“ sind wohl im Sinne von rechten Handlungen im Sinne der Christusnachfolge zu verstehen. Das Aufziehen von Kindern kann sich auf die eigenen Kinder, aber auch auf fremde beziehen. Bei den Fremden, die beherbergt wurden, müssen nicht unbedingt reisende Missionare gewesen sein, obwohl natürlich an solche in besonderem Maße zu denken ist. Die Fußwaschung kann an allen „Heiligen“, also Christen, erfolgt sein. Und die Bedrängten, denen beigestanden wurde, sind nicht unbedingt Missionare in einer Gefahrensituation. Natürlich ist am ehesten an Christen, speziell Missionare, die wegen ihres Glaubens verfolgt wurden, zu denken, aber auch Beistand in profanen Situationen der Bedrängnis ist nicht ausgeschlossen.

Warum eine voreilige Einengung der Bedeutung der allgemeinen Formulierungen nicht angebracht ist, lässt sich am Beispiel des Waschens der Füße von „Heiligen“ zeigen: „Heilige“ sind zunächst einmal alle Christen. Es gibt also keinen Grund, nur oder in erster Linie Missionare als Heilige anzusehen. Und dass unter „Heiligen“ besonders vorbildlich lebende oder wundertätige Christen verstanden wurden, ist eine spätere Entwicklung. Auch eine Unterscheidung von heiligen, weil geweihten Klerikern und dem gewöhnlichen Kirchenvolk kann nicht in die frühchristliche Zeit projiziert werden. Das Waschen der Füße ist eine Handlung, die Nächstenliebe und Demut ausdrückt. Natürlich kann es auch eine Wohltat für die schmutzigen und vielleicht auch geschundenen Füße wandernder Missionare sein, mit der Gastfreundschaft ausgedrückt wird. Und natürlich kann es auch im Sinne der Ehrerbietung oder gar Unterwerfung (beachte das Unten der waschenden Person und das Oben der Person, deren Füße gewaschen werden!) gegenüber Würdenträgern verstanden werden. Diese Bedeutungen sind jedoch zweitrangig bzw. auf bestimmte Situationen bezogen oder betreffen spätere Epochen der Geschichte.


Weiterführende Literatur: Laut U. E. Eisen 1996, 163-167 handele es sich bei dem Kriterienkatalog für Witwen, die eingetragen werden sollen, um Motive, die hellenistischen Berufspflichtenlehren entlehnt worden seien.


Laut E. Schüssler Fiorenza 1983, 294-315 sei in den Pastoralbriefen (vgl. Apg 6ff.) eine Aufsplittung zwischen rechtgläubiger Lehre und rechtgläubiger Praxis festzustellen. Die rechte Lehre und die Überlieferung der Tradition werde den Männern aufgetragen, wogegen das rechte Handeln („gute Werke“) den Frauen aufgetragen werde.


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V. 11/12


Beobachtungen: Das Alter der „jüngeren Witwen“ wird zwar nicht ausdrücklich genannt, ist aber wohl im Sinne von „unter 60 Jahre alt“ zu verstehen. Dieses ist nämlich gemäß V. 9 das Mindestalter der Witwen, die eingetragen werden. Wenn man für die „jüngeren Witwen“ ein niedrigeres Höchstalter ansetzt, entsteht eine dritte Gruppe Witwen mittleren Alters, die zwischen diesem Höchstalter und 60 Jahren liegt. Eine solche Gruppe kommt aber nicht in den Blick und es würde sich somit die Frage stellen, wie mit dieser Gruppe umgegangen werden soll.


Das Verb „katastrêniaô“ kommt nur in 1 Tim 5,11 vor, sonst nirgends, weder an einer anderen Stelle des NT oder der Septuaginta und auch nicht in der sonstigen griechischen Literatur. Somit ist die Bedeutung vom Verb „strêniaô“ und vom Substantiv „strênos“ herzuleiten. Das Verb „strêniaô“ bedeutet „üppig / im Überfluss leben“ oder „sinnlichen Trieben folgen“. Das Präfix „kata“ bedeutet „wider/gegen“. Das Substantiv „strênos“ bedeutet „Begierde“, „Lust“, „Anmaßung“ oder „Luxus“. Bei dem Verb „katastrêniaô“ klingen also sinnliche Triebe, Anmaßung und Luxus an, wobei erstere beide Aspekte im Vordergrund stehen dürften. Das Streben der eingeschriebenen „jüngeren Witwen“ nach einer erneuten Heirat wird von „Paulus“ also auf Übermut/Anmaßung und auf sinnliche Triebe zurückgeführt. Übermütig bzw. anmaßend ist das Streben aus seiner Sicht wohl insofern, als es dem Witwenstand widerspricht, und mit sinnlichen Trieben ist es verbunden, weil die Ehe in der Antike an erster Stelle der Zeugung legitimer Nachkommen diente und folglich mit Sexualität verbunden wurde. Das Streben nach der erneuten Heirat wird als „wider/gegen Christus“ gegeißelt.


Eine erneute Heirat von „jüngeren Witwen“ wird negativ bewertet. Das „Urteil“ („krima“) ist offensichtlich ein negatives, also eine Verurteilung, das möglicherweise die Verdammnis nach sich zieht. Es wird nicht gesagt, wer das Urteil fällt. An erster Stelle ist an Gott zu denken, dann aber auch an Jesus Christus.


Dass die jüngeren Witwen ihren sinnlichen Trieben folgen und wieder heiraten, ist eigentlich normal und von V. 3-8 her gesehen auch nicht verwerflich. Ganz im Gegenteil: Eine erneute Heirat kann für die Versorgung der Witwe vorteilhaft sein. Wieso sollte die erneute Heirat also wider Christus sein? „Paulus“ lehnt ja selbst die Wiederheirat nicht ab, fordert sie sogar (vgl. V. 14). Widerspricht er sich hier, verliert in seinen Aussagen völlig den Überblick? Ist 1 Tim vielleicht gar kein zusammenhängender Brief von einem Autor, sondern eine Komposition aus verschiedenen Briefen von verschiedenen Verfassern mit verschiedenen Ansichten? Einen Ausweg aus der Verwirrung findet man am ehesten, wenn man sich bewusst macht, dass die V. 9-13 eine bestimmte Situation im Blick haben. „Wider Christus“ dürfte ein Gelübde im Blick haben, vermutlich das Gelübde, sich ganz Christus zu widmen. Mit dem Gelübde mag das Versprechen verbunden gewesen sein, nicht erneut zu heiraten. Vielleicht haben wir es mit einer Art Abmachung zwischen der Gemeinde und der Witwe zu tun: Die Witwe, die möglicherweise keine Nachkommen hat, wird von der Gemeinde versorgt. Dafür legt sie das Gelübde ab, sich ganz Christus zu widmen. Sie verzichtet auf eine erneute Heirat und stellt sich in den Dienst der Gemeinde und somit Jesu Christi.


Eine solche Abmachung, möglicherweise samt Gelübde, scheint aber nicht funktioniert zu haben. Manche Witwe unter 60 Jahren scheint den Drang verspürt zu haben, erneut zu heiraten. Das kann verschiedene Gründe gehabt haben, „Paulus“ macht „sinnliche Triebe“ dafür verantwortlich, was die enge Verbindung von Ehe und (legitimer) Sexualität erkennen lässt. Mit einer erneuten Heirat bricht die Witwe aber ihre „Treue“ („pistis“). Diese Treue kann sich auf das Gelübde, sich ganz Christus zu widmen, beziehen. Dieses Gelübde würde durch die erneute Heirat gebrochen. Sie kann sich aber auch auf die Treue dem ersten Ehemann gegenüber beziehen. Wenn die Ehe so verstanden wird, dass eine Ehe lebenslang gültig bleibt, auch wenn der Ehepartner stirbt, dann wird mit einer erneuten Heirat diese Treue gebrochen. Die lebenslange Gültigkeit der Ehe scheint „Paulus“ aber höchstens bei den Bischöfen und Diakonen und bei den eingetragenen Witwen anzunehmen, nicht bei anderen Christen, zu denen auch die nicht eingetragenen Witwen gehören. Andernfalls könnte er im Hinblick auf die nicht eingetragenen Witwen nicht die erneute Heirat fordern. Und schließlich kann der altgriechische Begriff „pistis“ auch als „Glaube“ gedeutet werden. Dann ist die Wiederheirat ein Verstoß gegen den Glauben, also die rechte Art, den Glauben zu leben.


Weiterführende Literatur: D. T. Thornton 2016, 119-129 geht der Frage nach, warum der Verfasser des 1 Tim der Einschränkung der Witwenversorgung so viel Aufmerksamkeit schenkt. Antwort: Die jüngeren Witwen seien durch die Irrlehrer in Ephesus getäuscht worden. So würden sie nun zur Verbreitung der Irrlehre beitragen. Durch die Unterstützung dieser Witwen unterstütze die Kirche indirekt die Verbreitung der Irrlehre, was dem Verfasser des 1 Tim ein Dorn im Auge sei.


J. Kügler 2011, 483-497 sieht in den „jungen Witwen“ Bräute Christi. Die V. 11-12 könnten nicht vom Autor des 1 Tim stammen, sondern müssten aus einer irgendwie normativen Tradition übernommen sein. Das zeige sich allein schon daran, dass für den Autor die Ehe das eigentliche Frauenideal darstelle, während hier die Ehe als Problem erscheine und als Treuebruch gegenüber Christus verurteilt werde. Vermutlich habe dem Autor des 1 Tim eine gemeindliche Witwenregel vorgelegen, die sich in den V. 3.5.9.11-12 finde. In der Gemeindetradition, aus der diese Witwenregel stamme, sei es möglich gewesen, dass auch Jungfrauen in den Witwenstand aufgenommen wurden (spiritualisierter Witwenbegriff). Die erste Treue müsse eine Art Jungfräulichkeitsgelübde gewesen sein.


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V. 13


Beobachtungen: „Zugleich“ meint sicherlich nicht „mit der erneuten Heirat“, denn eine erneute Heirat würde die Witwe wieder bei häuslichen Pflichten fordern. Zu Müßiggang findet sie nur Zeit, wenn sie einerseits noch vergleichsweise jung und noch nicht gebrechlich ist, andererseits keine häuslichen Pflichten hat. Wer für den Haushalt und möglicherweise auch das Aufziehen von Kindern sorgen muss, ist damit gut beschäftigt. „Zugleich“ meint also, dass eingetragene „jüngere Witwen“ zum einen erneut heiraten wollen, zum anderen Müßiggang treiben, anstatt die noch vorhandenen Kräfte sinnvoll einzusetzen. Zu Lebzeiten ihres Ehemannes waren die eingetragenen Witwen im Haushalt eingespannt. Nach dem Tod ihres Ehemannes lernen sie geradezu Müßiggang, weil sie keine richtigen Aufgaben mehr haben oder ihre Aufgaben nicht gewissenhaft durchführen, und anscheinend dennoch versorgt sind.


Die Formulierung „perierchomai tas oikias“ kann mit „in den Häusern herumlaufen“ oder „von Haus zu Haus laufen“ übersetzt werden. „Oikia“ kann zum einen das Haus als Gebäude bezeichnen, zum anderen die Hausgemeinschaft. Darüber hinaus ist möglich, dass ebenfalls das Haus als Versammlungsort der Gemeinde gemeint ist. Somit ergibt sich folgende Deutung von V. 13: Der Müßiggang verleitet die eingetragenen „jüngeren Witwen“ dazu, von Haus zu Haus zu laufen und Schwätzchen (oder auch ausgiebigere Gespräche) zu halten. Diese Schwätzchen können als unnützes Gerede verstanden sein, aber auch als neugierige Einmischungen in die Haushalte anderer Gemeindeglieder. Es kann in den Schwätzchen um Sexualität gehen, also um ein Thema, das die eingetragenen „jüngeren Witwen“ eigentlich nicht mehr oder nur ganz am Rande interessieren sollte. Und die eingetragenen „jüngeren Witwen“ können sich auch in Sachen Religion äußern und dabei versehentlich oder wissentlich Aussagen machen, die von der „paulinischen“ Theologie – also wie „Paulus“, der Verfasser des 1 Tim, paulinische Theologie versteht – abweichen. Werden diese Aussagen selbstbewusst und geradezu lehrend geäußert, dann können die eingetragenen „jüngeren Witwen“ geradezu Irrlehren verbreiten. Das wäre „leeres Geschwätz“, das keinerlei Heilsrelevanz hat, sondern vielmehr das Heil gefährdet (vgl. 1,6), zumal wenn es bei Gemeindeversammlungen geschieht. Sowohl die Einmischungen in andere Haushalte als auch Gespräche, die sich um Sexualität drehen, und religiöse Gespräche auf dogmatischen Abwegen können als „Gerede, das sich nicht gehört“ verstanden sein.

Es stellt sich die Frage, warum die Witwen eigentlich von Haus zu Haus liefen? Wollten sie nur quatschen, sich in anderer Leute Angelegenheiten einmischen und Irrlehren verbreiten oder hatten sie bestimmte Aufgaben zu erledigen, z. B. die Sorge für Kranke? Und überhaupt stellt sich auch die Frage, ob es tatsächlich die von „Paulus“ angedeuteten Missstände gab, oder ob es „Paulus“ nicht vielmehr darum ging, aus seiner Sicht allzu selbstbewusst auftretende und zu sehr in der Öffentlichkeit präsente Frauen zu „zähmen“, unterzuordnen und auf das eigene Haus zu beschränken.


Weiterführende Literatur: Mit den Lasterkatalogen in den Pastoralbriefen befasst sich R. F. Collins 2011, 7-31. Bei dem Lasterkatalog handele es sich um eine literarische Form, die oft von den antiken Moralphilosophen – insbesondere von den Stoikern und Kynikern - verwendet worden sei. Der Lasterkatalog zähle eine Vielzahl von Lastern auf, um diejenigen zu diskreditieren, deren Lebensstil die Moralphilosophen kritisierten. Auch in den Pastoralbriefen fänden sich Lasterkataloge (1 Tim: 5; 2 Tim: 1; Tit: 2). Entscheidend sei die Wirkung der gesamten Aufzählung, nicht die Bedeutung einzelner Laster. Von den vielen in den Pastoralbriefen aufgezählten Lastern handelten nur zwei von der Sexualität. Diese würden jeweils nur einmal erwähnt. Die Verfasser der Pastoralbriefe seien mehr an persönlichen Qualitäten als an abstrakten moralischen Aspekten interessiert. Meist seien die Laster als Adjektive oder Partizipien formuliert, seltener als Nomen.


J. Bassler 1984, 23-41 deutet 1 Tim 5,3-16 mit Blick auf das Streben nach sozialer Freiheit. Das frühe Christentum sei eine egalitäre Bewegung gewesen. In den Pastoralbriefen sei aber eine Wandlung der Kirche nach einem in der Gesellschaft verbreiteten hierarchischen und patriarchalen Muster zu erkennen. Die Pastoralbriefe ließen einen Rückzug von Frauen in einen Kreis Witwen erkennen, in dem der zölibatäre Lebensstil vor den patriarchalen Gesellschaftsstrukturen bewahrt habe. Als auch der Witwenstand an herkömmlichen Normen ausgerichtet worden sei, sei ein weiterer Rückzug in eine gnostisierende Häresie erfolgt. Diese habe die gemeinschaftliche Gleichheit bewahrt, wenn auch nicht die Reinheit der Lehre.


Laut L. K. Pietersen 2007, 19-35 habe in jüngerer Zeit eine Reihe Kommentatoren angenommen, dass die Frauen in irgendeiner Weise mit der falschen Lehre verbunden gewesen seien, was in einem gewissen Maße die negative Haltung des Verfassers des 1 Tim ihnen gegenüber erkläre. Oft werde angenommen, dass sich in 1 Tim 5,13 der Verfasser des 1 Tim einer stereotypen Darstellung der Frauen bediene, wie er auch seine Gegner in stereotyper Form beschreibe. L. K. Pietersen vertritt die These, dass 1 Tim 5,13 analog zu 2 Tim 3,6-8 zu lesen sei. Beide Texte seien auf dem Hintergrund magischer Praktiken in Ephesus zu verstehen. In diesem Zusammenhang sei „phlyaroi“ im Sinne von „die Unsinn reden“ und „periergoi“ im Sinne von „die magische Handlungen durchführen“ zu verstehen.


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V. 14


Beobachtungen: „Jüngere Witwen“ sollen nicht eingetragen werden und damit nicht zu dem Witwenstand gehören bzw. kein Witwenamt bekleiden. Stattdessen sollen sie ein Leben führen, wie andere Frauen auch. Das bedeutet auch, dass sie nach Möglichkeit wieder heiraten sollen. Die erneute Heirat lehnt „Paulus“ nur bei bereits eingetragenen „jüngeren Witwen“ ab. Da „Paulus“ die (erneute) Heirat nicht nur hinsichtlich der „jüngeren Witwen“, sondern auch hinsichtlich der anderen jüngeren Frauen wünscht, spricht er in V. 14 wohl nicht explizit von „jüngeren Witwen“, sondern von „Jüngeren“. Vorrangig dürften aber auch an dieser Stelle die „jüngeren Witwen“ im Blick sein.


Das Kindergebären gehört zur Bestimmung der Frauen (vgl. 2,15). In der Antike kam ihm besondere Bedeutung zu, weil die Nachkommen für die Eltern (und Großeltern) sorgen sollten und so eine Art „Rente“ darstellten. Eine Rentenversicherung gab es damals noch nicht. Die Kinder waren somit ein Beitrag zur Entlastung der Gemeinde, weil die Witwe von ihnen versorgt werden konnte und sollte und die Gemeinde damit nicht mit der Versorgung belastet wurde (vgl. 5,3-8).


Die wiederverheirateten Witwen und die Frauen im Allgemeinen werden nicht einfach nur als Hausfrauen dargestellt, die am Herd stehen und für die Familie kochen. Vielmehr führen sie den Haushalt, „regieren“ das Haus (oikodespotein). Dazu dürfte eine Vielzahl von Tätigkeiten gehört haben: Sie haben Kinder zur Welt gebracht, Kinder aufgezogen, für die Familie bzw. Hausgemeinschaft gekocht, für die notwendigen Lebensmittelvorräte gesorgt, das Geld für den Haushalt verwaltet und zugesehen, dass alle notwendigen Hausarbeiten verrichtet wurden. Dabei haben sie vermutlich auch die Sklaven angewiesen, bestimmte Aufgaben zu erledigen. Auch die Sklaven gehörten zur Hausgemeinschaft.


Fraglich ist, wer der „Widersacher“ („antikeimenos“) ist. Es kann sich um einen Menschen handeln, der die Christen diffamieren will und dazu einen Anlass sucht. Es kann sich aber auch um den Satan handeln. Dieser ist nach biblischem Verständnis zum einen Ankläger, der nach Gründen sucht, Menschen bei Gott anzuschwärzen. Zum anderen ist er ein Widersacher Gottes und auch des Menschen. Er will den Heilsplan Gottes verhindern und verführt die Menschen. Vermutlich haben wir es hier mit beiden Deutungen zu tun, denn die Kirche sieht sich ja im 1. und 2. Jh. n. Chr. in einer Verteidigungsposition gegenüber Juden, Heiden und Irrlehrern. Sie muss also zusehen, dass sie keinen Anlass zu übler Nachrede gibt. Dass die Christen – speziell die Christinnen – ihr „Haus“ recht führen, wird von „Paulus“ als Grundlage dafür verstanden, dass auch das „Haus“ Gottes recht geführt ist und in der griechisch-römischen Gesellschaft Anerkennung findet. Das ist auch im Hinblick auf die notwendige Ausbreitung des christlichen Glaubens wichtig. Insofern wird auch von den Bischöfen und Diakonen erwartet, dass sie ihrem eigenen „Haus“ gut vorstehen (3,4.12). Da die Bischöfe und Diakone männlich gedacht zu sein scheinen, wird deutlich, dass nicht nur Frauen „Häusern“ vorstanden, sondern auch Männer. Eine strenge Aufteilung in häusliche Herrschaft für die Frauen und außerhäusliche Herrschaft für die Männer scheint es nicht gegeben zu haben, zumindest findet sie sich nicht im 1 Tim. Es wird nur deutlich, dass Frauen nicht nur untergeordnet waren, sondern auch leitende Funktionen übernahmen, insbesondere im Hinblick auf den eigenen Haushalt.


Angesichts der Tatsache, dass die „jüngeren Witwen“, die wieder heiraten sollen, laut V. 9 bis zu 60 Jahre alt sein können, verwundert die Forderung des Kindergebärens. Frauen sind bei der Schwangerschaft natürliche Grenzen gesetzt und es kommt nur selten vor, dass sie im Alter von über 40 Jahren Kinder gebären. Überhaupt mussten sie die Strapazen des Kindergebärens erst mal überstehen und älter als 40 Jahre werden. Zudem konnte eine Frau auch schon unter 60 Jahren gebrechlich und nicht mehr in der Lage sein, den Haushalt zu führen. Wie kommt also „Paulus“ zu solchen scheinbar übermäßigen Forderungen? Entweder meint er mit den „jüngeren Witwen“ Witwen, die deutlich jünger als 60 Jahre sind. Dann stellt sich aber die Frage, was mit den Witwen ist, die nur wenig jünger als 60 Jahre sind und somit weder eingetragen werden sollen noch zu den „jüngeren Frauen“ gehören. Wahrscheinlicher ist, dass „Paulus“ alle Aufgaben aufzählt, die Frauen unter 60 Jahren gewöhnlich zukommen. Von diesen Aufgaben sollen sie diejenigen erfüllen, zu denen sie körperlich noch in der Lage sind. Es gilt also folgende Reihenfolge: Witwen, die selbst noch in der Lage sind zu versorgen, sollen dies tun. Wenn sie selbst versorgt werden müssen, sollen dies nach Möglichkeit die Kinder und Enkel tun. Nur wenn eine Witwe „wirkliche Witwe und vereinsamt“ ist, soll sie von der Gemeinde versorgt werden.


Wenn „jüngere Witwen“, die noch keine 60 Jahre alt sind, erneut heiraten, dann sind sie nicht mehr eines einzigen Mannes Frau, sofern man die Formulierung „eines einzigen Mannes Frau“ im Sinne der Einzigehe deutet. Folglich können sie, wenn sie dann im Alter von mindestens 60 Jahren wieder Witwe werden, nicht mehr in die Liste für die Versorgung seitens der Gemeinde eingeschrieben werden. Was passiert aber, wenn sie niemanden haben, der für sie sorgt, vielleicht weil sie unfruchtbar waren und somit keine Kinder und Enkel haben? Bleiben sie – auch seitens der Gemeinde - gänzlich unversorgt und müssen in ihrem Flehen auf Gott hoffen, dass irgendein Wunder geschieht und sich jemand – vielleicht sogar ein Nichtchrist - ihrer erbarmt? Weil solche Witwen nicht bei einer „gläubigen Frau“ (oder einem „gläubigen Mann“) im Haus wohnen, kann eine solche (oder ein solcher) nicht zur Versorgung aufgefordert werden (vgl. V. 16). Wenn man davon ausgeht, dass „Paulus“ alle Witwen versorgt wissen will, und zwar im Kreise der Christen, dann muss auch für die „wirklichen“, weil unversorgten Witwen ein Weg der Versorgung vorgesehen sein. Haben wir also davon auszugehen, dass nicht nur „wirkliche“ Witwen, die eingeschrieben wurden, ein Anrecht auf Versorgung der Gemeinde hatten? Das würde darauf hindeuten, dass die Einschreibung nicht ausschließlich für die Versorgung erfolgte, sondern auch als Aufnahme in den Witwenstand galt. Die Aufnahme kann als Würde verstanden worden sein oder als Bekleidung mit einem Amt.


Weiterführende Literatur: O. Lehtipuu 2017, 29-50 analysiert hinsichtlich 1 Tim 5,14 die Lesestrategien von drei antiken Autoren, die asketischen Idealen zugeneigt hätten: Tertullian, Johannes Chrysostomos und Epiphanius. Trotz der verschiedenen geographischen und historischen Situationen und trotz der Abweichungen hinsichtlich der Einstellungen offenbare die Art und Weise, wie sie den Vers lesen, Ähnlichkeiten – bei einigen Unterschieden.


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V. 15


Beobachtungen: In V. 15 erscheint der Satan ausdrücklich als Verführer, der die Christen vom rechten Weg abführt, sich selbst auf Abwegen nach. „Einige“ sind schon auf Abwege geraten, wobei nicht ausdrücklich gesagt, wer „einige“ sind. Bleiben wir bei 5,9-16, dann erscheinen die eingetragenen „jüngeren Witwen“, die ihren sinnlichen Trieben folgen, wieder heiraten wollen, untätig sind und von Haus zu Haus laufen als „einige“. Diese sollten nämlich nicht die „erste Treue“ brechen, sondern ihrem Witwenstand oder Witwenamt gemäß leben. Aber das scheint nicht zu funktionieren und der Satan daran seinen gehörigen Anteil zu haben. Wenn die eingetragenen „jüngeren Witwen“ reden, was sich nicht gehört, dann klingen auch Irrlehren an. Und von den Irrlehren lässt sich eine Brücke zu 1,3-7 schlagen, wo das Verhalten von Irrlehrern beklagt wird. Aus 1,6 geht hervor, dass die Irrlehrer – oder zumindest ein Teil von ihnen – zuvor die paulinische bzw. „paulinische“ Lehre gelehrt hat. Sie sind aber von ihr abgekommen und haben sich „leerem Geschwätz“ zugewandt. Auch die Irrlehrer sind somit auf Abwege geraten und reden, was sich nicht gehört. Das steht gemäß 1,4 dem „Verwalterdienst Gottes, der im Glauben geschieht“, entgegen. Der griechische Begriff für „Verwalterdienst“ ist „oikonomia“, der auch die „Hauswirtschaft“ bezeichnet. Die gute eigene Haushaltsführung, die gute Führung des „Hauses Gottes“, der Kirche, der rechte Glaube und die rechte Lehre hängen also eng zusammen.


Weiterführende Literatur: Zur Korrektur von Fehlverhalten angesichts der nahen oder überraschend kommenden Wiederkunft Christi siehe K. Erlemann 1995, 284.


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V. 16


Beobachtungen: Nicht nur die Kinder und Enkel sollen sich um Witwen kümmern (vgl. 5,4), sondern auch weitere Personen. Die Rede ist unbestimmt von einer „gläubigen Frau“. „Gläubig“ ist im Sinne von „an Jesus Christus glaubend“ zu verstehen. „Eine gläubige Frau“ ist somit eine beliebige Christin. Sie kann zu der Gemeinde der Witwe gehören, muss es aber nicht. Entscheidend ist nicht, wer genau diese „gläubige Frau“ ist, sondern dass die Gemeinde nicht unnötig belastet werden soll. Die Gemeinde soll für diejenigen Witwen sorgen, die wirklich Witwen sind. Das sind die Witwen, die niemanden haben, der für sie sorgt (vgl. die Beobachtungen zu 5,3-8). Wenn aber Witwen bei einer „gläubigen Frau“ sind, sollen sie von dieser versorgt werde. Die „gläubige Frau“ „hat“ Witwen, aber wo hat sie sie? Vermutlich ist „bei sich im Haus“ zu ergänzen. Aus V. 14 ist deutlich geworden, dass Frauen den Haushalt führen konnten und zu diesem Haushalt nicht nur die engste Familie gehörte, sondern eine ganze Hausgemeinschaft im Sinne einer Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft. Dazu können auch Witwen gehört haben. Dabei bleibt unklar, in welchem Verhältnis diese Witwen zu der Hausherrin standen. Sie können bekannt bzw. befreundet oder auch verwandt gewesen sein. Von der Gemeinde einfach zugewiesen scheinen die Witwen aber nicht worden zu sein, denn dann hätte es vermutlich keine Witwen mehr gegeben, die unversorgt waren. Schließlich haben wir davon auszugehen, dass es mehr christliche Haushalte als Witwen gab, die niemanden hatten, der für sie sorgte. „Jüngere Witwen“ sollten ja nach dem Willen des „Paulus“ wieder heiraten, weshalb unversorgte Witwen als mindestens 60 Jahre alt gedacht sein dürften. Auch wenn die Vorstellungen des „Paulus“ sicherlich noch nicht der Realität entsprachen, geben sie doch an, wie es in Zukunft sein sollte.

Der Plural „Witwen“ verwundert, denn wieso sollte eine „gläubige Frau“ bei sich im Haus mehrere Witwen haben? Entweder hat sie einen großen Bekannten- und/oder Verwandtenkreis oder es sind Witwen, die ganz natürlich im engeren Familienkreis anzunehmen sind. Dabei wäre am ehesten an die Mutter der Ehefrau (und Hausherrin) und an die Mutter des Ehemannes zu denken. Allerdings würde das voraussetzen, dass die Frauen im Durchschnitt nicht schon in frühem Alter, noch vor der Gebrechlichkeit starben. Wie auch immer: Es wird vorausgesetzt, dass die „gläubige Frau“ ausreichende Mittel für die Versorgung der zur Hausgemeinschaft gehörenden Witwen hat.

Dass sich „Paulus“ überhaupt genötigt sieht, auf die Verpflichtung der Versorgung der Witwen im Hause der gläubigen Frauen bzw. der gläubigen Männer und Frauen hinzuweisen, lässt annehmen, dass ihr nicht immer nachgekommen wurde. Vermutlich war die Versuchung groß, die finanzielle Last der Versorgung der zur Hausgemeinschaft gehörigen Witwen auf die Gemeinde abzuwälzen.


Eine Variante liest „gläubiger Mann oder gläubige Frau“ („pistos ê pistê“) statt „gläubige Frau“ („pistê“). Diese Variante lässt sich als Korrektur angesichts der Frage, warum nur eine „gläubige Frau“ und nicht auch ein „gläubiger Mann“ eine bei sich im Haus lebende Witwen versorgen sollte, verstehen. Möglicherweise liegt der Variante auch die Vorstellung zugrunde, dass eine leitende Funktion und Verwaltung von Geld eher dem Mann als der Frau zukommen.

Bemerkenswert ist, dass ohne Variante von „Witwen“ die Rede ist. Was ist mit den Witwern, die betagt und gebrechlich waren? Bedurften sie nicht auch der Versorgung? Warum ist von ihnen nicht die Rede?


Weiterführende Literatur:



Literaturübersicht


Back, Christian; Die Witwen in der frühen Kirche, Frankfurt a. M. 2015

Bassler, Jouette M.; The Widows' Tale: A Fresh Look at 1 Tim 5:3-16, JBL 103/1 (1984), 23-41

Collins, Raymond F.; How Not to Behave in the Household of God, LS 35/1-2 (2011), 7-31

Edwards, Benjamin G.; Honor True Widows: 1 Timothy 5:3-16 with Implications for the Church's Social Responsibilities, DBSJ 21 (2016), 87-105

Erlemann, Kurt; Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament: ein Beitrag zur Frage religiöser Zeiterfahrungen (TANZ 17), Tübingen – Basel 1995

Kügler, Joachim; Junge "Witwen" als Bräute Christi (1 Tim 5,11f.). Der Gender-Impuls der Jesus-Tradition und seine Umsetzung in paulinischen Gemeinden vor dem religionsgeschichtlichen Hintergrund religiös motivierter Ehelosigkeit von Frauen, in: U. Busse u. a. [Hrsg.], Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung (BBB 166), FS R. Hoppe, Göttingen - Bonn 2011, 483- 497

Lehtipuu, Outi; To Remarry or Not to Remarry? 1 Timothy 5:14 in Early Christian Ascetic Discourse, ST 71/1 (2017), 29-50

MacDonald, Margaret Y.; The Power of Children: The Construction of Christian Families in the Greco-Roman World, Waco, Texas 2014

Pietersen, Lloyd K.; Women as Gossips and Busybodies? Another Look at 1 Timothy 5:13, LexTQ 42/1 (2007), 19-35

Schüssler Fiorenza, Elisabeth; In Memory of Her: A Feminist Theological Reconstruction of Christian Origins, London 1983

Sommer, Michael; Witwen in 1 Tim 5: Eine subkulturelle Annäherung aus der Perspektive der Schriften Israels und ihrer Auswirkungen auf das frühe Christentum, ASEs 32/2 (2015), 287-307

Standhartinger, Angela; „Wie die verehrteste Judith und die besonnenste Hanna.“ Traditionsgeschichtliche Beobachtungen zur Herkunft der Witwengruppen im entstehenden Christentum, in: F. Crüsemann u. a. [Hrsg.], Dem Tod nicht glauben, FS L. Schottroff, Gütersloh 2004, 103-226

Thornton, Dillon T.; "Saying What They Should Not Say": Reassessing the Gravity of the Problem of the Younger Widows (1 Tim 5:11-15): JETS 59/1 (2016), 119-129

Tsuji, Manabu; Zwischen Ideal und Realität: Zu den Witwen in 1 Tim 5.13-16, NTS 47/1 (2001), 92-104

Wagener, Ulrike; Die Ordnung des „Hauses Gottes“. Der Ort von Frauen in der Ekklesiologie und Ethik der Pastoralbriefe (WUNT II/65), Tübingen 1994

Wagener, Ulrike; Verschwenderische Fülle oder haushälterische Vernunft? Oikonomia Gottes, christliche Existenz und Geschlechterdifferenz im frühen Christentum, in: E. Klinger, S. Böhm, T. Franz [Hrsg.], Haushalt, Hauskult, Hauskirche, Würzburg 2004, 79-105

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