Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Galaterbrief

Der Brief des Paulus an die Galater

Gal 6,11-18

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Gal 6,11-18



Übersetzung


Gal 6,11-18: 11 Seht, mit wie großen Buchstaben ich euch eigenhändig geschrieben habe! 12 Die im Fleisch einen guten Eindruck machen wollen, die nötigen euch zur Beschneidung, nur damit sie nicht wegen des Kreuzes (des) Christi verfolgt werden. 13 Denn nicht einmal diejenigen, welche sich beschneiden lassen, halten selber das Gesetz, sondern sie wollen, dass ihr euch beschneiden lasst, damit sie sich mit eurem Fleisch rühmen. 14 Mir aber geschehe es auf keinen Fall, mich zu rühmen, es sei denn des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch das mir [die] Welt gekreuzigt ist und ich [der] Welt. 15 Denn weder Beschneidung gilt etwas noch Vorhaut, sondern [nur] neue Schöpfung. 16 Und alle, die sich an dieser Richtschnur ausrichten werden - Friede [komme] über sie und Erbarmen, auch über das Israel (des) Gottes. 17 In Zukunft mache mir keiner mehr Schwierigkeiten; ich trage nämlich die Malzeichen (des) Jesu an meinem Körper. 18 Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus [sei] mit eurem Geist, Geschwister. Amen.



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V. 11


Beobachtungen: Gal 6,11-18 bildet den Briefschluss, in dem auffälligerweise Grüße an galatische Gemeindeglieder fehlen. Möchte Paulus angesichts der schwierigen Situation in Galatien einen allzu engen Kontakt zwischen den dortigen und den übrigen Gemeinden vermeiden?


Paulus weist mittels der Aufforderung „seht!“ auf zwei Besonderheiten seines Briefes hin:

Er hat „pêlikois ... grammatois“ geschrieben. Der griechische Plural „grammata“ ist gewöhnlich mit „Buchstaben“ zu übersetzen, kann aber auch ausnahmsweise mit „Brief(e)“ übersetzt werden (vgl. Apg 28,21). Entscheidet man sich für die Übersetzung „Buchstaben“, dann ist ausgesagt, dass Paulus in großen Buchstaben geschrieben hat. Entscheidet man sich dagegen für die Übersetzung „Brief“, dann ist ausgesagt, dass er einen großen, d. h. langen Brief geschrieben hat. Erstere Übersetzung ist wahrscheinlicher, weil Paulus an allen Stellen, in denen er eindeutig einen Brief meint, den Begriff „epistolê“ („Brief“) benutzt. Es stellen sich nun die Fragen, was genau „große Buchstaben“ sind und welche Bedeutung die Größe hat. Unter „großen Buchstaben“ sind wohl kaum große Buchstaben im Sinne von Majuskeln zu verstehen, denn die Paulusbriefe dürften grundsätzlich in Majuskeln geschrieben worden sein. Eher ist an besonders groß geschriebene Majuskeln zu denken, wobei die Übergröße - der Unterstreichung oder dem Fett- oder Kursivdruck entsprechend - vermutlich der Heraushebung des Geschriebenen diente und so dessen Bedeutung betonte. Diese Deutung legt sich angesichts der besonderen Bedeutung des Inhaltes des Galaterbriefes nahe, der ja in einer Zeit der besonderen Bedrohung der galatischen Gemeinden und der Kirche insgesamt durch Wanderprediger, die die Beschneidung auch der Heidenchristen und das Halten der Satzungen und Gebote der hebräischen Bibel (= AT) forderten, geschrieben wurde. Das Schreiben von großen Buchstaben kann auch auf ein Augenleiden, unbewegliche Hände oder eine sonstige körperliche Beeinträchtigung zurückzuführen sein. Allerdings kommt Paulus im Galaterbrief nur am Rande auf eine „Schwäche des Leibes“ (vgl. 4,13-14) zu sprechen. Von daher ist nicht allzu wahrscheinlich, dass Paulus durch einen Hinweis auf große, möglicherweise krakelige Schrift bei den Adressaten Mitleid erregen will.

Paulus hat eigenhändig geschrieben, was insofern erwähnenswert ist, als Briefe in der Antike gewöhnlich einem Schreiber diktiert wurden. Unklar ist, welchen Umfang des Galaterbriefes das eigenhändig Geschriebene einnimmt. Da Paulus keine Einschränkung vornimmt, ist zunächst davon auszugehen, dass der ganze Brief in großen Buchstaben und dazu eigenhändig verfasst wurde. Dass das Verb „schreiben“ in der Zeitform Aorist (= Zeitstufe Vergangenheit) steht, heißt nicht unbedingt, dass 16,11 und die folgenden Verse nicht mehr zu dem groß und eigenhändig Geschriebenen zählen. Paulus kann nämlich zum einen den Briefschluss als schon abgeschlossen ansehen, obwohl er noch am schreiben ist, zum anderen kann er aber auch vom Standpunkt der Adressaten aus schreiben, die beim Lesen einen komplett in der Vergangenheit verfassten Brief inklusive Briefschluss in den Händen halten. Aus dem Fehlen eines Hinweises auf einen begrenzten Umfang des groß und eigenhändig Geschriebenen ist allerdings auch nicht zu schließen, dass auf jeden Fall der gesamte Brief in großer und eigenhändiger Schrift verfasst wurde. Paulus kann nämlich davon ausgehen, dass die Adressaten - zumindest diejenigen, die den Brief in der Gemeindeversammlung lesen - die Abgrenzung vor Augen haben. Eine spekulative Abgrenzung anhand von Vermutungen, welche Abschnitte Paulus wohl als besonders wichtig erachtet haben könnte, ist wenig sinnvoll. Am ehesten ist eine Einschränkung auf den Briefschluss begründbar, denn diesen führt Paulus ja mit dem Hinweis auf die große und eigenhändige Schrift ein und im Ersten Korintherbrief ist die Eigenhändigkeit gemäß 16,21 ausdrücklich auf den Gruß begrenzt. Die Eigenhändigkeit beweist die Authentizität des Briefes, ähnlich wie die unter moderne maschinen- oder computergeschriebene Briefe gesetzte Unterschrift eine Beglaubigung darstellt.


Weiterführende Literatur: Erst der chiastische Rahmen 5,1-12; 6,11-17 bringe laut F. J. Matera 1988, 79-91 den Höhepunkt des Briefziels, die direkte Warnung vor der Beschneidung. Auch das dazwischengeschaltete paränetische Material (5,13-6,10) konstituiere nicht einen eigenen, ethischen Briefteil, sondern sei auf das Argumentationsziel hingeordnet.


J. A. D. Weima 1993, 90-107 zählt zunächst die Besonderheiten des Schlusses des Galaterbriefes auf, bevor er die Funktion dieses ungewöhnlichen Schlusses als Schlüssel für die Auslegung des Briefes deutlich macht. Die Besonderheiten seien: a) Der Briefschluss werde mittels einer ausgedehnten autographischen Formel, in denen Paulus zwecks Unterstreichung der Bedeutung der letzten Worte in großen Buchstaben schreibe, eingeleitet. b) Es folge ein ungewöhnlich langer Abschnitt mit abschließenden Aussagen, in denen Paulus verärgert das falsche Evangelium und die eigennützigen Motive seiner Gegner seinem eigenen, wahren Evangelium und seinem eigenen, selbstlosen Verhalten gegenüberstelle. c) Der Friedenssegen sei bedingt. d) Der Friedenssegen identifiziere diejenigen in Galatien, die Paulus und seinem Evangelium gegenüber treu sind, mit der auffallenden und einzigartigen Formulierung „das Israel (des) Gottes“. e) Die abschließende Ermahnung (V. 17) erfolge in einem scharfen Tonfall und diene so Paulus selbst zur Verteidigung und seinen Gegnern gegenüber als Drohung. f) Paulus richtet keine persönlichen Grüße aus. g) Dem Briefschluss mangelt es an jeglichem Lob oder Dank. Der ungewöhnliche Briefschluss als Auslegungsschlüssel mache deutlich, dass es Paulus im Brief an die Galater nicht in erster Linie um die durchaus wichtigen Aspekte „Gerechtigkeit“, „Glaube“ oder „Geist“ gehe, sondern um das Kreuz Christi.


Laut V. Stogiannos 1985, 11-23 stelle sich im Blick auf den auffallenden Briefschluss zunächst eine philologische Frage: Warum hat Paulus sich von dem traditionellen Briefschluss entfernt? Hinzu komme die historische Frage: Wie sah die konkrete Situation in Galatien aus, die Paulus eventuell dazu veranlasst hat, im Galaterbrief eine besondere Gestalt des Briefschlusses zu wählen? Schließlich sei theologisch zu fragen: Was bedeutet diese Abweichung inhaltlich für Theologie und Kirche heute? Auf diese Fragen versucht V. Stogiannos eine Antwort zu geben, nachdem er zuvor eine Exegese von Gal 6,11-18 vorgelegt hat. Zu der historischen Frage: Die judaisierenden Gegner des Apostels, die die Heilsnotwendigkeit der Beschneidung betonten, hätten bei den Galatern Erfolg gehabt, und es sei zweifelhaft, ob der Brief des Apostels viel an der Situation geändert hat. Zur philologischen Frage: Dass die schlechte Laune des Apostels die Schuld daran trage, habe man seit der Zeit des Chrysostomos des Öfteren gesagt. Eventuell sei das Verhältnis des Apostels zu den Kirchen Galatiens nicht besonders eng gewesen, sodass zu ihnen nicht so persönliche Beziehungen bestanden wie zu anderen Gemeinden. Eben deshalb habe er auch keine persönlichen Grüße auszurichten gehabt. Zur theologischen Frage: In seinen eigenhändig geschriebenen Worten lehre uns Paulus, dass Christsein die Zugehörigkeit zu der neuen Schöpfung Gottes ist und dass man diese neue Schöpfung immer wieder gegenüber der alten Welt in Wort und Tat zu verteidigen hat.


J. Nijenhuis 1981, 255-258 nennt zunächst zwei in der Vergangenheit vorgebrachte Thesen, die seiner Meinung nach einer genaueren Überprüfung nicht standhalten, bevor er seine eigene These nennt. Zu den beiden bisher vorgebrachten Thesen: a) Paulus habe wegen schlechter Augen groß geschrieben. Einwand: Keine Aussage des Apostels lasse sich überzeugend auf eine vorliegende Augenkrankheit hin deuten, auch nicht diejenige, dass ihm ein „Dorn ins Fleisch“ gegeben sei (vgl. 2 Kor 12,7). b) Paulus habe in großer Schrift geschrieben, weil er schlecht ausgebildet war. Menschen mit schlechter Schulbildung neigten dazu, groß zu schreiben, weil dies leichter für sie sei. Einwände: Paulus sei gebildet gewesen. Außerdem sei das schwierige griechische Alphabet den Schülern zuerst in kleiner Schrift beigebracht worden. Laut J. Nijenhuis sei vielmehr anzunehmen, dass Paulus mittels einer großen Schrift die Wichtigkeit des Geschriebenen unterstrichen hat. Auf diese Weise habe Paulus seine innere Schüchternheit überwunden und den kraftvollen Eindruck seiner Briefe (vgl. 2 Kor 10,10-11) verstärkt.


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V. 12


Beobachtungen: In V. 12 legt Paulus die vermeintlichen Beweggründe der judaistischen Prediger für ihr Verhalten dar: Sie wollen im Fleisch einen guten Eindruck machen und der Verfolgung wegen des Kreuzes Christi entgehen.

Die Formulierung „im Fleisch“ dürfte den Gegensatz zu „im Geist“ meinen. Gemäß Paulus sollen die Christen dem Geist folgen, weshalb er befürworten dürfte, wenn jemand „im Geist“ vor Gott einen guten Eindruck machen will. Einen guten Eindruck „im Fleisch“ lehnt er dagegen ab. Dabei dürfte in V. 12 wohl mit dem „Fleisch“ kaum das Fleisch des Körpers ohne symbolische Bedeutung gemeint sein. Auch ist wohl nicht in erster Linie ein lasterhaftes Leben, wie es insbesondere in 5,16-26 mit dem „Fleisch“ verbunden wird, im Blick. In Verbindung mit 6,13 ist vielmehr anzunehmen, dass Paulus mittels der Formulierung „im Fleisch“ auf die symbolische Bedeutung der Entfernung des Fleisches der Vorhaut des Gliedes anspielt. Mit der Entfernung der Vorhaut ist die Verpflichtung auf das Halten der Satzungen und Gebote der hebräischen Bibel (= AT) verbunden. Gemäß Paulus wollen also die judaistischen Prediger einen guten Eindruck machen, indem sie die Beschneidung und damit auch das Halten der jüdischen Satzungen und Gebote fordern.

Auf wen soll ein guter Eindruck gemacht werden? Paulus ist die Rechtfertigung der Christusgläubigen vor dem endzeitlichen Weltgericht wichtig. Von daher könnte man annehmen, dass auf den endzeitlichen Richter Jesus Christus bzw. Gott ein guter Eindruck gemacht werden soll. Allerdings ist von Jesus Christus oder Gott keine Verfolgung wegen des Kreuzes Christi zu erwarten. Die Verfolgung geht von Menschen aus, und zwar von Juden, die die Anhänger des Gekreuzigten für Anhänger eines Verfluchten halten (vgl. Dtn 21,23), oder von römischen Behörden, die in den Christen politische Unruhestifter sehen (vgl. die Ausführungen zu 2 Kor 11,25) oder auch vom heidnischen Volk, das angesichts der Fremdgläubigen eine Bedrohung des rechten Kultes, der gesellschaftlichen Ordnung oder des wirtschaftlichen Wohlergehens befürchtet (vgl. Apg 7,54-60; 14,8-20; 19,23-40). Die Beschneidung dürfte am ehesten die Juden und die römischen Behörden, die im Judentum eine im Römischen Reich zulässige Religion sehen, beeindrucken, weshalb diese wohl am ehesten als Verfolger im Blick sein dürften. Dazu passt, dass das „Kreuz Christi“ gemäß den Ausführungen in 3,1-5,12 die Rechtfertigung aus Glauben und die Befreiung vom jüdischen Religionsgesetz meint. Es ist also zu vermuten, dass Paulus den judaistischen Predigern vorwirft, sie leugnen die Rechtfertigung aus Glauben und die Befreiung vom jüdischen Religionsgesetz, weil sie sich vor der Verfolgung durch Juden und durch die römischen Behörden fürchten. Gegen diese Vermutung ist jedoch einzuwenden, dass auch bei einer Beschneidung und damit verbundener Gesetzestreue das Ärgernis des Christusglaubens und damit - zumindest aus jüdischer Sicht - ein Verfolgungsgrund bleibt. Mit der Beschneidung und der Gesetzestreue wären also nur die Judenchristen gänzlich zufrieden gestellt. Doch sollten die Heidenchristen von den Judenchristen tatsächlich Verfolgung zu befürchten haben? Angesichts des polemischen Charakters von V. 12 ist zu bedenken, dass Paulus möglicherweise sowohl die Zufriedenstellung der Juden und römischen Behörden als auch die Verfolgung seitens der Judenchristen übertreibt und damit den wirklichen Sachverhalt nicht korrekt wiedergibt. Auf diese Weise kann er die von ihm unterstellte Feigheit der judaistischen Prediger betonen. Dass den Apostel seine eigene Verfolgungssituation innerlich aufwühlt, zeigt 5,11. Dort weist er den Vorwurf, er würde die Beschneidung predigen, weit von sich, indem er darauf hinweist, dass er bei einer solchen Predigt ja nicht mehr verfolgt werden bräuchte. Christusgemäße Verkündigung bringt laut Paulus Verfolgung mit sich.


Unklar ist, wie die Nötigung zur Beschneidung erfolgt. Dass sie Gewaltanwendung beinhaltet, dafür gibt es keinen Hinweis. Eine solche hätte vermutlich auch eine heftigere Reaktion des Apostels bewirkt. Vielmehr ist an ein Eindringen auf die Gemeindeglieder mit überzeugenden und überredenden Worten zu denken.


Weiterführende Literatur: M. A. Buscemi 1983, 153-192 befasst sich mit formalen Aspekten von Gal 6,11-18 (v. a. literarische Struktur) und geht auf zentrale Begriffe des Abschnittes ein. Besonderes Augenmerk schenkt er dabei den Begriffen „Gesetz“ und „Kreuz“. Die Botschaft vom „Kreuz“ sei für das Christentum grundlegend.


B. C. Winter 1994, 133-143 versteht Gal 6,11-18 auf dem Hintergrund der Verpflichtung der Bürger des Römischen Reiches zum Kaiserkult. Die Absicht, die Christen mittels Beschneidung und Gesetzesbefolgung möglichst gänzlich als Juden, und damit als Angehörige einer geduldeten Religion („religio licita“) erscheinen zu lassen, sei als Versuch zu verstehen, Verfolgungen seitens der römischen Behörden zu vermeiden.


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V. 13


Beobachtungen: Mit der Beschneidung ist untrennbar die Verpflichtung auf das Halten der jüdischen Satzungen und Gebote verbunden. Allerdings lässt laut Paulus der Gesetzesgehorsam derer, die sich beschneiden lassen, zu wünschen übrig. Das ist insofern erwähnenswert, weil sie von anderen Christen etwas fordern, was sie selbst nicht einhalten und auch nicht gänzlich einhalten können (vgl. 2,16; 3,10-11). Ihres eigenen Verhaltens können sie sich also weder vor Gott noch vor den Juden und Judenchristen rühmen. Ihren Ruhm erlangen sie durch das „Fleisch“ - gemeint ist die Beschneidung - der Adressaten. So umgehen sie die Mühen, die mit der sorgsamen Befolgung der jüdischen Satzungen und Gebote verbunden sind.

Das Partizip „peritemnomenoi“ kann sowohl als Medium als auch als Passiv verstanden werden werden. In ersterem Fall lautet die Übersetzung „welche sich beschneiden lassen“, in letzterem Fall „welche beschnitten werden“. Diejenigen, die beschnitten werden, können sowohl die judaistischen Prediger und ihre Anhänger als auch allgemein die Juden sein. Zur Beschneidung an sich gehört kein Willensakt, denn sie erfolgt bei den jüdischen Knaben am achten Tage nach der Geburt (vgl. Gen 17,12; 21,4). Angesichts der längst erfolgten Beschneidung bietet eine Textvariante statt des Partizips Präsens ein Partizip Perfekt. In V. 13 scheinen aber nicht alle Juden im Blick zu sein, sondern nur die judaistischen Prediger und ihre Anhänger. Sie sind es nämlich, die die galatischen Gemeindeglieder bedrängen, sich beschneiden zu lassen. Da möglich ist, dass es sich zumindest bei einem Teil von ihnen um Heidenchristen handelt, die sich aus Überzeugung haben beschneiden lassen und nun Gleiches von anderen Christen fordern, scheint die Übersetzung „welche sich beschneiden lassen“ passender zu sein.


Weiterführende Literatur: A. B. du Toit 1994, 157-162 versucht eine Lösung für den scheinbaren Widerspruch zu bieten, dass Paulus den judaistischen Gegnern vorwirft, dass sie nicht das Gesetz halten, obwohl aus anderen Aussagen hervorgeht, dass die Gesetzesbefolgung bei ihnen einen hohen Stellenwert einnimmt. Er geht davon aus, dass ein hyperbolischer oder rhetorischer Kontrast vorliege. Ein hyperbolischer Kontrast formuliere einen Gegensatz in solch drastischer Form, dass sich auf der oberflächlichen Ebene des Textes seine beiden Bestandteile auszuschließen scheinen. Auf der semantischen, tiefen Ebene des Textes sei jedoch nur ein starker Vergleich festzustellen. Der Grund sei rhetorischer Art: Der Sprecher wolle die besondere Bedeutung von A im Vergleich zu B betonen. So leugne Paulus in 6,13 nicht, dass die judaistischen Gegner das Gesetz befolgen. Vielmehr wolle er herausstellen, dass es den Judaisten in Wirklichkeit wichtiger sei, hinsichtlich der Galater den physischen Zustand der Beschneidung zu rühmen als das Gesetz zu befolgen.


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V. 14


Beobachtungen: Das Rühmen mit dem „Fleisch“ der Beschnittenen hält Paulus für unzulässigen Selbstruhm, den er weit von sich weist. Einzig den Selbstruhm aufgrund des „Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus“ hält er für zulässig (vgl. 1 Kor 1,31; 2 Kor 10,17).

Das Kreuz ist Symbol für den sündenvergebenden Kreuzestod Jesu. Nur dieser kann die Rechtfertigung des Sünders vor dem endzeitlichen Weltgericht bewirken, nicht jedoch das Vertrauen auf menschliche Weisheit oder auf eigene Werke, zu denen auch das genaue Befolgen der Satzungen und Gebote der hebräischen Bibel (= AT) gehört.


Durch das „Kreuz unseres Herrn Jesus Christus“ ist dem Apostel die „Welt“ gekreuzigt. Mit der „Welt“ ist wohl nicht die physische Welt und das diesseitige Leben an sich gemeint. Vielmehr dürfte er die Wertvorstellungen und Richtschnüre der irdischen Welt im Blick haben. Diese lehnt er ab, bezeichnet in 1,4 die jetzige Weltzeit als böse. In 4,3-5 spricht er davon, dass die Christen durch das mit Jesus Christus verbundene Heilsgeschehen von der Knechtschaft unter die „Elemente der Welt“ befreit worden sind. Die Orientierung an irdischen Grundprinzipien, Gestirnen und auch an den Satzungen und Geboten der hebräischen Bibel (= AT) kommt von nun an nicht mehr in Frage. Das ganze Leben des Paulus ist verändert, was in der Aussage zum Ausdruck kommt, dass auch er der „Welt“ gekreuzigt ist. Das neue Leben orientiert sich allein an dem gekreuzigten und von den Toten auferstandenen „Herrn“ Jesus Christus, in dessen Machtbereich Paulus mit der Taufe hineingetreten ist.

Das Verb „gekreuzigt“ bedeutet nicht einfach nur „gestorben“, sondern verweist auf die zentrale Bedeutung des Kreuzestodes Jesu für das Leben der Christen. Die Kreuzigung war kein aktives Geschehen, sondern ein Geschehen, das an der passiven „Welt“ und dem passiven Apostel erfolgte. Wer gehandelt hat, bleibt offen; am ehesten ist an Gott zu denken, der durch Jesus Christus gehandelt hat.


Weiterführende Literatur: I.-G. Hong 1991, 1-16 befasst sich mit für die Argumentation des Briefes zentralen Versen, darunter auf S. 11-12 auch mit Gal 6,14. Durch die Teilhabe an der Kreuzigung Christi seien die Gläubigen von dieser Welt befreit und ins Reich Gottes versetzt worden.


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V. 15


Beobachtungen: Der Beschneidung kann man sich nicht rühmen, weil sie im Hinblick auf die Rechtfertigung vor Gott nichts gilt. Gleiches gilt für die Vorhaut, also den Verzicht auf die Beschneidung. Wenn beides nichts gilt, so bedeutet dies nicht, dass Beschneidung und Beibehalt der Vorhaut als negativ zu bewerten ist. Beides ist nur eben nicht heilsrelevant. Entscheidend ist die „neue Schöpfung“ (oder: „neues Geschöpf“). Der Begriff macht deutlich, dass mit dem Christusglauben und der in V. 15 dargelegten beiderseitigen Kreuzigung eine Verwandlung des ganzen Menschen erfolgt. Von nun an ist er dem neuen „Herrn“, Jesus Christus, unterstellt und setzt sein Heil auf dessen sündenvergebenden Kreuzestod und Auferstehung (vgl. 2 Kor 5,17). Der Heilsglaube soll durch die Nächstenliebe tätig werden, womit das ganze biblische „Gesetz“ erfüllt wird (vgl. Gal 5,6.14). Dies ist die Richtschnur (kanôn) der Christen.


Weiterführende Literatur: G. Nebe 2002, 111-137 befasst sich mit der Schöpfung in der paulinischen Theologie und kommt auf S. 120-125 auch auf Gal 6,15 zu sprechen. Bezüglich dieses Verses schreibt er zur „neuen Schöpfung“: Die „neue Schöpfung“ breche in die gegenwärtige Realität des Kosmos, der Welt und des zum Tode verurteilten Leibes herein. Paulus und die Christen seien eine „neue Schöpfung“, weil sie durch das Kreuz Jesu Christi der Welt gekreuzigt seien und die Welt ihnen. Die „neue Schöpfung“ sei mit dem neuen christlichen Leben verbunden.

Auch B. Corsani 1991, 309-315 geht im Rahmen seiner Abhandlung über die „neue Schöpfung“ im NT auf Gal 6,15 ein. Unsere heutige Welt samt ihren Schemata werde überwunden und habe keine Relevanz mehr.

J.-Y. Thériault 1991, 295-297 geht auf die beiden Übersetzungsmöglichkeiten „neue Schöpfung“ und „neues Geschöpf“ ein. „Neue Schöpfung“ bezeichne die geistliche und moralische Erneuerung, die neuartige Lebensweise, wogegen „neues Geschöpf“ die Betonung auf die Umwandlung der Person und den neuen Verhaltensmaßstab, der ihr Leben von nun an prägt, lege.

C. Hoegen-Rohls 2001, 143-153 fragt, wie es klingt, wenn Paulus in 2 Kor 5,17 und Gal 6,15 von „Neuer Schöpfung“ spricht. Sie konzentriert sich dabei auf Stilmittel des Wortschatzes sowie auf den mikrostilistischen Bereich der Satzebene, um hier „kainê ktisis“ („Neue Schöpfung“) als klangstilistisches Merkmal wahrzunehmen, durch das theologisch relevante Inhalte artikuliert werden. Exemplarisch könne dabei deutlich werden, dass die Klangstruktur eines Textes zu jenen Faktoren gehört, durch die nicht nur seine rhetorische Wirkung und seine pragmatische Absicht verstärkt, sondern auch seine semantische Leistung entscheidend geprägt wird. Antwort: Wenn Paulus von „Neuer Schöpfung“ spreche, dann müssten wir den soteriologisch-eschatologischen Klang der „Neuen Schöpfung“ zur Geltung bringen, der in der paulinischen Christologie begründet sei. Wenn Paulus von „Neuer Schöpfung“ spreche, dann erklinge die Wahrheit seines Evangeliums von der Heilsbedeutung des Todes Jesu, die seine Hörerinnen und Hörer zur „kainotês“, zur eschatologischen Neuheit des Lebens führe.


M. V. Hubbard 2002, 188-241 skizziert den Gedankengang von Paulus wie folgt: Weil die Galater den Geist empfangen hätten (vgl. 3,3.14; 4,6), durch den Geist „lebendig gemacht“ (vgl. 3,21-22 in Zusammenhang mit 3,14 und 5,25) und „gezeugt“ worden seien (vgl. 4,29), weil sie aus dem Geist „lebten“ (vgl. 5,25) und von ihm geleitet seien (vgl. 5,16.18.25) und weil sie durch den Geist in ihren Herzen „Kinder“ und „Erben“ seien (vgl. 4,6-7), seien Gesetz und Beschneidung nicht länger relevant. Dieser Gedankengang könne laut M. V. Hubbard hervorragend unter der Überschrift „das Motiv der Beschneidung“ zusammengefasst und knapp mittels der Aussage „Denn weder Beschneidung gilt etwas noch Vorhaut, sondern [nur] neue Schöpfung.“ wiedergegeben werden.


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V. 16


Beobachtungen: V. 16 enthält einen Segenswunsch. Er gilt allen, die sich an der Richtschnur ausrichten werden und dem Israel Gottes. Es ist fraglich, ob es sich tatsächlich um zwei verschiedene Gruppen handelt oder ob nicht vielmehr das „und“ („kai“) explikativ zu verstehen ist. In letzterem Fall würden diejenigen, die sich an der Richtschnur ausrichten werden, als „Israel Gottes“ bezeichnet.

„Diejenigen, die sich an dieser Richtschnur ausrichten werden“ richten sich - wie das Verb im Futur zeigt - nicht unbedingt schon in der Gegenwart an der Richtschnur (vgl. V. 14) aus. Im Blick sind also vermutlich in erster Linie die verunsicherten Adressaten, die sich zum Teil von den judaistischen Predigern haben überzeugen lassen. Wollen diejenigen, die sich von der Theologie des Paulus abgewandt haben, am Segen Anteil haben, so müssen sie wieder zur rechten paulinischen Lehre zurückkehren. Selbstverständlich können sich auch andere Menschen als die abtrünnig gewordenen galatischen Gemeindeglieder an der Richtschnur ausrichten. Im Falle der Juden und Heiden setzt dies jedoch die Bekehrung zu Christus, und zwar gemäß dem von Paulus gepredigten Glauben, voraus.

Zum „Israel (des) Gottes“ können nur Christen und/oder Juden gehören. Da der Gott JHWH mit seinem Volk Israel einen Bund geschlossen hat und Israel so zu seinem Volk und JHWH zu Israels Gott geworden ist, ist bei der Formulierung „Israel (des) Gottes“ zunächst an das Volk Israel, also die Juden zu denken. Allerdings folgt das Volk Israel - von den Judenchristen abgesehen - nicht der in V. 14 dargelegten Richtschnur, weil es das genaue Halten der Satzungen und Gebote als heilsrelevant ansieht. Sofern man nicht davon ausgehen will, dass der Segenswunsch zwei Menschengruppen gilt, die sich an verschiedenen Richtschnüren orientieren, kann der Segenswunsch nicht den Juden gelten. Auch die Christen zählt Paulus zum Volk Israel, das er in Röm 11,17-24 mit einem Ölbaum vergleicht. Der Ölbaum ist nicht deckungsgleich mit dem Volk Israel der Abstammung nach, sondern mit dem Volk Israel dem Glauben nach. Entscheidend ist der Glaube an Jesus Christus, den dem Volk Israel verheißenen Messias. Die Christusgläubigen bilden das wahre Israel. Dazu gehören auch die Judenchristen, denn die Beschneidung beurteilt Paulus ja so lange nicht als negativ, wie sie nicht als heilsrelevant angesehen wird. Die verstockten Juden, die von Jesus Christus nichts wissen wollen, sind die abgebrochenen Zweige. Sie setzen ihr Heil auf das sorgsame Halten der Satzungen und Gebote und gehen damit verloren. Paulus kann nur hoffen, dass auch ihre Verstockung gelöst und sie gerettet werden, sobald die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist (vgl. Röm 11,25-32). Die Heiden bekommen dadurch am Heil Anteil, indem sie sich zu Jesus Christus gemäß der paulinischen Theologie bekehren und taufen lassen. Sie vergleicht Paulus mit wilden Ölzweigen, die in den Ölbaum, das Volk Israel, eingepfropft werden. Der Gott dieses Israels ist untrennbar mit Jesus Christus verbunden. Für Gal 5,16 bedeutet dies, dass das „Israel (des) Gottes“ alle Menschen sind, die an Jesus Christus und seinen Gottvater glauben, und zwar wie es der paulinischen Theologie entspricht. Obwohl nicht ausgeschlossen ist, dass das zukünftige „Israel (des) Gottes“ deckungsgleich mit „denjenigen, die sich an dieser Richtschnur ausrichten werden“ ist, fällt doch bei letzterer Gruppe im Gegensatz zur ersteren die Betonung der Zukünftigkeit der Ausrichtung an der Richtschnur auf. Betrachtet man die konkrete Situation in den galatischen Gemeinden, die den Hintergrund des Galaterbriefes darstellt, so dürften „alle, die sich an dieser Richtschnur ausrichten werden“ vermutlich in erster Linie diejenigen Adressaten meinen, die zwar gegenwärtig verunsichert und vielleicht auch von der paulinischen Theologie abgekommen sind, sich jedoch zukünftig wieder an der rechten Richtschnur orientieren. Die Formulierung „Israel (des) Gottes“ dürfte darüber hinaus die gesamte Schar der Christusgläubigen gemäß der paulinischen Theologie umfassen.


Zu dieser Beobachtung passt der Inhalt des Segens: „Friede komme über sie und Erbarmen.“ Er erinnert an die Segensformel, mit der Paulus seine Briefe einleitet (vgl. Röm 1,7; 1 Kor 1,3 u. ö.). Die Briefe sind nur an Christen gerichtet, weshalb die einleitende Segensformel auch nur sie betrifft. Der Friede soll „über“ sie kommen, und zwar von oben, vom Himmel. Es handelt sich also um den Frieden Gottes und des „Herrn“, Jesus Christus. Mit dem Frieden ist vermutlich kein seelischer Zustand gemeint, aus dem der Friede der Christen untereinander resultiert, sondern das durch Jesus Christus bereinigte Verhältnis zu Gott.

Wesentlich für das bereinigte Verhältnis zu Gott ist das Erbarmen, das gnädige Vergeben der Sünden, wofür Jesu Kreuzestod für die menschlichen Sünden die Grundlage darstellt.

Möglicherweise orientiert sich die Formulierung des paulinischen Segenswunsches an Ps 125,5 (= 124,5LXX); 128,6 (= 127,6LXX), wo es heißt „Friede über (das) Israel“. In der paulinischen Formulierung finden sich die beiden Ergänzungen „und Erbarmen“ und „Israel (des) Gottes“.


Weiterführende Literatur: C. Breytenbach 2005, 37-54 versucht anhand einer Auswahl wichtiger Texte des Paulus aufzuzeigen, dass Paulus seine theologischen Formulierungen an urchristlicher, liturgischer Tradition anlehne, die ihrerseits die Tora-Rezeption des griechisch sprachigen Frühjudentums sowohl in der Sprache als auch in der Sache aufnehme. Es zeige sich somit, dass die theologischen Grundsätze der Verkündigung des Paulus v. a. im urchristlichen Bekenntnis und Lobpreis beheimatet waren. Auf S. 51-53 geht C. Breytenbach auf die theologische Aussage „Gott, von dem Mitleid und Friede sind“ in Gal 6,16 ein. Das Nomen „eleos“ bedeute „Gnade/Mitleid/Mitgefühl“.


G. K. Beale 1999, 204-223 vertritt die Ansicht, dass die Formulierung „Friede und Erbarmen“ in Gal 6,16 auf dem Hintergrund der atl. Verheißung von Israels Wiederherstellung in Jes 54,10 und der Thematisierung der „neuen Schöpfung“ in Jes 32-66 zu verstehen sei.


Laut W. Kraus 1996, 352-357 trete die Kirche aus Juden- und Heidenchristen die Erbschaft des bisherigen Gottesvolkes, des Volkes Israel „dem Fleische nach“, an. Dabei sei Gal 6,16 der einzige Beleg, an dem Paulus dem atl. Gottesvolk seine Stellung ausdrücklich streitig macht. Der Vers sei situationsbezogen zu verstehen. Grundsätzlich bekämen die Heiden als Zweiterwählte über Jesus zwar Anteil an den Väterverheißungen und am künftigen Erbe, aber sie würden nicht mit Israel, den Ersterwählten, identisch. Paulus gehe also nicht von einer Enterbung Israels aus. Dass alle Heiden- und Judenchristen zum „Israel Gottes“ gehören, nimmt auch E. Gräßer 1985, 222-223 an. Vgl. W. Klaiber 1982, 27-29. Ähnlich G. K. Beale 1999, 205-207, der jedoch die Formulierung – geographisch eingeschränkt – nur auf die Heiden- und Judenchristen Galatiens bezieht.

Eine andere Meinung vertritt M. Bachmann 1999, 159-189: Die von ihm zusammengestellten Indizien, die sich aus dem Galaterbrief als Kontext der Wendung „Israel Gottes“, aus dem paulinischen Gebrauch der Israel-Terminologie und aus derjenigen Begrifflichkeit ergeben, mit welcher der Apostel sonst Heiden als zum Volk Gottes gehörig charakterisiert, überdies aus jüdischen Parallelen zum Segenswort von Gal 6,16, wiesen in ein und dieselbe Richtung, dass nämlich bei „das Israel (des) Gottes“ nicht auch Christen aus den Heidenvölkern, sondern allein Juden – und dabei schwerlich lediglich Judenchristen – im Blick seien. M. Bachmann 2002, 500-512 betont, dass der Apostel den Begriff „Israel“ grundsätzlich auf wirkliche Juden beziehe. Für 6,16 bedeute das, dass der Apostel – ähnlich wie in Röm 11,26 – seine Hoffnung auf das endzeitliche Handeln Gottes zugunsten des realen Judentums erkennen lässt.

Auch S. G. Eastman 2010, 367-395 folgt dieser Minderheitenmeinung. Meist werde angenommen, dass in Gal 6,16 mit "Kirche (des) Gottes" die Kirche gemeint sei, sei es die Kirche als Ganzes oder ein Teil von ihr, in Röm 9-11 dagegen "Israel" das empirische Israel bezeichne. Es seien demnach zwei verschiedene Gruppen im Blick. Auch wenn es für diese Annahme gute Gründe gebe, lasse die Verbindung von "Gnade" und "Israel" jedoch wahrscheinlicher erscheinen, dass "Israel" sowohl im Römer- als auch im Galaterbrief das Volk der Juden bezeichnet. In Gal 6,16 bitte Paulus um Frieden im Hinblick auf all diejenigen, die gemäß der neuen Schöpfung wandeln, und um Gnade im Hinblick auf das ungläubige Israel.


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V. 17


Beobachtungen: Die Formulierung „tou loipou“ ist vermutlich ein Genitiv der Zeit und mit „in Zukunft“ zu übersetzen. Es geht also nicht um „die übrigen“, also diejenigen, die nicht zum „Israel (des) Gottes“ gehören. Folglich ist auch nicht ausgesagt, dass die Juden oder Heiden Paulus keine Schwierigkeiten mehr machen sollen. Vielmehr soll in Zukunft keiner mehr Paulus Schwierigkeiten machen, die Adressaten eingeschlossen.

Er begründet dies damit, dass er die Malzeichen (stigmata) Jesu an seinem Körper trage. Das Substantiv „stigmata“ kann Tätowierungen, Brandmale oder auch Stiche bezeichnen. Tätowierungen kommen wohl kaum in Frage, denn Paulus kommt auf solche sonst nirgends zu sprechen. Es bliebe unklar, welcher Art denn die Tätowierungen (Plural!) sein sollen. Am ehesten wäre daran zu denken, dass er sich wie Anhänger von Mysterienreligionen hat tätowieren lassen, um auf diese Weise seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kult zu demonstrieren. So könnte die Tätowierung aus den Christusinitialen bestehen, doch ist eine solche Vermutung rein spekulativ. Zu bedenken ist, dass Paulus die „stigmata“ als Besonderheit herausstellt, die die Adressaten nicht zu haben scheinen. Dass es sich bei den „stigmata“ um Brandmale handeln könnte, ist ebenso unwahrscheinlich. Zum einen spricht der Plural dagegen, zum anderen die Tatsache, dass das Brandmal eine Bestrafung für das Fehlverhalten von Sklaven, Zwangsarbeitern oder Soldaten war und erst in nachpaulinischer Zeit allgemein zur Kennzeichnung eines sozialen Status in die Haut eingebrannt wurde. Weshalb sollte Paulus gleich mit mehreren Brandmalen versehen worden sein? Schließlich kommen noch Stiche in Frage, wobei es sich konkret um die Stiche Jesu handelt. Bei den Stichen Jesu ist an die fünf Stiche in Hände, Füße und die Seite des Leibes bei der Kreuzigung zu denken. Darüber hinaus hatte Jesus bei seiner Verurteilung weitere körperliche Misshandlungen zu erleiden. Paulus sieht sich in der Nachfolge Jesu Christi. Er ist jedoch nicht wie Jesus im eigentlichen Sinne gekreuzigt worden, sondern nur im übertragenen Sinne. Er hat im Rahmen seiner Missionstätigkeit eine Vielzahl Misshandlungen und sonstige körperliche Drangsale erlitten, die er insbesondere in 2 Kor 11,23-29 aufzählt. Diese körperlichen Leiden dürften am ehesten mit den „stigmata“ gemeint sein, weshalb die Übersetzung „Malzeichen“ am angemessensten zu sein scheint. Dass sich durch mystische Versenkung in das Leiden Jesu auf den Händen, den Füßen und der Seite des Körpers des Apostels die fünf Wundmale Jesu gebildet haben, darauf gibt es jedoch keine Hinweise.


Die körperlichen Leiden haben für Paulus deshalb eine solch herausragende Bedeutung, weil sie der Beweis für unerschütterliche Christusnachfolge auch angesichts von Bedrohungen des eigenen Lebens sind. Paulus flieht nicht wie seine Widersacher vor Verfolgungen und erweist sich so als wahrer Apostel. Folglich soll ihm in Zukunft niemand mehr Schwierigkeiten machen.


Weiterführende Literatur: Im Lichte jüngerer Studien zum Postkolonialismus untersucht J. W. Barrier 2008, 336-362 Gal, 6,11-17, um die Einflüsse aufzuzeigen, die seitens des Römischen Reiches auf Paulus hinsichtlich seines Verständnisses der Malzeichen einwirkten. Paulus verstehe sich als „Sklave Christi“, der seinem Herrn durch alle Torturen hindurch treu geblieben sei. Die Malzeichen des Paulus seien auf dem Hintergrund griechisch-römischer Sklaverei und der Folter von Sklaven, um aus ihnen für einen Prozess relevante Informationen herauszupressen, zu verstehen. Paulus als Haussklave Christi habe eine solche „basanos“ genannte Folter durchlitten und belege dies mit seinen Malzeichen. Er fordere die galatischen Christen auf, aufzustehen und ebenfalls in Opposition zu Rom ihre Loyalität Jesus Christus gegenüber zu bekennen und die Folter in Kauf zu nehmen.


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V. 18


Beobachtungen: V. 18 beinhaltet den abschließenden, konkret die Adressaten betreffenden Segenswunsch. Er schließt den Brief versöhnlich ab, wobei auch die Anrede „Geschwister“ – hier schließt das maskuline „adelphoi“ („Brüder“) sicherlich auch Frauen ein - versöhnlich stimmt. Trotz der Gefährdungen der Rechtgläubigkeit der galatischen Gemeindeglieder sieht er sie als Glaubensgeschwister an und gibt sie damit nicht verloren.


Angesichts der Tatsache, dass Paulus allein trotz aller Mühen keine Umkehr der abtrünnigen Gemeindeglieder bewirken kann, scheint die Konzentration der Segensformulierung auf die Gnade nachvollziehbar zu sein. Ohne gnadenvolles Handeln Gottes ist kein Wandel möglich. Und schließlich soll sich der Wandel ja dahingehend vollziehen, dass alle Adressaten ihre Heilshoffnung allein auf das mit Jesus Christus verbundene Heilsgeschehen setzen, das den Menschen aus reiner göttlicher Gnade zuteil wurde.


Dass einige Textzeugen das Possessivpronomen „unseres“ („hêmôn“) weglassen, also nicht „unseres Herrn Jesus Christus“, sondern „des Herrn Jesus Christus“ lesen, mag eine Anpassung an die Parallelen Phil 4,23 und Phlm 4,25 sein, wo sich auch kein Possessivpronomen findet.


Unklar ist, warum der Apostel die Formulierung „mit eurem Geist“ verwendet und nicht wie in einem Teil seiner anderen Briefe (vgl. Röm 16,20; 1 Kor 16,23; 2 Kor 13,13; 1 Thess 5,28) das kürzere „mit euch“. Da er die längere Formulierung auch in Phil 4,23 und Phlm 25 verwendet, scheint sie nichts Besonderes zu sein. Vielleicht schien sie ihm hier zu passen, weil der Geist im Abschnitt 5,13-6,10 im Mittelpunkt des Interesses stand.


Das abschließende „amên“ ist dem Hebräischen entlehnt und bedeutet „gewiss“. Das vorher Gesagte ist demnach gewiss wahr oder wird gewiss eintreten. Im Gegensatz zu den anderen paulinischen Briefen ist das „amên“ hier wohl ursprünglich und nicht erst nachträglich von einem Schreiber zugefügt worden.


Weiterführende Literatur:



Literaturübersicht


Bachmann, Michael; Kirche und Israel Gottes. Zur Bedeutung und ekklesiologischen Relevanz des Segenswortes am Schluß des Galaterbriefs, in: M. Bachmann [Hrsg.], Antijudaismus im Galaterbrief? Exegetische Studien zu einem polemischen Schreiben und zur Theologie des Apostels Paulus (NTOA 40), Fribourg 1999, 159-189

Bachmann, Michael; Verus Israel: Ein Vorschlag zu einer „mengentheoretischen“ Neubeschreibung der entsprechenden paulinischen Theologie, NTS 48/4 (2002), 500- 512 (Gal 6,16)

Barrier, Jeremy W.; Marks of Oppression: A Postcolonial Reading of Paul’s Stigmata in Galatians 6:17, BI 16/4 (2008), 336-362

Beale, G. K.; Peace and Mercy Upon the Israel of God. The Old Testament Background of Galatians 6,16b, Bib. 80/2 (1999), 204-223

Breytenbach, Cilliers; Der einzige Gott – Vater der Barmherzigkeit. Thoratexte als Grundlage des paulinischen Redens von Gott, BThZ 22/1 (2005), 37-54

Buscemi, Marcello A.; Lo sviluppo strutturale e contenuistico in Gal 6,11-18, FrancLA 33 (1983), 153-192

Corsani, Bruno; La „nuova creazione“ nel Nuovo Testamento, Prot 46/4 (1991), 309-315

du Toit, A. B.; Galatians 6,13: A Possible Solution to an Old Exegetical Problem, Neotest 28/1 (1994), 157-162

Eastman, Susan Grove; Israel and the Mercy of God: A Re-reading of Galatians 6.16 and Romans 9-11, NTS 56/3 (2010), 367-395

Gräßer, Erich; Zwei Heilswege? Zum theologischen Verständnis von Israel und Kirche, in: E. Gräßer [Hrsg.], Der Alte Bund im Neuen: exegetische Studien zur Israelfrage im Neuen Testament (WUNT; 35), Tübingen 1985, 212-230

Hoegen-Rohls, Christina; Wie klingt es, wenn Paulus von Neuer Schöpfung spricht? Stilanalytische Beobachtungen zu 2 Kor 5,17 und Gal 6,15, in: P. Müller u. a. [Hrsg.], „…was ihr auf dem Weg verhandelt habt“, Neukirchen-Vluyn 2001, 143-153

Hong, In-Gyu; The Perspective of Paul in Galatians, Scriptura 36 (1991), 1-16

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Klaiber, Walter; Rechtfertigung und Gemeinde: eine Untersuchung zum paulinischen Kirchenverständnis (FRLANT; 127), Göttingen 1982

Kraus, Wolfgang; Das Volk Gottes: Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus (WUNT; 85), Tübingen 1996

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Thériault, Jean-Yves; La portée écologique de la notion paulinienne de création, EgT 22/3 (1991), 293-313

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