Gal 4,21-31
Übersetzung
Gal 4,21-31:21 Sagt mir, die ihr unter dem Gesetz sein wollt, hört ihr das Gesetz nicht? 22 Es steht doch geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Sklavin und einen von der Freien. 23 Jedoch der von der Sklavin ist auf fleischliche Weise gezeugt worden, der aber von der Freien aufgrund einer Verheißung, 24 was allegorisch gesagt ist: Diese sind nämlich zwei Bünde, der eine vom Berg Sinai, der zur Sklaverei gebiert, der als solcher Hagar ist. 25 Das [Wort] „Hagar“ aber ist [der] Berg Sinai in (dem) Arabien. Er entspricht dem jetzigen Jerusalem, denn es leistet zusammen mit seinen Kindern Sklavendienst. 26 Das obere Jerusalem aber ist frei, als solche ist es unsere Mutter. 27 Es steht nämlich geschrieben: „Freue dich, du Unfruchtbare, die du nicht gebierst; brich [in Jubel] aus und rufe, die du keine Geburtswehen hast; denn viele (der) Kinder [wird] die Einsame [haben], mehr als die, die den Mann hat.“ 28 Ihr aber, Geschwister, seid Isaak entsprechend Kinder der Verheißung. 29 Doch wie damals der auf fleischliche Weise Gezeugte den auf geistliche Weise Gezeugten verfolgte, so [ist es] auch jetzt. 30 Aber was sagt die Schrift? „Wirf die Sklavin und ihren Sohn hinaus! Denn der Sohn der Sklavin soll nicht zusammen mit dem Sohn der Freien erben.“ 31 Deshalb, Geschwister, sind wir nicht Kinder einer Sklavin, sondern der Freien.
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Beobachtungen: Der Anlass des Galaterbriefes ist, dass sich die Christen der galatischen Gemeinden von judaistischen Predigern dazu bewegen ließen, ihr Heil nicht mehr allein vom die Sünden der Menschen sühnenden Kreuzestod Jesu Christi und von der Auferstehung zu erwarten, sondern dem Halten sämtlicher Satzungen und Gebote der hebräischen Bibel (= AT), konkret der Tora, hohe Bedeutung beizumessen. Aus dem Verhalten der Adressaten schließt Paulus, dass sie „unter dem Gesetz“ sein wollen.
Diese Gesetzlichkeit der Adressaten macht sich Paulus zunutze, um sie mit den eigenen Waffen zu schlagen. Vorwurfsvoll fragt er die galatischen Gemeindeglieder, ob sie das Gesetz nicht hören. Aus dem zweiten Gebrauch des Wortes „Gesetz“ in V. 21 geht hervor, dass damit nicht nur - wie beim ersten Gebrauch - die jüdischen Satzungen und Gebote gemeint sind, sondern darüber hinaus auch weitere, erzählende Texte der Tora. Paulus zieht für seine folgende Argumentation nämlich keine Satzung und kein Gebot heran, sondern die Erzählung von Hagar und Sara.
Das Verb „hören“ lässt zunächst an das Hören der biblischen Texte im synagogalen und kirchlichen Gottesdienst denken. Allerdings geht es Paulus weniger um den reinen Hörvorgang als vielmehr um den Aspekt des Verstehens des Gehörten. Ein solches Verstehen scheint bei den Adressaten nicht gegeben zu sein, denn sonst würden sie sich der Bedeutung der Erzählung von Hagar und Sara bewusst sein.
Einige Textzeugen ersetzen das Verb „hören“ („akouô“) durch das Verb „lesen“ („anagignôskô“), gehen also davon aus, dass die Adressaten das Wort lesen.
Weiterführende Literatur: Zur zentralen Rolle, die Gal 4,21-31 in Paulus‘ Argumentation gegen die Judaisten, die in den galatischen Gemeinden Unruhe stiften, einnehme, siehe P. Borgen 1995, 151-164.
G. Bouwman 1987, 3135-3155 versucht zunächst die Identität der Gegner des Heidenapostels Paulus festzustellen. Nach einer kurzen textkritischen und literarischen Analyse versucht er alsdann, die Argumentation der Gegner wiederherzustellen, um schließlich zu zeigen, wie Paulus ihre Beweisführung umdrehe und ihre Spitze gegen seine Opponenten selbst richte. Schlussfolgerungen: A) Die Gegner des Heidenapostels seien Jerusalemer Evangelisten, die die galatischen Gemeindeglieder zur Beschneidung überreden. B) Man könne Paulus aufgrund 4,21-31 nicht des Antijudaismus beschuldigen. Er verteile nur die Nachkommenschaft Abrahams in zwei Gruppen, eine geistliche und eine fleischliche Linie. Die beiden Frauen seien Symbole zweier Existenzweisen, die nicht typisch seien für Judentum einerseits oder Christentum andererseits, sondern die sich in beiden Religionen fänden. C) Es stelle sich heraus, dass sich zwischen Paulus und Jakobus, zwischen den gesetzfreien hellenistischen Gemeinden und der gesetztreuen Urgemeinde in Jerusalem, noch eine dritte Gruppe gebildet hat, die zu Recht oder Unrecht den Petrus als ihren Führer betrachte und neben der Beschneidung die Befolgung nur weniger anderer Bestimmungen des Gesetzes von den Heidenchristen fordere. D) Es zeige sich, dass es in der frühen Kirche eine Lehre von zwei „Bünden“ gegeben hat.
J. L. Martyn 1991, 160-192 setzt sich kritisch mit der seiner Ansicht nach vorherrschenden Meinung der Ausleger auseinander, dass Gal 4,21-5,1 antijudaistisch sei.
Mit den rhetorischen Techniken, die Paulus in Gal 4,21-5,1 anwendet, befasst sich A. C. Perriman 1993, 27-42, der den typologischen Charakter des Abschnitts gegenüber dem allegorischen hervorhebt.
D. F. Tolmie 2002, 163-178 versucht sich 4,21-5,1 mittels einer rhetorischen Analyse zu nähern, die sich von dem gewohnten Ansatz unterscheide. Würden meist antike rhetorische Kategorien auf den Galaterbrief übertragen, so versuche D. F. Tolmie die paulinische rhetorische Strategie in Begriffen des „grounded theoretical approach“ zu analysieren.
Die typologische Interpretation der Erzählung von Sara und Hagar in Gal 4,21-31 hat B. Corsani 1991, 213-224 zum Thema.
É. Cothenet 1981, 457-465 geht auf die Verbindung der Sara-Hagar-Allegorie zum Rest des Kapitels und auf das palästinische und alexandrinische Judentum als doppelten Hintergrund ein.
Gemäß C. H. Cosgrove 1987, 219-235 beinhalte 4,21-30 zwei sich einander ergänzende Auslegungen der Erzählung von Abrahams Frauen und Söhnen in Gen 21. Die erste (V. 22-27), eine allegorische Auslegung, argumentiere, dass die Tora in der Knechtschaft sei und keine Kinder der Verheißung hervorgebracht habe. Auf diese Weise bekräftige Paulus seine These, dass sowohl das Gesetz selbst als auch die unter dem Gesetz in der Knechtschaft seien. Die zweite (V. 28-30) füge eine Aussage der atl. Erzählung (Gen 21,10) als Warnung an die Galater hinzu.
S. Fowl 1994, 77-95 setzt sich kritisch mit verschiedenen Thesen von R. Hays auseinander. Laut S. Fowl deute Paulus nicht nur in Gal 4,21-31 die Abrahamserzählung allegorisch, sondern auch in den anderen Abrahams-Passagen des Galaterbriefes. Die allegorische Lesart gründe auf Paulus‘ Bericht von der Geisterfahrung der Galater und werde von diesem aus beurteilt. Paulus übe mittels der allegorischen Lesart kraft seines in Gal 1-2 geschilderten Charakters Auslegungsgewalt aus.
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Beobachtungen: V. 22 nennt das, was die Adressaten anscheinend nicht wissen. Die Formulierung „es steht geschrieben“ lässt zunächst annehmen, dass Paulus zitiert. Das ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr fasst er knapp einige ihm wichtige Punkte der Erzählung von Hagar und Sara zusammen.
Abraham hatte zwei Söhne, einen von der Sklavin und einen von der Freien. Das ist zwar richtig, doch verschweigt Paulus die sechs Söhne, die Abraham von seiner Frau Ketura bekam, sowie die weiteren Söhne von seinen Nebenfrauen (vgl. Gen 25,1-6). Das Verschweigen dieser vielen anderen Söhne ist damit zu erklären, dass sie für die Aussageabsicht des Apostels keine Rolle spielen.
Die Begriffe „Sklavin“ und „Freie“ verweisen darauf, worauf es Paulus ankommt: Auf die Gegenüberstellung von Sklaverei und Freiheit. Die Leser bzw. Hörer des Briefes dürften bei den Begriffen unweigerlich an das Gesetz und an das Evangelium denken, denn das Gesetz hat Paulus schon in 4,1-7 mit der Sklaverei verbunden, wogegen das Evangelium als Befreiung aus der Sklaverei erschien. Nur der Glaube an das Evangelium führt gemäß 3,1-4,7 zum Heil, nicht das sorgfältige Halten der jüdischen Satzungen und Gebote. Das Heil der Menschen ist das entscheidende Missionsziel des Apostels.
Die Gegenüberstellung von Unfreiheit und Freiheit wird nur dann deutlich, wenn das griechische Substantiv „paidiskê“ nicht mit „Mädchen“, sondern mit „Sklavin“ übersetzt wird.
Weiterführende Literatur: Mit dem Thema „Abraham und die Tora in Gal 3-4“ befasst sich S. K. Davis 2002, 152-181.
J. A. Loubser 1994, 163-176 untersucht, auf welche Art und Weise der Gegensatz Sklaverei – Freiheit im Galaterbrief als rhetorisches Überzeugungmittel dient.
Grundlegend für die Schriftauslegung in Gal 4,21-31 sei gemäß D.-A. Koch 1986, 204-211 einerseits das Verständnis der beiden Personen Sara und Hagar aus der Vätergeschichte als Stammmütter heutiger Personengruppen, andererseits die allegorische Interpretation der Sklavin Hagar und, wenn auch begrenzt, der Freien. Denn nur auf dem Wege der Allegorese sei der entscheidende Nachweis möglich gewesen, dass das jetzige, dem Gesetz folgende „Jerusalem“ die Sklavin Hagar – und nicht Sara! – zur Stammmutter bzw. Ahnherrin hat.
M. Bachmann 1998, 144-164 legt dar, dass die zweitgebärende Frau (Sara) im Licht stehe, die erstgebärende (Hagar) im Dunkel. Sie sei, von Paulus und seinen Adressaten aus gesehen, die andere. Hagar sei eine strikt von der christlichen Gemeinschaft getrennte Gestalt und Korporation. Vergleichbares gelte auch für die interessante Darstellung zweier Frauen, die sich im Freiburger Münster findet, nämlich auf einander korrespondierenden Medaillons des am Ende des 13. oder zu Beginn des 14. Jh. entstandenen sog. Tucherfensters.
Während in 4 Esr 9,26-10,59 das leidende – real existierende – Volk Israel/Jerusalem von derselben Mutter Zion verkörpert werde wie das himmlische Jerusalem, werde laut L. Schottroff 1993, 31-43 in Gal 4,21-31 das himmlische Jerusalem radikal vom jetzigen Jerusalem getrennt. Die Gegenüberstellung der beiden Frauen im Schwarz-Weiß-Verfahren sei sexistisch in ihrer Disqualifizierung der bösen Frau und in ihrer Qualifizierung der guten Frau zur Idealgestalt. In der Gegenüberstellung der beiden Frauen werde dem jüdischen Volk die Abrahamsverheißung weggenommen; sowohl Gen 16-21 als auch Jes 54,1 würden antijudaistisch gelesen. Die Gegenüberstellung der beiden Frauen als Freie und Sklavin zuungunsten der Sklavin enthalte zudem Verachtung von Sklavinnen und Sklaven, deren Struktur derjenigen eines modernen Rassismus entspreche. Die Vertreibung der Hagar und ihres Sohnes im Gegensatz zum Erbensein der Kinder Saras beschreibe weiterhin einen ungerechten ökonomischen Vorgang: Enterbung der Kinder Hagars und Bevorzugung der Kinder Saras als Erben. So werde auch noch ökonomische Ungerechtigkeit legitimiert. Ob dieses Bild von Sexismus, Antijudaismus und ökonomischer Ungerechtigkeit korrigierbar ist, solle durch Einbeziehung des Galaterkontextes bzw. des Gesamtwerkes des Paulus überprüft werden. L. Schottroff meint zum Umgang mit Gal 4,21-31, es sei dem wissenschaftlichen und dem kirchlichen Umgang mit solchen biblischen Traditionen angemessen, sie als Teil der Schuldgeschichte des Christentums sichtbar zu machen und auch im kirchlichen Gebrauch kritisch mit der Bibel umzugehen. Die dunklen Seiten des Paulus und die dunklen Seiten des Christentums seien eine Aufforderung, christliche Identität heute neu zu gestalten, auch wenn kein Stein in dem alten Haus auf dem anderen bleibe. Nur so könne das alte Haus wieder bewohnbar werden.
Die in der christlichen Theologie allgemein verbreitete Auslegung von Gal 4,21-31, die die Linie Hagar – Sinai – jetziges Jerusalem – Knechtschaft auf das Judentum und die Linie Sara – oberes Jerusalem – Freiheit auf das Christentum festlegt, sei gemäß M. Grohmann 1998, 53-74 problematisch. Ein Vergleich mit anderen Rezeptionsmöglichkeiten der atl. Erzählungen Gen 16 und 21 in rabbinischem Midrasch, muslimischer Tradition und feministisch-theologischer Exegese zeige Ansätze einer Neuinterpretation von Sara und Hagar (vgl. A. Standhartinger 2002, 288-289). Paulus entferne sich weit von der atl. Textgrundlage. Er benutze den Bibeltext von Gen 16 und Gen 21 in allegorisch-typologischer Auslegung für seine gegenwärtige Situation und unter dem Eindruck des Christus-Geschehens. In seiner Auslegungsmethode stehe Paulus jüdisch-rabbinischer Exegese sehr nahe: Gal 4,21-31 sei ein Midrasch. Feministische Exegese, die sich weniger auf Gal 4 als auf Gen 16 beziehe, zeige die große Bedeutungsfülle der beiden atl. Frauengestalten auf. Die Wirkungsgeschichte im Islam zeige, dass die Marginalisierung der Hagar ein Spezifikum jüdischer und christlicher Auslegungen ist.
Ausgehend von der problematischen Auslegungs- und Wirkungsgeschichte von Gal 4 diskutiert A. Standhartinger 2002, 288-303 die paulinische Diskussion der Hagargeschichte im Kontext jüdischer Auslegungen. Paulus argumentiere in Gal 4,21-31 in drei Schritten. Im ersten Schritt (4,21-23) stelle Paulus auf dem Hintergrund der biblischen Geschichte den freigeborenen Sohn der Verheißung dem fleischlichen Sohn der Magd gegenüber. Im zweiten Schritt (4,24-27) suche Paulus nach dem „allegorischen“, d. h. dem tieferen Sinn der Geschichte, indem er die Magd Hagar mit dem Bund vom Sinai und dem jetzigen Jerusalem in eine Reihe unter dem Oberbegriff der Sklaverei stelle. Anders als die Auslegungsgeschichte führe Paulus die oppositionelle Reihe Sara, Freiheit, Kindschaft nicht durch. Vielmehr würden die beiden Frauengestalten Hagar und Sara anhand des Begriffs „oberes Jerusalem“ und mit Hilfe des Zitats aus Jes 54,1 vermischt. Im dritten Schritt (4,28-31) entstehe aus der fortlaufenden biblischen Erzählung vom Rauswurf der Hagar eine Argumentation. Die Schrift selbst beende mit ihrem Wort die Knechtschaft, indem sie die Magd entlasse. Die die Gemeinde einbeziehende Schriftauslegung in 4,21-31 interpretiere Gottes Wort in der Tora als Auftrag zur Praxis der gemeinsamen Freiheit von Juden und Menschen aus den Völkern.
G. H. Juncker 2007, 131-160 arbeitet (insbesondere anhand von Gal 3 und 4,21-31) heraus, dass Paulus die Nachkommenschaft Abrahams spirituell und auch typologisch deute. „Kinder Abrahams“ seien alle Gläubigen, wobei auf den Glauben an Jesus Christus abgezielt sei. Die Patriarchen der ersten beiden Generationen nach Abraham stünden in der Bibel für noch größere eschatologische Wirklichkeiten. Im Hinblick auf die Frage, ob in Röm 9,6b „Israel“ nur den christusgläubigen jüdischen „Rest“ meint oder die ganze aus Heiden- und Judenchristen bestehende Kirche einschließt, kommt er zu folgendem Ergebnis: „Israel“ beziehe sich in Röm 9,6b auf das geistliche Israel, d. h. die Kirche.
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Beobachtungen: Der Sohn der Sklavin ist „auf fleischliche Weise“ gezeugt. Was ist darunter zu verstehen? Zunächst könnte man meinen, dass es sich um eine Formulierung für eine dem Geschlechtsverkehr von Mann und Frau entspringende Geburt handelt. Das würde jedoch bedeuten, dass die Zeugung „aufgrund einer Verheißung“ nicht einem Geschlechtsverkehr entspringt. Das ist jedoch nicht der Fall. Denn die Verheißung besagt ja, dass die unfruchtbare, alte Freie, Sara, dem ebenso alten Abraham einen Sohn gebären wird (vgl. Gen 17,16-17; 18,10-15; 21,1-2). Abraham ist der leibliche Vater des Sohnes, Isaak. Von daher ist zu folgern, dass für die Zeugung „auf fleischliche Weise“ nicht der Geschlechtsverkehr, sondern das Fehlen einer Verheißung charakteristisch ist.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Nun geht Paulus zu dem tieferen Sinn der Erzählung von Hagar und Sara über. Das was er nun tut, bezeichnet er als „allêgoreô“. Das Verb meint zunächst „etwas anderes sagen“, und zwar als man meint. Paulus redet also von Hagar und Sara, doch meint er etwas anderes. Ihm geht es nicht um die beiden Frauen und ihre beiden Söhne an sich, sondern um dogmatische Aussagen. Paulus sieht also hinter der Erzählung einen tieferen, dogmatischen Sinn, den er nachfolgend nennt.
Es liegt jedoch nicht nur eine Allegorie vor, sondern auch eine Typologie. Bei einer Typologie werden Personen, Begebenheiten und Einrichtungen des AT als „Vorbilder“ angesehen, die auf derzeit lebende Personen, gegenwärtige Begebenheiten und Einrichtungen verweisen. So bezieht Paulus die „Vorbilder“ auf das mit Jesus Christus verbundene Heilsgeschehen und auf die Heilsgeschichte.
Die beiden Frauen werden auf die beiden Bünde bezogen, wobei Paulus zunächst nur auf denjenigen vom Berg Sinai eingeht. Die Bünde gebären wie auch die beiden Frauen, wobei das Gebären im Sinne von Hervorbringen zu verstehen ist. Der Bund vom Berg Sinai gebiert ebenso wie Hagar zur Sklaverei. Hintergrund dieses Gedankens ist die Vorstellung, dass die Kinder einer Sklavin als Sklaven, also in den gleichen Stand hinein, geboren werden.
Bei dem Sinai handelt es sich um denjenigen Berg, auf dem Mose von Gott die beiden Gesetzestafeln erhalten hat, die er schließlich nach seinem Abstieg dem Volk Israel übergab. Von daher ist der Berg Sinai mit dem Gesetz und damit auch mit der Gesetzlichkeit, der Versklavung unter das Gesetz, verbunden. Die Übergabe der Gesetzestafeln ist wesentlicher Bestandteil des Bundesschlusses des Gottes JHWH mit seinem Volk Israel.
Das griechische Verb „gennaô“ kann mit „gebären“ oder mit „zeugen“ übersetzt werden; eine Frau gebiert, ein Mann zeugt.
Weiterführende Literatur: Zur die Sklaverei betreffenden Begrifflichkeit im Galaterbrief und zur Bedeutung des Begriffs „allêgoreô“ siehe P. Balla 2009, 119-134. „Allêgoreô“ könne sowohl „allegorisch reden“ als auch „allegorisch deuten“ bedeuten, wobei in Gal 4,24 wohl letztere Bedeutung vorliege. Paulus habe den atl. Text auf die Gegenwart hin gedeutet, ohne dass er davon ausgegangen sei, dass der atl. Text von vornherein eine entsprechende Intention gehabt habe.
S. Di Mattei 2006, 102-122 geht der Bedeutung des Verbs „allêgoreô“ („allegorisch sagen“) V. 24 im Kontext hellenistischer Rhetorik nach und verortet Paulus‘ Hermeneutik im Kontext jüdischer hermeneutischer Normen des 1 Jh. n. Chr. Ergebnis: Paulus‘ Allegorie der beiden Bünde spiegele eher jüdische Lesepraktiken wieder, die die Tora eschatologisch zu deuten suchten, als christliche Typologie. So lese Paulus Gen 16,1 durch seine Haftara (zur Lesung aus der Tora gehörige Lesung aus den Propheten) Jes 54,1.
F. S. Malan 1992, 425-440 thematisiert die beiden entgegengesetzten Bünde als rhetorische Strategie des Heidenapostels, die die Galater von einer Hinwendung zur Gesetzlichkeit abhalten solle. Dabei spricht er verschiedene rhetorische Techniken, die Paulus zur Erreichung seines Ziels anwende, an.
Mit den göttlichen diathêkai („Gesetze/Bünde/Verheißungen“) im NT befasst sich E. Gräßer 1985, 1-134, der auf S. 56-77 (4,24: S. 69-76) konkret auf den Galaterbrief eingeht. Ergebnis zum Vorkommen des Begriffs „diathêkê“ im Galaterbrief: Eine durch Gegner ausgelöste Kontroverse um das Gesetzesverständnis nehme Paulus zum Anlass, Verheißungsdiathêke und Sinaidiathêkê in eine Perspektive zu rücken, in der sie miteinander unvereinbar werden. Sein eigentliches theologisches Interesse dabei sei der Ausschluss des Gesetzes als Heilsweg. Dieses Ziel erreiche er einerseits durch den Aufweis der Inferiorität des Gesetzes, andererseits – in der Hagar-Sara-Typologie – durch die Qualifizierung der beiden Bünde als Knechtschaft einerseits und Freiheit andererseits. Obwohl die Begriffe jetzt noch nicht fielen (sondern erst in 2 Kor 3), laufe das in der Sache auf einen diametralen Gegensatz von Altem und Neuem Bund hinaus.
M. Tiwald 2008, 392-399 hält für die Qumrantexte ein Zweifaches fest: a) Die Rede vom „neuen Bund“ bedeute (genau wie in Jer 31,31) keine Abrogation der früheren Bundesverheißungen Gottes, sondern deren Erfüllung. b) Die Orientierung an der authentisch-verbindlichen Torainterpretation werde zum Kriterium, wer zum wahren Israel gehört und wer nicht. Die Grenzen des „wahren Israel“ liefen ja nicht entlang der bloßen Zugehörigkeit zum Volk Israel als solchem. In ähnlicher Weise lasse sich auch Paulus in 2 Kor 3,6-17; Gal 4,24-26; Röm 9,4 und 11,25-36 verstehen.
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Beobachtungen: V. 25 wird mit einem neutralen Artikel („das“) eingeleitet, jedoch folgt statt eines neutralen Substantivs der Frauenname „Hagar“. Wäre die Frau an sich gemeint, wäre ein femininer Artikel („die“) zu erwarten. Folglich ist „Hagar“ hier als ein Wort zu verstehen.
Dieses Wort „Hagar“ setzt Paulus mit dem Berg Sinai in Arabien gleich. Wie kommt er auf diese Gleichsetzung? Es kann sein, dass die Lautähnlichkeit mit dem arabischen Wort für „Fels/Stein“, „hadjar“, zu dieser Gleichsetzung geführt hat. Dann ist aber auch daran zu denken, dass der Berg Sinai im Gebiet der Nachkommen Hagars liegt (vgl. Gen 25,12-18; zu den Hagaritern siehe auch 1 Chr 5,10.19; Ps 83,7), wobei jedoch der geographische Begriff „Arabien“ im AT nicht ausdrücklich im Zusammenhang mit den Hagaritern genannt wird. Die Sinaihalbinsel gehört nicht zum verheißenen Land, sondern zur Wüste, die das Volk Israel auf dem Weg zum verheißenen Land durchqueren musste.
Dem Wort „Hagar“ und dem Berg Sinai - das Verb „systoichei“ („es/er entspricht“) kann sich sowohl auf das Wort „Hagar“ als auch auf den Berg Sinai beziehen - entspricht das „jetzige Jerusalem“. Schon die Formulierung „jetziges Jerusalem“ macht deutlich, dass es sich dabei nur um das Jerusalem handelt, das irdisch und jetzt sichtbar ist. Daneben gibt es ein weiteres Jerusalem, das der eigentliche Ort des Heils ist. Das „jetzige Jerusalem“ ist Hauptstadt eines Volkes, das sein Heil statt auf Jesus Christus auf das genaue Halten der biblischen Satzungen und Gebote setzt und damit sein Heil schließlich verfehlt. Durch die Gesetzlichkeit ist das „jetzige Jerusalem“ samt seinen „Kindern“, den Juden, ebenso wie der Berg Sinai und die Sklavin Hagar dem „Sklavendienst“ unterworfen.
Weiterführende Literatur: Gal 4,21-31 und namentlich V. 25a biete gemäß G. Bouwman 1987, 259-276 der Auslegung besondere Schwierigkeiten, die noch immer nicht in befriedigender Weise gelöst seien. Gründe dieser Undurchsichtigkeit gebe es mehrere. Erstens müssten wir annehmen, dass Paulus hier die Lehre seiner Gegner widerlegt. Den Adressaten sei diese Lehre wohlbekannt gewesen, uns leider nicht. Deshalb müsse zuerst versucht werden, mit Hilfe der rhetorischen Analyse, die Stellungnahme der Gegner zu rekonstruieren. Ferner sei nicht klar, wo genau die Antwort des Paulus beginnt. Meistens setze man voraus, dass die „zwei Testamente“ in V. 24a zur paulinischen Erwiderung gehören und dass damit der Alte und Neue Bund gemeint sind. Stattdessen meint G. Bouwman, dass Paulus erst mit V. 24b die Weichen stelle und dass er den prophetischen Längsschnitt ziehe zwischen den wahren und falschen Kindern Abrahams, die synchron neben und nicht diachron nacheinander lebten.
Laut M. G. Steinhauser 1989, 234-240 habe die Schwierigkeit der Deutung von V. 25a in der Texttradition zu einer Vielzahl alternativer Lesarten geführt. Es sei textkritisch zu fragen, welche der beiden Partikeln „de“ („aber“) und „gar“ („denn“, „nämlich“) es war, die den Vers ursprünglich einleitete, und warum der Name „Hagar“ ausgelassen wird. M. G. Steinhauser vertritt die Ansicht, dass gemäß V. 25a Paulus durchaus das Wort „Hagar“ mit dem Ort Berg Sinai in der Wildnis Arabiens in Verbindung bringe. Er legt dar, dass das Spiel mit den Worten „Hagar“ und „Hagra“, wie es sich in den Targumim Pseudo-Jonathan Gen 16,7 und Onqelos Gen 16,7 („Then an angel found her [Hagar] by a spring of water in the wilderness, by the spring on the road to Hagra.“) finde, die allegorische Verbindung erlaube. Er gibt einen Überblick über die Hagra betreffende targumische Tradition und versucht dann zu zeigen, dass V. 25a der Schlüssel für das Verständnis der Sara-Hagar-Allegorie sei. Diese sei der targumischen Tradition von Gen 16, in der die Themen „Sklaverei“ und „die Kinder Hagars“ hervorragen, entnommen.
S. M. Elliott 1999, 661-683 legt dar, dass sich das Vorhandensein des Textes 4,21-31 im Galaterbrief nur erklären lasse, wenn man der religiösen Lebenswelt der Galater die gebührende Beachtung schenkt. So hätten die Adressaten in einer Umwelt gelebt, in der man davon ausging, dass das Land (Anatolien) von Berg-Muttergottheiten beaufsichtigt werde, örtlichen Erscheinungsweisen der Mutter der Götter. Hagar, als Sklavin und Konkubine sowie als Gesetz, werde als Bergmutter, als Mêtêr Sinainênê dargestellt, verbunden mit Jerusalem als Tempelstaat, wo die Einwohner die Kinder der Bergmutter und Sklaven sind. Beschneidung würde die Galater so dem Gesetz versklaven, wie Selbstkastrierung die „galli“ (= kastrierte Funktionäre) der Mutter der Götter versklave. Paulus biete eine andere „Mutter“ als Stadt über den Bergen und als rechtmäßige Ehefrau, deren Söhne frei sind, an.
J. C. O’Neill 2000, 210-219 geht u. a. der Frage nach, warum der Verfasser der Allegorese, der eine eingehende Kenntnis der Schrift vorgibt, die banale Feststellung macht, dass „Sinai“ ein Berg in Arabien ist. J. C. O’Neill vermutet, dass mit der Feststellung eine neue allegorische Leseweise des Gesetzes beginne. Arabien stehe vermutlich für die Wüste, und die Wüste werde der Stadt gegenübergestellt. In Gal 4,27 werde Jes 54,1 zitiert. Dieser Vers stelle der Frau, die einen Ehemann hat, die Frau, die – wörtlich – eine Wüste ist, gegenüber. Die Stadt im Zusammenhang von Gal 4,25 sei die gegenwärtige Stadt Jerusalem, die nach dem Muster des himmlischen Jerusalem beschaffen sein sollte, jedoch es offensichtlich nicht ist. Die Identifizierung Hagars mit dem Berg Sinai, wie sie gewöhnlich vorgenommen werde, sei zu hinterfragen, denn in der Tradition seien beide Gegensätze. Außerdem sei aus textkritischer Sicht die Identifizierung fraglich.
G. Wagner 1991, 285-295 legt 4,21-31 aus. Die zentralen Aussagen sind: Wie Hagar begebe sich auch Israel zum Sinai, um dort sein Heil zu suchen, und erkenne daher nicht seinen Messias/Christus. Seine Haltung entspreche der heidnischen Religion. Der von den biblischen Schriften vorhergesagte Bund komme mit der Auferstehung des Gekreuzigten vom Himmel, wie es in Jes 52,13-54,1 angekündigt sei.
J. Murphy-O’Connor 1999, 280-281 erklärt den ausnahmsweisen Gebrauch des Namens „Hierosolyma“ für Jerusalem in Gal 1,17-18; 2,1 mit dem heidenchristlichen Charakter der galatischen Gemeinden (vgl. 4,8), denen gegenüber wohl schon die Eindringlinge diese, verglichen mit „Ierousalêm“, griechischere Namensform benutzt hätten. Diese Erklärungslinie leuchtet M. Bachmann 2000, 288-289 ein. Allerdings erkläre der Vorschlag noch nicht, warum in Gal 4,25-26 gegenüber denselben – weithin heidenchristlichen – Adressaten nun statt der griechischeren die hebräischere Namensform gebraucht wird. Entschieden überzeugender als die Annahme, der Apostel falle jetzt wieder in seine übliche Ausdrucksweise zurück, scheint M. Bachmann die These, dieser im paulinischen Schrifttum singuläre Wechsel habe es doch mit inhaltlichen Faktoren zutun. Jedenfalls werde im NT auch jenseits von Gal 4,25-26 für das – als personale Größe verstandene – himmlische Jerusalem nie der in aller Regel als Neutrum Plural aufgefasste Terminus „Hierosolyma“ benutzt, sondern eben stets „Ierousalêm“. Überdies sei die „Allegorie“ Gal 4,21-5,1 durch zwei Ketten femininer Begriffe bzw. Größen bestimmt.
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Beobachtungen: Neben dem „jetzigen Jerusalem“ gibt es ein „oberes Jerusalem“. Ginge es um den Gegensatz von gegenwärtig und zukünftig, so hätte Paulus „zukünftiges Jerusalem“ schreiben können. Es ist also wahrscheinlicher, dass Paulus auch das „obere Jerusalem“ als gegenwärtig ansieht, der Unterschied jedoch im Oben und Unten liegt. Das „obere Jerusalem“ ist im Gegensatz zum „jetzigen Jerusalem“, das unten auf der Erde ist, nicht an die Welt gebunden und damit dauerhaft. Wer in das „obere Jerusalem“ gelangen will, muss aufsteigen, was den Menschen zu ihren Lebzeiten nicht möglich ist.
Das „obere Jerusalem“ ist nicht wie das „jetzige Jerusalem“ dem „Sklavendienst“ unterworfen, sondern „frei“. Es ist damit nicht der Ort der Gesetzestreuen, sondern derjenigen, die sich vom Gesetz losgemacht haben. Das sind diejenigen, die ihre Hoffnung allein auf das Evangelium Christi setzen.
Wenn Paulus das „obere Jerusalem“ als „unsere Mutter“ bezeichnet, dann geht er auch davon aus, dass sie gebiert. Als freie Mutter entspricht sie der Freien, der namentlich nicht genannten Sara. Es ist davon auszugehen, dass sie wie die Freie aufgrund einer Verheißung gebiert.
Weiterführende Literatur: Mit der himmlischen Stadt und dem himmlischen Bürgerrecht in Gal 4,26 und Phil 3,20 befasst sich A. M. Schwemer 2000, 195- 243. Zur Stadt als Mutter: Die metaphorische Rede von der Stadt als Mutter sei Paulus durch die Tradition vorgegeben: Städte würden, obwohl der Form nach maskulin, in der hebräischen Sprache weiblich konstruiert. Zum „oberen Jerusalem“: Das apokalyptische Konzept eines himmlischen Jerusalems beruhe auf dem Gegensatz zum irdischen, das durch die Sünden seiner Bewohner und die Unreinheit und Unzulänglichkeit des irdischen Tempels gekennzeichnet ist. Die Sehnsucht habe seit der nachexilischen Zeit der zukünftigen, heiligen Stadt und ihrem vollkommenen Heiligtum gegolten. Mit der Gegenüberstellung von „jetzigem“ und „oberem Jerusalem“ verschränke Paulus zeitliche und räumliche Vorstellung. Zur freien Stadt: Das „jetzige“ Jerusalem, das Paulus vor Augen hatte, sei keine freie Stadt gewesen. So habe auch die oberste juristische Instanz, das Synhedrium des Hohepriesters, nicht mehr über die Kapitalgerichtsbarkeit verfügt. Wenn Paulus das obere Jerusalem „eine freie (Stadt)“ nennt, so stehe dahinter das Ideal der politisch freien Stadt, das sich in Griechenland entwickelt hatte.
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Beobachtungen: Paulus zitiert Jes 54,1LXX, um zu erklären, inwiefern das „obere Jerusalem“ der Freien, Sara, gleichsteht: Auch dem „oberen Jerusalem“ wird in der Unfruchtbarkeit die Verheißung der Fruchtbarkeit zuteil. Dabei werden allerdings statt eines Sohnes viele Kinder verheißen.
Jes 54,1LXX stammt von Deuterojesaja. Er redet in diesem Vers die (irdische) Stadt Jerusalem an, die während des babylonischen Exils einer unfruchtbaren und kinderlosen Frau gleicht, weil sie durch die Zerstörung der Stadt und die Verschleppung ihrer Einwohner ihrer Kinder beraubt ist. Er verheißt der Stadt, dass sie wieder reich an Kindern werden soll, reicher als in der Zeit vor dem Exil, als sie noch nicht von ihrem Mann JHWH geschieden war (vgl. Jes 50,1; 54,5-6).
Weiterführende Literatur: M. C. de Boer 2004, 370-389 vertritt die Ansicht, dass die Bedeutung des Zitats Jes 54,1LXX in Gal 4,27 für das Verständnis von Gal 4,21-31 oftmals unterschätzt werde. Paulus benutze dieses Zitat, um seiner Auslegung der Erzählung von Sara und Hagar eine eschatologische Dimension zu geben, die, anders als die Eschatologie in Deuterojesaja, zutiefst christologisch und apokalyptisch sei.
Laut S. Eastman 2007 spiele Gal 4,12-5,1 eine Schlüsselrolle in der vom Galaterbrief entfalteten Bewegung von der neuen Identität der Gläubigen in Christus hin zu den Folgerungen dieser neuen Identität für ihr gemeinsames Leben. Der Abschnitt handele von der Kraft des göttlichen Handelns in Christus, abseits des Gesetzes, nicht nur um das neue Leben der Galater in Christus hervorzurufen, sondern auch um es zu vervollkommnen. Paulus vermittele den Bekehrten die Motivation und Kraft, die dafür notwendig ist, sie von ihrer Zwiespältigkeit im Hinblick auf das von ihm verkündigte Evangelium hin zu einem standhaft allein mit Christus verbundenen Glauben zu bewegen. Das Medium und die Botschaft ließen sich nicht voneinander trennen. S. Eastman unterscheidet zwischen „father tongue“, also objektiver Wissensvermittlung, und „mother tongue“, der Sprache der Beziehung. 4,12-5,1 sei ein Beispiel der Sprache der Beziehung. B. R. Gaventa 2007 teilt die Meinung, dass Paulus sich weder hier noch anderswo im Galaterbrief objektiver Sprache bediene.
Zur Funktion von Jes 54,1 in Gal 4,21-5,1 siehe J. Willitts 2005, 88-110: Jes 54,1 sei die prophetische Verkündigung der Umwandlung des Zustandes des Gottesvolks, den der Zustand Jerusalems symbolisiere. Der alte Zustand der Dinge (verheiratet, treulos, in Kürze gerichtet, Frau) sei durch den neuen (trostlos, nun erlöste fruchtbare Frau) ersetzt worden. Gemäß Paulus habe diese eschatologische Umwandlung schließlich in der Person und im Wirken Jesu und des heiligen Geistes stattgefunden. Es sei also das eschatologische Zeitalter des wieder hergestellten Jerusalem angebrochen. Paulus habe das Zitat mit der Erzählung von Hagar und Sara verbunden, um dessen eschatologische Wahrheit zu illustrieren und die Leser/Hörer aufzufordern, sich dieser Wahrheit entsprechend zu verhalten.
Mit der Metalepsis (= Vertauschung des Vorhergehenden mit dem Nachfolgenden) und Intertextualität in Gal 4,21-31 befasst sich K. H. Jobes 1993, 299-320, die ein besonderes Augenmerk auf V. 27 (samt zitierten bzw. anklingenden Texten) im Zusammenhang legt.
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Beobachtungen: „Geschwister“ meint hier nicht „leibliche Geschwister“, sondern Glaubensgeschwister, nämlich Christinnen und Christen. Bei dem Substantiv „adelphoi“ handelt es sich zwar um eine maskuline Form, die zunächst mit „Brüder“ zu übersetzen ist, jedoch sind hier vermutlich auch die „Schwestern“ eingeschlossen. Dass diese unkenntlich bleiben, liegt an der männerzentrierten Sprache, die gemischtgeschlechtliche Gruppen als reine Männergruppen erscheinen lässt.
Wenn das „obere Jerusalem“ mit der Freien gleichzusetzen ist, dann entsprechen dessen Kinder dem Kind der Freien, Isaak. Aus der Nennung des Namens ist sicher zu schließen, dass es sich bei der Freien um Sara handelt, auch wenn ihr Name in Gal 4,21-31 nicht erwähnt wird.
Paulus benutzt zwar den Begriff „Verheißung“, doch ist unklar, was verheißen ist. In 3,15-29 bringt er mit der Verheißung die Begriffe „Leben“ und „Erbe“ in Verbindung. Bei dem „Leben“ handelt es sich wohl nicht um das körperliche Leben im Gegensatz zu dem Tod, sondern um die von Gott gewährten, lebensbereichernden Wohltaten und schließlich auch um die Rechtfertigung vor Gott am Ende der Tage. All dies dürfte wohl auch zum „Erbe“ gehören, das den „Erben“, den Gläubigen, in Aussicht gestellt ist. Gemäß 4,26 stehen die Christen in enger Verbindung zum „oberen Jerusalem“, dessen Kinder sie sind. Dabei bleibt jedoch offen, ob auch zur Verheißung gehört, dass die Christen schließlich in das „obere Jerusalem“ hineingelangen. Dies dürfte dann der Fall sein, wenn das „Kinder Haben“ sich nicht nur darauf bezieht, dass sich auf Erden viele Menschen taufen lassen, sondern auch auf eine Besiedelung der Stadt verweist.
Weiterführende Literatur: T. W. Martin 2002, 5-18 befasst sich mit dem Begriff „Brüder“ in 4,28 und 5,13a. Er kommt zu dem Schluss, dass „Brüder“ jeweils weniger als Vokativ denn als Nominativ zu interpretieren sei. Für 4,28 bedeute dies, dass die Übersetzung „But you are brothers according to Isaac, children of the promise.“ am angemessensten ist. Durch seine Arbeit in Galatien versuche Paulus den “Bruderkörper” (“brother body“) intakt zu halten, indem er sowohl die nichtjüdischen Galater als auch die jüdischen Unruhestifter als „Brüder“ anredet und beschreibt.
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Beobachtungen: Paulus geht davon aus, dass der auf fleischliche Weise gezeugte Sohn der Sklavin, der in 4,21-31 nicht namentlich genannte Ismael, den auf geistliche Weise gezeugten Sohn der Freien, Isaak, verfolgte. Von einer Verfolgung Isaaks durch Ismael ist im AT jedoch nicht die Rede. In Gen 21,9 heißt es nur, dass Ismael scherzte oder spielte, je nachdem wie man das Partizip „mesahêq“ (LXX: „paizonta“) übersetzt. Erst die rabbinische Auslegung hat das Partizip u. a. dahingehend interpretiert, dass Ismael seinen Halbbruder (mit Pfeil und Bogen) verfolgt habe. Paulus mag also seine Deutung auf Aussagen von Rabbinen stützen, wobei jedoch einzuwenden ist, dass Paulus mit „ediôken“ („er verfolgte“) eine Imperfekt- und nicht eine Aorist-Verbform benutzt. Demnach war die Verfolgung nicht nur auf einen bestimmten Augenblick beschränkt, sondern dauerte eine längere Zeit. Ebenso ist gut möglich, dass er eigene Erfahrungen in seine Deutung einfließen lässt. So war er selbst vor seiner Bekehrung ein Christenverfolger (vgl. Apg 9,1-2) und nach seiner Bekehrung hat er von den Juden fünfmal vierzig weniger einen Geißelhiebe erhalten (vgl. 2 Kor 11,24). Im Hinblick auf die Judenchristen weiß der Apostel zu berichten, dass sie unter den Juden zu leiden hatten (vgl. 1 Thess 2,14-16). Die Anmerkung „so [ist es] auch jetzt“ legt auf jeden Fall nahe, dass Paulus Gen 21,9 im Lichte der gegenwärtigen Ereignisse interpretiert. Möglicherweise wurden auch die galatischen Gemeindeglieder von den Juden verfolgt oder Paulus deutete zumindest das Verhalten der Juden so. Dann wäre ein aktueller, die Adressaten konkret betreffender Anlass dafür gegeben, dass Paulus überhaupt von Verfolgung spricht. Allerdings lässt sich eine gegenwärtige Verfolgung der galatischen Gemeindeglieder durch Juden nicht nachweisen. Aus dem Galaterbrief geht nur hervor, dass judaistische Prediger - es dürfte sich wohl eher um (Juden-)Christen als um Juden handeln - versuchen, die Christen in Galatien zum genauen Halten der jüdischen Satzungen und Gebote zu bewegen. Sollte Paulus etwa dieses Bestreben als Verfolgung ansehen?
Weiterführende Literatur: Gemäß K. J. Thomas 1986, 445-446 entspreche Paulus‘ Gebrauch des Begriffs „Bund“ in Verbindung mit Isaak als dem aufgrund einer Verheißung gezeugten Sohn dem Strang im Buch Genesis, der die Segnungen in den Bund einschließe und sie auf Isaak und seine Nachkommen beschränke. Paulus beziehe sich unmittelbar auf eine auf Gen 21,9 basierende jüdische Tradition, die davon ausgehe, dass Ismael wegen des Erbes mit Isaak stritt und ihn zu töten suchte.
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Beobachtungen: Der Apostel verweist auf die Schrift, konkret Gen 21,10. Der Schriftbeleg enthält die Aufforderung, die Sklavin und ihren Sohn hinauszuwerfen. Ergeht die Aufforderung auch an die Adressaten? Sollte dies der Fall sein, so würde sich die Frage stellen, was genau die Adressaten tun sollen. Sicher ist nur, dass eine Vertreibung gefordert wäre. Doch wer soll vertrieben werden? Sollte Paulus in V. 30 die Juden mit dem Sohn der Sklavin identifizieren, dann wäre eine Judenvertreibung gefordert. Sind jedoch konkret die judaistischen Prediger im Blick, dann wäre der Rauswurf der judaistischen Prediger aus den Gemeinden der Adressaten gefordert. Letztere Deutung ist wahrscheinlicher, weil die Bedrängung der galatischen Christen durch die judaistischen Prediger der Anlass des Galaterbriefes ist. Die Ausführungen zum Judentum sind im Zusammenhang mit dieser Bedrängung zu sehen. Möglich ist auch, dass diejenigen Gemeindeglieder, die sich von den judaistischen Predigern haben vereinnahmen lassen, aus der Gemeinde ausgeschlossen werden sollen.
Mittels des Verweises auf Gen 21,10 unterstreicht Paulus auch, dass die Juden oder judaistischen Prediger an dem verheißenen Heil keinen Anteil haben, es nicht „erben“. Das „Erbe“ ist untrennbar mit der Freiheit, der Rechtfertigung aus Glauben, verbunden. Der Sklavendienst, das genaue Halten der jüdischen Satzungen und Gebote, schließt vom „Erbe“ aus.
Weiterführende Literatur: Mit dem Zitat Gen 21,10 in Gal 4,30 greife Paulus laut F. Wilk 1998, 235-236 die Aussagen von Jes 53,12aLXX; 54,3bLXX auf. Darüber hinaus rezipiere er in 4,30-5,1 auch Jes 54,17bLXX.
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Beobachtungen: Zum Beginn von V. 31 gibt es verschiedene Textversionen. Der am besten bezeugte Text bietet „dio“ („deshalb“). Demnach ist V. 31 die Schlussfolgerung von V. 21-30. Die Frage, wie sich das Heil erlangen lässt, ist für die Christen zentral. Aus der Tatsache, dass sich durch das sorgfältige Befolgen der jüdischen Satzungen und Gebote nicht das Heil erlangen lässt, ist zu folgern, dass sich Christen nur auf den Glauben an Jesus Christus verlassen sollen; nur dann werden sie zu „Erben“.
Neben der Textvariante „ara“ existiert auch noch eine solche, die „hêmeis de“ („wir aber“) bietet und somit V. 31 als Einleitung zu 5,1-6 erscheinen lässt. Die Übersetzung von V. 31 ist demnach: „Wir aber, Geschwister, sind nicht Kinder einer Sklavin, sondern der Freien.“ Auch 5,1a betont das „wir“ und unterstreicht, dass „wir“ zur Freiheit berufen sind.
Weiterführende Literatur:
Literaturübersicht
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