Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Galaterbrief

Der Brief des Paulus an die Galater

Gal 4,12-20

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Gal 4,12-20



Übersetzung


Gal 4,12-20:12 Werdet wie ich, denn auch ich [bin] wie ihr, Geschwister, ich bitte euch! Ihr habt mir nichts zuleide getan: 13 Ihr wisst doch, wie ich euch, krank am Körper, das erste Mal verkündigt habe. 14 Und die Versuchung, die an meinem Leibe für euch bestand, habt ihr nicht verachtet und nicht ausgespuckt, sondern ihr habt mich wie einen Engel angenommen, wie Jesus Christus [selbst]. 15 Wo bleibt also eure Seligpreisung? Ja, ich bezeuge euch, dass ihr, wäre es möglich gewesen, euch die Augen ausgerissen und sie mir gegeben hättet. 16 Bin ich also euer Gegner geworden, weil ich euch die Wahrheit gesagt habe? 17 Sie eifern nicht in guter Weise um euch, sondern sie wollen euch abschließen, damit ihr um sie eifert. 18 Gut aber ist es, allezeit im Guten umworben zu werden, und nicht nur dann, wenn ich bei euch anwesend bin, 19 meine Kinder, um die ich erneut Geburtswehen erleide, bis Christus in euch Gestalt gewinnt. 20 Ich wünschte aber, jetzt bei euch anwesend zu sein und meine Stimme zu verwandeln, denn ich bin euretwegen ratlos.



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V. 12


Beobachtungen: Paulus wendet sich wieder direkt an die Adressaten und fordert sie auf, so zu werden wie er. Was zunächst so aussieht, als würde Paulus sich in jeder Hinsicht als Vorbild hinstellen, ist auf dem Hintergrund der Aussagen 3,1-4.11 zu verstehen. Demnach haben sich die Galater aufgrund des Verkündigungswirkens des Apostels zu Christus bekehrt und den Geist empfangen. Damit kommt auch all ihr Heil vom sündenvergebenden Kreuzestod Christi her, sodass sie sich nicht mehr penibel an die Satzungen und Gebote der hebräischen Bibel (= AT) halten brauchen. Die Satzungen und Gebote dienten nur dem Sündenaufweis und waren auf Jesus Christus hin ausgerichtet. Nun haben sie ihre normative Bedeutung für das Leben des Gottesvolkes verloren und die Christen sind von ihnen frei. Eine Rückkehr von der Freiheit in die Gesetzlichkeit kommt nicht in Frage.

Wenn Paulus die Adressaten dazu auffordert, so zu werden wie er selbst, dann bezieht sich Paulus konkret auf seine Mündigkeit, seine Freiheit vom Gesetz. Hinsichtlich dieser Freiheit ist er wie die Adressaten, die ja mehrheitlich Heidenchristen sind (vgl. Gal 4,8; 5,2-3; 6,12-13) und damit nie dem Gesetz unterworfen waren. Dadurch, dass die Adressaten von Predigern, die zum Halten der jüdischen Satzungen und Gebote mahnen, eingenommen werden, geben sie die Freiheit vom Gesetz zugunsten der Gesetzlichkeit auf. So kommt es, dass ihnen der Jude Paulus, der seine Gesetzlichkeit infolge seiner Bekehrung zu Christus aufgegeben hat, ihre Freiheit von dem jüdischen Religionsgesetz wieder einschärfen muss.


Dass die Adressaten nicht ihm selbst, der die Freiheit vom Gesetz predigt, sondern seinen Konkurrenten, die von allen Christen das Halten der jüdischen Satzungen und Gebote fordern, folgen, verwundert Paulus insbesondere deshalb, weil die Galater willig von ihm das Evangelium empfangen und sich zum Christentum bekehrt haben (vgl. 3,1-5). Diese Willigkeit drückt sich in der Aussage aus, dass die Adressaten ihm nichts zuleide getan haben. Stattdessen sind die Adressaten und Paulus „Geschwister“.

„Geschwister“ meint hier nicht „leibliche Geschwister“, sondern Glaubensgeschwister, nämlich Christinnen und Christen. Bei dem Substantiv „adelphoi“ handelt es sich zwar um eine maskuline Form, die zunächst mit „Brüder“ zu übersetzen ist, jedoch sind hier vermutlich auch die „Schwestern“ eingeschlossen. Dass diese unkenntlich bleiben, liegt an der männerzentrierten Sprache, die gemischtgeschlechtliche Gruppen als reine Männergruppen erscheinen lässt.


Weiterführende Literatur: T. Witulski 2000 befasst sich eingehend mit der Frage, wer die Adressaten des Galaterbriefes sind. In diesem Rahmen gibt er auch einen ausführlichen Überblick über die seitens der Forschung vorgebrachten verschiedenen Deutungen der Formulierung „stoicheia (tou kosmou)“ („Elemente [der Welt]“; 4,9). Ergebnis: Bei dem Galaterbrief handele es sich in Wirklichkeit um zwei Briefe oder Briefabschnitte, und zwar zum einen um 4,8-20 und zum anderen um die übrigen Bestandteile des uns heute vorliegenden Galaterbriefes. Sei nun aber 4,8-20 an im Süden der Provinz lebende Christen gerichtet, so folge schon aus redaktionstechnischen Erwägungen, dass auch die übrigen Bestandteile des uns heute vorliegenden Galaterbriefes an die dortigen Christen adressiert gewesen sein müssen. Ein nachpaulinischer Redaktor habe die beiden Briefe oder Briefabschnitte in Archiven von Gemeinden im Süden der Provinz Galatia gefunden und sie zum heute vorliegenden ntl. Galaterbrief zusammengefasst.


T. W. Martin 2001, 181-202 betont den emotionalen Charakter von 4,12-20. Er untersucht den Abschnitt insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Kriterien, die Aristoteles in seiner „Rhetorik“ im Hinblick auf emotionale Überzeugung aufgestellt hat, und versucht so zu zeigen, dass 4,12-20 als pathetische Überzeugungsrede zu verstehen sei.


F. J. Long 1998, 99-114 versucht zu zeigen, dass mit der Sarah/Hagar-Allegorie (4,21-31) der Widerlegungsabschnitt beginne, der sich über die Kapitel 5-6 erstrecke. 4,12-20 stelle einen Übergang von der Hauptargumentation (3,6-4,7) hin zum Widerlegungsabschnitt dar.


L. M. White 2003, 307-349 legt dar, dass der Abschnitt 4,12-20 dem Freundschafts-Topos entstamme. Es handele sich nicht um einen nebenher geäußerten, emotionalen Ausbruch oder um einen rhetorischen Kunstgriff, sondern um eine der wesentlichen Anklagen, die Paulus gegen die galatischen Bekehrten angesichts ihrer Verfehlungen gegenüber den Erfordernissen der Freundschaft und des Patronats vorbringt. Der Abschnitt könne als einer der wichtigen rahmenden Bestandteile des gesamten Briefes betrachtet werden. Es sei jedoch nötig zu verstehen, wie sich der Freundschafts-Topos in die paulinische rhetorische Strategie einfügt. Dementsprechend untersucht L. M. White zum einen, wie Paulus diesen Abschnitt des Briefes rahmt und wie die Freundschaftsmotive gebraucht werden.

Zu den verschiedenen Aspekten der Freundschaft insbesondere im Hinblick auf Gal 4,12-20 siehe A. M. Buscemi 1984, 67-108.


T. W. Martin 1999, 123-138 hält den Satzbau von V. 12 für zweideutig: Das Pronomen „ouden“ („nichts“) könne als Akkusativ der Beziehung mit „êdikêsate“ („ihr habt mir zuleide getan“) verbunden oder aber als Objekt von „deomai“ („ich bitte“) angesehen werden. Das Pronomen „kagô“ („auch ich“) sei ebenso zweideutig, denn es sei das Subjekt entweder eines elliptischen Verbs oder von „deomai“. In beiden Fällen sei letztere Deutung zu bevorzugen. Die Übersetzung von V. 12 laute also: „Become as I am because I, in as much as you are brothers, need nothing from you. You wronged me.”


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V. 13


Beobachtungen: Diese Willigkeit bei der Aufnahme des Evangeliums sieht Paulus keineswegs als selbstverständlich an. So erinnert er daran, wie er „das erste Mal“ verkündigt hat, wobei er das Wissen der Adressaten voraussetzt. Die Adressaten dürften das Gründungsgeschehen also persönlich miterlebt haben.


Aus V. 13 ist zu schließen, dass Paulus persönlich bei den Galatern das Evangelium verkündigt hat (vgl. Apg 13,13-14,27). Die Formulierung „das erste Mal“ lässt darauf schließen, dass es auch noch mindestens ein zweites Mal gegeben hat. Dann hätte Paulus einige Zeit nach seinem Gründungsaufenthalt den galatischen Gemeinden einen weiteren Besuch abgestattet, diesmal als ihr Gründungsvater und nicht als fremder Missionar. Von zwei persönlichen Aufenthalten des Apostels in Galatien weiß auch die Apostelgeschichte (vgl. 16,6; 18,23). Die Formulierung „das erste Mal“ kann aber auch so gedeutet werden, dass Paulus von einer früheren Zeit im Gegensatz zur Gegenwart spricht (vgl. zu dieser Bedeutung von „to proteron“ Joh 6,6; 9,8), ohne dass von einem zweiten Mal auszugehen ist.


Die Verkündigung, die „das erste Mal“ erfolgte, geschah „di’ astheneian tês sarkos“. Die Formulierung „astheneia tês sarkos“ ist wörtlich mit „Schwäche des Leibes“ zu übersetzen. Die Schwäche ist zunächst als Kraftlosigkeit zu verstehen, wobei im Hinblick auf Paulus von einer Krankheit auszugehen ist. In 2 Kor 12,7-9 erwähnt Paulus nämlich, dass ihm ein „Dorn/Pfahl ins Fleisch“ gegeben sei. Dieser „Dorn/Pfahl im Fleisch“, der am ehesten die Bezeichnung für eine schmerzhafte körperliche Krankheit sein dürfte, ist für seine Schwäche verantwortlich.

Ob die Präposition „dia“ hier tatsächlich im kausalen Sinne („wegen“) zu verstehen ist und den Grund für das missionarische Tun des Apostels bei den Galatern angibt, ist fraglich. Denn wieso sollte eine körperliche Schwäche/Krankheit den Anlass für die Mission bei den Galatern gegeben haben? Wahrscheinlicher ist, dass die Präposition hier den begleitenden Umstand der Mission bei den Galatern angibt, d. h. die Mission ist bei körperlicher Schwäche/Krankheit erfolgt.


Weiterführende Literatur: Gemäß T. W. Martin 1999, 74, 65-91 sei die gängige Auslegung von Gal 4,13-14 wie folgt: Die Formulierung „astheneian tês sarkos“ („Schwäche des Leibes“) bezeichne eine Krankheit und beschreibe Paulus‘ Zustand, der Grund oder Gelegenheit seiner Evangeliumsverkündigung den Galatern gegenüber gewesen sei. Die „astheneia tês sarkos“ habe den „peirasmon hymôn en tê sarkí mou“ („eure Versuchung an meinem Fleisch“) hervorgebracht. T. W. Martin dagegen legt die Verse wie folgt aus: Paul habe bei den Galatern wegen der Schwäche ihres - nicht seines eigenen! – Leibes verkündigt. Die Galater hätten Paulus‘ Evangelium akzeptiert und der Versuchung widerstanden, ihn wegen seiner Beschneidung zu verachten und zurückzuweisen.


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V. 14


Beobachtungen: Auf die körperliche Schwäche/Krankheit hätten die Galater mit Verachtung reagieren können. Somit stellte die körperliche Schwäche/Krankheit für die Galater eine Versuchung dar. Wären die Galater ihr erlegen, hätten sie nicht den Glauben an das mit Christus verbundene Heilsgeschehen angenommen und hätten dementsprechend auch nicht das mit diesem Glauben verbundene Heil erlangt.


Die Versuchung - gemeint ist hier sicherlich die als Versuchung angesehene körperliche Schwäche/Krankheit - haben die Galater nicht verachtet oder ausgespuckt, wobei das Ausspucken in der Antike sowohl eine Geste der Verachtung als auch der Abwehr war. Im Hinblick auf den Apostel hätte das Ausspucken eine Abwehrhaltung gegenüber seiner körperlichen Krankheit/Schwäche signalisiert, die möglicherweise auf das Wirken von Dämonen zurückgeführt wurde.


Paulus wurde bei seinem ersten Aufenthalt in den galatischen Gemeinden jedoch nicht mit einer solch abwehrenden Haltung konfrontiert, sondern wie ein Engel Gottes oder Jesus Christus persönlich aufgenommen. Die Galater waren also für seine Botschaft trotz seiner Schwäche/Krankheit offen. Sie haben anscheinend von dem Apostel erwartet, dass er das wahre Evangelium predigt, denn von einem „Engel/Gesandten Gottes“ („angelos theou“) ist keine menschliche Verfälschung zu erwarten, erst recht nicht von Jesus Christus persönlich.


Weiterführende Literatur: J. Murphy-O’Connor 1998, 202-207 geht davon aus, dass Paulus‘ Krankheit nur auf eine relativ geringe Anzahl Menschen zur gleichen Zeit eine Auswirkung gehabt habe. Dass sie ihn warm empfangen haben, sei eine gemeinschaftliche Aktion gewesen. Folglich sei unmöglich, dass es sich bei den „Gemeinden Galatiens“ um weit verstreute Gemeinden handelte, wie die Südgalatien-Hypothese (= Provinzhypothese) und bestimmte Versionen der Nordgalatien-Hypothese (= Landschaftshypothese) voraussetzen. (Zu den Hypothesen siehe Beobachtungen zu Gal 1,2.)


A. J. Goddard, S. A. Cummins 1993, 93-126 setzen sich kritisch mit der Annahme auseinander, dass eine nicht weiter konkretisierte Krankheit den Hintergrund der Formulierungen 4,12-20 bilde. Sie merken an, dass nur aus V. 13-14 auf eine Krankheit geschlossen werden könne. Wahrscheinlicher sei, dass die Formulierungen von den Konflikten und der Verfolgung während der ersten Mission in Galatien geprägt sind. Paulus‘ Verkündigung der Gesetzesfreiheit sei auf Widerstand gestoßen, doch hätten die Galater ihn trotzdem akzeptiert.


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V. 15


Beobachtungen: Die „Seligpreisung“ („makarismos“) enthält zwei Aspekte: Zum einen denjenigen des rechten Verhältnisses zu Gott, zum anderen denjenigen des Wohlergehens/Heils, das aus dem rechten Verhältnis zu Gott entspringt.


Unklar ist, ob es sich bei der Formulierung „eure Seligpreisung“ um einen genitivus obiectivus oder um einen genitivus subiectivus handelt. In ersterem Fall wären die Adressaten (von Gott oder Jesus Christus) selig gepriesen worden, in letzterem Fall hätten sie selbst (sich selbst oder Paulus) selig gepriesen. Die Seligpreisung von Seiten Gottes oder Jesu Christi wäre erfolgt, weil sie Paulus wie einen Engel/Gesandten Gottes oder Jesus Christus persönlich aufgenommen haben. Dass mit einer solchen Aufnahme Segen verbunden ist, geht insbesondere aus Mt 25,31-46 hervor. Sich selbst hätten sie aus Freude darüber, dass ein Verkündiger des Evangeliums Jesu Christi zu ihnen gekommen ist, gepriesen. Man kann aber auch aus dem früheren Verhalten der Adressaten schließen, dass auch in der Gegenwart eine wohlwollende Aufnahme des Apostels und seiner Lehre zu erwarten ist. Dann wäre es der Apostel, dem die Seligpreisung galt und auch weiterhin gelten sollte. Da die Adressaten nun aber nicht mehr Paulus folgen, sondern seinen judaistischen Konkurrenten, weisen sie gegenwärtig den Apostel und seine Lehre ab, womit ihnen zum einen von Gott (oder: Jesus Christus) keine Seligpreisung mehr zukommt und sie zum anderen weder sich selbst noch Paulus selig preisen. Die Aspekte beider Bezüge von „eure Seligpreisung“ bedingen einander, weshalb eine Entscheidung für den einen oder den anderen Bezug nur schwer möglich und vielleicht auch nicht angemessen ist.


Die Offenheit der Adressaten ging damals so weit, dass sie sogar zu großen Opfern bereit gewesen wären: Sie hätten ihre Augen geopfert und sie Paulus gegeben. Eine solche Übergabe hätte jedoch das - laut Paulus unmögliche - Herausreißen (oder auch: Ausstechen) der Augen erfordert. Ob die Übergabe der Augen auf eine Augenkrankheit des Apostels, eben den „Dorn/Pfahl im Fleisch“ (vgl. 2 Kor 12,7), hinweist, ist fraglich. Sollte dies der Fall sein, so wäre ausgesagt, dass die Adressaten Paulus als Hilfe sogar ihre Augen geschenkt hätten, wenn es ihnen möglich gewesen wäre. Sicher lässt sich nur sagen, dass das Geschenk der Augen eine Geste der Zuneigung ist. Dabei scheint den Augen ein besonderer Wert zuzukommen.


Weiterführende Literatur: Gemäß J. Lambrecht 1987, 156 werde nur in Röm 7,7 und Gal 4,15 (sowie Gal 2,21) das Verb in der Apodosis der unrealen Form nicht von einem „an“ begleitet. Angesichts dieses Befundes sei es keineswegs als ungewöhnlich zu werten, dass Paulus das „an“ in seinem eher seltenen Gebrauch der unrealen Form beibehält.


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V. 16


Beobachtungen: Das gegenwärtig abweisende Verhalten der Adressaten ihm und seiner Lehre gegenüber kann sich Paulus nur so erklären, dass er ihr Gegner geworden ist. Doch wieso hätte er als ihr Gemeindegründer ihr Gegner werden sollen? Da er die „Wahrheit“ gesagt hat und sagt - der Bezug auch auf die Gegenwart geht aus dem Gebrauch eines Partizip Präsens statt eines Partizip Aorist hervor -, kann der Grund nur das Sagen der „Wahrheit“ sein.


Was ist mit der „Wahrheit“ gemeint? Zunächst einmal kann es sich dabei nur um das Evangelium handeln, das Paulus unverfälscht verkündigt hat. Da es Paulus im Galaterbrief in erster Linie darum geht, den Adressaten einzuschärfen, dass das Heil nicht aus dem genauen Halten der jüdischen Satzungen und Gebote, sondern aus dem sündenvergebenden Tod und der Auferstehung Jesu Christi entspringt, dürfte sich die „Wahrheit“ konkret auf den wesentlichen Inhalt des Evangeliums beziehen, dass alles Heil von Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi zu erwarten ist und die Christen somit von der Verpflichtung, die jüdischen Satzungen und Gebote zu halten, befreit sind (vgl. 2,1-5; 5,1-7).


Ob die galatischen Christen tatsächlich Paulus als Gegner ansehen, lässt sich nicht sagen. Paulus erklärt sich deren Verhalten nur mittels einer solchen Annahme. Sollte diese Annahme tatsächlich zutreffen, so wäre offen, inwieweit eine solch negative Wandlung des Verhältnisses Paulus gegenüber auf die Einflussnahme der judaistischen Prediger zurückzuführen ist. Dass Paulus den galatischen Christen überhaupt noch schreibt, ist ein Hinweis darauf, dass die Verbindung zwischen ihnen und dem Apostel nicht völlig zerrüttet ist. Sie sind für seine Worte zumindest in einem Mindestmaß noch offen und Paulus redet sie immerhin als „Geschwister“ an.


Weiterführende Literatur:


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V. 17


Beobachtungen: In V. 17 spricht Paulus nun von seinen Widersachern, den judaistischen Predigern, die in Konkurrenz zu ihm wirken und das Halten der jüdischen Satzungen und Gebote auch von den mehrheitlich heidenchristlichen Galatern fordern. Paulus nennt sie nicht ausdrücklich, sondern er spricht nur davon, was sie tun:

Die Widersacher eifern, und zwar um die galatischen Christen. Sie sind also eifrig bemüht, diese für sich zu gewinnen und sie so von einer Gemeinschaft abzutrennen. Von wem die Umworbenen abgetrennt werden, wird nicht gesagt, doch ist anzunehmen, dass es sich um die Gemeinschaft der Christen handelt, die das Halten der Satzungen und Gebote nicht als Voraussetzung für ihr Christsein ansieht. Der Eifer der Widersacher ist selbstsüchtig, denn er dient laut Paulus nur dazu, dass die für sich gewonnenen galatischen Christen nun um die judaistischen Prediger eifern. Ein solcher Eifer lässt sich damit erklären, dass die Gewonnenen aufgrund ihres Sinneswandels von der Lehre der judaistischen Prediger abhängig werden und die Verkündigung des Paulus keine Rolle mehr spielt. Einen solch eigensüchtigen Eifer seiner Widersacher hält der Apostel nicht für gut.


Weiterführende Literatur:


Dass die Welt von einer Vielzahl übernatürlicher Kräfte, die einander widerstreiten, bevölkert wird, sei gemäß B. W. Longenecker 1999, 92-108 in der Antike ein weit verbreiteter Glaube gewesen. B. W. Longenecker untersucht die Verbindung zwischen bestimmten spirituellen Kräften und bestimmten Charakterformen, wie sie u. a. in 4,12-20 zu erkennen sei. In diesem Licht würden die Aufrührer negativ und Paulus positiv dargestellt, während die Galater als von der Gefahr bedroht erschienen, von einem Milieu zum anderen überzugehen.


C. C. Smith 1996, 480-499 vertritt die These, dass Paulus in V. 17 das Motiv und die Sprache des „ausgeschlossenen Liebhabers“ – eines in der klassischen und hellenistischen Literatur weit verbreiteten Motivs – verwende, um die galatischen Gemeinden vor der Unaufrichtigkeit der beeinflussenden Gegner zu warnen.


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V. 18


Beobachtungen: Dem unguten Eifer stellt Paulus den Eifer „im Guten“ gegenüber, wobei jedoch unklar ist, wer „im Guten“ umworben werden soll. Es kann der Eifer des Apostels um die Adressaten, aber auch der Eifer der Adressaten um Paulus gemeint sein.


Paulus schreibt nicht, was unter dem Eifer „im Guten“ zu verstehen ist. Es lässt sich nur negativ aussagen, dass er die Galater nicht abschließt und keine eigennützigen Ziele verfolgt. Positiv ausgedrückt bedeutet das, dass die Gemeinschaft - im Blick ist vermutlich die Gemeinschaft der Christen - erhalten bleiben und die Predigt das Evangelium als Inhalt haben soll. Das Heil aller Gläubigen ist das oberste Ziel, nicht der weltliche Eigennutz. Für das Verhalten der galatischen Gemeindeglieder wiederum bedeutet dies, dass sie nach dem Evangelium streben und die wahren Verkündiger des Evangeliums wie Paulus umwerben sollen.


Dieser Eifer „im Guten“ soll nicht nur auf die Zeit begrenzt sein, in der Paulus bei den Adressaten anwesend ist. Diese Forderung kann zu einen besagen, dass die Adressaten dauerhaft für das Evangelium gewonnen werden sollen und nicht nur in der Zeit, in der Paulus bei ihnen anwesend ist. Zum anderen kann aber auch gemeint sein, dass Paulus, der sich als wahrer Verkündiger des Evangeliums ansieht, von den Adressaten nicht nur dann Zuneigung erwartet, wenn er anwesend ist.


Weiterführende Literatur:


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V. 19


Beobachtungen: Als Gründer und damit Vater der galatischen Gemeinden kann Paulus die Adressaten mit „meine Kinder“ anreden und so sein besonderes Verhältnis zu ihnen ausdrücken. Weil die „Kinder“ von der Gesetzlichkeit vereinnahmt werden oder gar schon vereinnahmt worden sind, muss Paulus sie erneut für das Evangelium gewinnen. Ein solches Werben erfolgt unter Belastungen, die Paulus als „Geburtswehen“ bezeichnet. Der Gebrauch dieses Begriffs lässt den Apostel als Mutter und nicht als Vater der Gemeinden erscheinen. Geburtswehen sind vor allem von körperlichen Schmerzen geprägt. So kann es sein, dass Paulus bei dem Begriff an die körperlichen Anstrengungen und Leiden, die mit der Mission verbunden sind, denkt. Allerdings bringen Geburtswehen auch seelische Belastungen mit sich. Da Paulus gegenwärtig im Hinblick auf die galatischen Gemeinden weniger körperliche als seelische Belastungen zu ertragen hat, dürfte dieser Aspekt eine besondere Rolle spielen.


Während der Geburtswehen ist offen, ob die Geburt gelingt. Das bedeutet in geistlicher Hinsicht, dass auch die galatischen Gemeindeglieder noch nicht sicher für das Evangelium zurückgewonnen sind. Die „Geburt“ ist erst dann erfolgt, wenn Christus in ihnen Gestalt gewonnen hat, d. h. wenn sie ihr Heil wieder ausschließlich auf den sündenvergebenden Kreuzestod Christi und auf die Überwindung des Todes, die Auferstehung, setzen. Solange sie ihr Heil von dem sorgfältigen Halten der jüdischen Satzungen und Gebote erhoffen, hat Christus in ihnen noch keine Gestalt angenommen. Da es Paulus darum geht, dass das Evangelium das gesamte Denken und Handeln der Adressaten bestimmen soll, ist die Gestaltwerdung Christi in ihnen wohl kaum als mystisches Ereignis zu interpretieren.


Weiterführende Literatur: Laut S. Eastman 2007 spiele Gal 4,12-5,1 eine Schlüsselrolle in der vom Galaterbrief entfalteten Bewegung von der neuen Identität der Gläubigen in Christus hin zu den Folgerungen dieser neuen Identität für ihr gemeinsames Leben. Der Abschnitt handele von der Kraft des göttlichen Handelns in Christus, abseits des Gesetzes, nicht nur um das neue Leben der Galater in Christus hervorzurufen, sondern auch um es zu vervollkommnen. Paulus vermittele den Bekehrten die Motivation und Kraft, die dafür notwendig ist, sie von ihrer Zwiespältigkeit im Hinblick auf das von ihm verkündigte Evangelium hin zu einem standhaft allein mit Christus verbundenen Glauben zu bewegen. Das Medium und die Botschaft ließen sich nicht voneinander trennen. S. Eastman unterscheidet zwischen „father tongue“, also objektiver Wissensvermittlung, und „mother tongue“, der Sprache der Beziehung. 4,12-5,1 sei ein Beispiel der Sprache der Beziehung. Konkret zu V. 19 siehe S. 89-126. B. R. Gaventa 2007 teilt die Meinung, dass Paulus sich weder hier noch anderswo im Galaterbrief objektiver Sprache bediene. Zu V. 19 (vgl. S. 31-39): V. 19 sei mehr als nur ein auf der Freundschaft zwischen Paulus und den galatischen Christen beruhender Appell. Es handele sich vielmehr um den theologischen Anspruch, dass das apostolische Werk des Paulus in einem apokalyptischen Rahmen zu verstehen sei, der von Gottes Offenbarung Jesu Christi geschaffen worden und auf die vollständige Eingliederung aller Gläubigen – ja sogar des Kosmos‘ – in Christus aus ist.


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V. 20


Beobachtungen: Wenn Paulus schreibt, dass er wünschte, bei den Adressaten zu sein, dann bedeutet dies, dass er den Wunsch nicht ohne weiteres in Erfüllung gehen lassen kann. Dass Paulus an der Erfüllung gehindert ist, lässt sich am ehesten mit anderweitigen zu erledigenden Aufgaben oder mit der großen räumlichen Entfernung von Galatien erklären. Dabei bleibt jedoch offen, welche Aufgaben Paulus derzeit zu erledigen hat und wo er sich gerade befindet.


Die Anwesenheit bei den Adressaten hätte einen großen Vorteil: Paulus könnte seine Stimme verwandeln. Was ist damit gemeint? Zunächst einmal bezeichnet das griechische Wort „phônê“ nicht nur die Stimme im eigentlichen Sinn, die Grundlage der mündlichen Kommunikation ist, sondern auch den Tonfall des - mündlich oder schriftlich - Geäußerten. Wenn Paulus seine Stimme verwandeln will, so ist daraus zu schließen, dass er nicht sicher ist, ob sein Tonfall in dem Geschriebenen auch wirklich angemessen ist. Die Unsicherheit scheint aus Ratlosigkeit zu resultieren - aus Ratlosigkeit angesichts des Verhaltens der Adressaten. Wäre sich der Apostel über das Ausmaß, in dem die Adressaten den judaistischen Predigern folgen, im Klaren, so könnte er auch aus der Ferne den richtigen Tonfall treffen. Es scheint aber so zu sein, dass er über die gegenwärtigen Zustände in den galatischen Gemeinden nur ungenau mittels Informationen Dritter informiert ist. Wäre er vor Ort, dann könnte er sich selbst ein Bild machen und anhand dessen entscheiden, ob er harte oder eher milde Worde wählt, und entsprechend seine Stimme „verwandeln“.


Weiterführende Literatur:



Literaturübersicht


Buscemi, A. Marcello; Gal 4,12-20: Un argomento di amicizia, FrancLA 34 (1984), 67-108

Eastman, Susan; Recovering Paul’s Mother Tongue: Language and Theology in Galatians, Grand Rapids, Michigan 2007

Gaventa, Beverly Roberts; Our Mother Saint Paul, London – Louisville, Kentucky 2007

Goddard A. J.; Cummins, S. A.; Ill or Ill-Treated? Conflict and Persecution as the Context of Paul’s Original Ministry in Galatia (Galatians 4.12-20), JSNT 52 (1993), 93-126

Lambrecht, Jan; Unreal Conditions in the Letters of Paul: A Clarification, ETL 63/1 (1987), 153-156

Long, Fredrick J.; Gal 4:12-20 as the Transition to the Refutation, Proceedings EGL&MWBS 18 (1998), 99-114

Longenecker, Bruce W.; “Until Christ Is Formed in You”: Suprahuman Forces and Moral Character in Galatians, CBQ 61/1 (1999), 92-108

Martin, Troy W.; Whose Flesh? What Temptation? (Galatians 4.13-14), JSNT 74 (1999), 65- 91

Martin, Troy W.; The Ambiguities of a “Baffling Expression” (Gal 4:12), FN 23-24 (1999), 123-138

Martin, Troy W.; The Voice of Emotion: Paul’s Pathetic Persuasion (Gal 4:12-20), in: T. H. Olbricht et al. [eds.], Paul and Pathos (SBL Symposium Series 16), Atlanta, Georgia 2001, 181-202

Murphy-O’Connor, Jerome; Gal 4:13-14 and the Recipients of Galatians, RB 105/2 (1998), 202-207

Smith, Christopher C.; Ekkleisai in Galatians 4:17: The Motif of the Excluded Lover as a Metaphor of Manipulation, CBQ 58/3 (1996), 480-499

White, L. Michael; Rhetoric and Reality in Galatians. Framing the Social Demands of Friendship, in: J. T. Fitzgerald et al. [eds.], Early Christianity and Classical Culture (NT.S 110), Leiden 2003, 307-349

Witulski, Thomas; Die Adressaten des Galaterbriefes: Untersuchungen zur Gemeinde von Antiochia ad Pisidiam (FRLANT 193), Göttingen 2000

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