Röm 3,1-8
Übersetzung
Röm 3,1-8:1 Was nun ist der Vorzug des Juden oder was ist der Nutzen der Beschneidung? 2 Viel in jeder Hinsicht! Vor allem, dass sie mit den Worten (des) Gottes betraut wurden. 3 Was ist denn, wenn einige untreu wurden? Wird dann etwa ihre Untreue die Treue (des) Gottes aufheben? 4 Mitnichten! Möge sich vielmehr (der) Gott als wahrhaftig erweisen, jeder Mensch aber als Lügner, wie geschrieben steht: „Damit du gerecht gesprochen wirst in deinen Worten und siegst, wenn man mit dir rechtet.“ 5 Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit erweist, was sollen wir sagen: Ist (der) Gott dann nicht ungerecht, wenn er das Zorn[gericht] verhängt? Ich rede nach Menschenart. 6 Mitnichten! Wie könnte (der) Gott sonst die Welt richten? 7 Wenn sich aber die Wahrhaftigkeit (des) Gottes durch meine Lüge als übergroß erwiesen hat zu seiner Verherrlichung, was werde ich dann noch wie ein Sünder gerichtet? 8 Und [gilt] etwa, wie wir verlästert werden und gewisse Leute von uns behaupten, wir sagten: „Lasst uns das Böse tun, damit [dadurch] das Gute komme!“? Das Gerichtsurteil über sie ist rechtens.
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Beobachtungen: Aus 2,1-29 ist hervorgegangen, dass weder die Beschneidung noch die Verpflichtung auf das in der hebräischen Bibel (konkret in der Tora) enthaltene jüdische Religionsgesetz beim endzeitlichen Gericht („Jüngstes Gericht“) den Juden einen Vorteil verschafft. Paulus macht deutlich, dass entscheidend ist, dass das Gesetz getan wird, und zwar im Geist und nicht durch buchstabengetreue Befolgung sämtlicher Satzungen und Gebote. Eine solche Befolgung im Geist ist nicht nur Juden, sondern auch Nichtjuden möglich. Daher unterscheidet Paulus die äußerlichen Juden von denjenigen, die es im Verborgenen sind. Damit hängt auch die Unterscheidung der äußerlichen Beschneidung der Vorhaut des Gliedes von der verborgenen „Beschneidung des Herzens“, die im Geist geschieht (vgl. 2,29). Die „Beschneidung des Herzens“ kann bei Juden und Nichtjuden erfolgen. Aus diesem Sachverhalt resultiert die Frage, welches dann der Vorzug der Juden und der Nutzen der Beschneidung ist. Diese Frage geht davon aus, dass auch dem äußeren Judesein und der Beschneidung der Vorhaut, die ja den (männlichen) Juden nach außen hin als solchen kennzeichnet, eine besondere Bedeutung zukommen müsse.
Weiterführende Literatur: Mit der Stellung und der strukturellen Funktion von Röm 3,1-8 innerhalb des weiteren Zusammenhangs 1,16-11,36 befasst sich R. Penna 1988, 507-542.
Gemäß W. S. Campbell 1981, 22-40 stelle 3,21-26 den Kern der paulinischen Theologie im Römerbrief dar. Röm 3 als Gesamtes sei der strukturelle Kern und zugleich Zeugnis der Situation, in die hinein der Brief geschrieben wurde.
S. K. Stowers 1984, 707-722 versteht 3,1-9 als Fortentwicklung der Diskussion über Gottes Unparteilichkeit in 1,18-2,29. Sie sei als dramatischer, fiktiver Dialog mit einem jüdischen Gesprächspartner gestaltet. In einer Art, die für 3,21-26 entscheidend sei, verbinde Paulus Gottes Unparteilichkeit mit Gottes Gerechtigkeit. Paulus führe den Gesprächspartner zur Einsicht, dass Gottes Treue seinem Volk Israel gegenüber und sein unparteiliches Gericht beide Aspekte seiner Gerechtigkeit sind.
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Beobachtungen: Paulus stellt klar, dass der äußerlichen Beschneidung und dem äußerlichen Judesein durchaus besondere Bedeutung zukommt. Der Vorzug des Juden und der Nutzen der Beschneidung ist „in jeder Hinsicht“. Das überrascht angesichts der vorhergehenden Aussagen. Das überrascht auch deshalb, weil nun eine Aufzählung der verschiedenen Aspekte zu erwarten wäre. Statt einer Aufzählung wird aber nur ein Punkt genannt, wobei dieser der wichtigste zu sein scheint.
Unklar ist, worum es sich bei den „Worten (des) Gottes“ („ta logia tou theou“) handelt. In der Septuaginta, bei Philo von Alexandrien und in Apg 7,38 sind mit den „logia tou theou“ bzw. „logia“ pauschal die Offenbarungsworte Gottes gemeint, die durch Mose oder die Propheten vermittelt werden. An erster Stelle sind sicherlich die auf zwei steinerne Tafeln geschriebenen Zehn Gebote zu nennen, die Mose auf dem Berg Sinai empfangen hat (vgl. Ex 20,1-17; Dtn 5,6-21). Hinzu kommt die Vielzahl anderer Gottesworte, die sich in der hebräischen Bibel (= AT) insbesondere in den prophetischen Schriften finden. Gewöhnlich handelt es sich bei den „logia“ um Verheißungsworte, nur selten findet sich eine Drohung (die Ausnahmen sind Jes 28,13LXX). Daher ist wahrscheinlich, dass auch in Röm 3,1 die „logia“ als Verheißungsworte zu verstehen sind.
Die Juden sind mit den „Worten Gottes“ betraut, was eine besondere Ehre und Verantwortung darstellt. Vermutlich ist mit dieser besonderen Obhut gemeint, dass die Juden die Worte unverfälscht den Nachkommen überliefern und die enthaltenen Satzungen und Gebote halten sollen. Die Betrauung der Juden mit den „Worten (des) Gottes“ ist wesentlicher Bestandteil des Bundesschlusses des Gottes JHWH mit seinem Volk Israel, den Juden, mit dem die Verheißungen zusammenhängen.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: In V. 3 gibt es verschiedene Möglichkeiten der Zeichensetzung, die im griechischen Urtext gefehlt haben dürfte. Der von Nestle-Aland gebotene griechische Text (27. Aufl.) begrenzt die Frage auf „ti gar“ („was denn?“). Im Hinblick auf das deutsche Sprachgefühl liegt es jedoch nahe, das Fragezeichen nach hinten zu verrücken. Die Frage lautet dann: „Was ist denn, wenn einige untreu wurden?“ Inhaltlich ist die Frage der Zeichensetzung nicht von Belang.
„Einige“ ist vermutlich auf die Juden zu beziehen, es handelt sich also um „einige Juden“. Unklar ist, wie groß diese Gruppe Juden ist, ob sie die Mehrheit oder die Minderheit ausmacht. Dies ist auch nicht entscheidend. Entscheidend ist die Frage, ob deren Untreue die Treue Gottes aufhebt.
Die Gegenüberstellung von der Untreue einiger Juden und der Treue Gottes verweist auf ein gegenseitiges Treueverhältnis, das der Bund zwischen Gott und seinem Volk darstellt. Aufgrund der Gegenseitigkeit stellt sich die Frage, ob der Treuebruch einer Seite, nämlich der bzw. einiger Juden, auch die andere Seite, Gott, von der Verpflichtung zur Treue entbindet. Dieses Entbinden bezeichnet Paulus als Aufheben (katargeô). Dieses mögliche Aufheben der Treue erfolgt nicht seitens Gottes, sondern durch die Untreue der bzw. einiger Juden.
Paulus macht keine weiteren Aussagen über die Art der Untreue. Sind einige Juden von ihrem Gott JHWH hin zur Verehrung anderer Götter abgefallen? Oder haben sie gegen bestimmte Satzungen und Gebote verstoßen? Oder bezieht sich der Verstoß „nur“ gegen das Halten des Religionsgesetzes im Geist, die Nächstenliebe? Oder hat der Apostel die Verweigerung des Glaubens an Jesus Christus, den in den „Worten Gottes“ verheißenen Messias, im Blick? Auf jeden Fall handelt es sich um ein abgeschlossenes Vergehen in der Vergangenheit, wie die Zeitform Aorist des Verbs zeigt. Das Schwergewicht der Aussage liegt nicht auf einem gegenwärtigen Zustand der Untreue, denn sonst wäre die Zeitform Perfekt zu erwarten gewesen.
Auch ist unklar, wie sich die „Treue Gottes“ zeigt. Die Treue Gottes bezieht sich zunächst auf das besondere Verhältnis des Gottes JHWH zu seinem Volk Israel. Mit dieser Treue sind Verheißungen (reiche Nachkommenschaft, Landnahme, Wohlergehen, königlicher Heilsbringer = Messias) verbunden. Aus christlicher Perspektive kommen - in Verbindung mit Kreuzestod und Auferstehung des Messias Jesus Christus - Auferstehung und ewiges Leben in Anknüpfung an atl. eschatologische Verheißungen hinzu. Doch welche Verheißungen sollten in V. 3 im Blick sein? Da in Röm 2 von dem zukünftigen Gericht Gottes die Rede ist, ist wahrscheinlich, dass sich die Treue Gottes in 3,2 (zumindest auch) auf dieses zukünftige Gericht bezieht. Gottes Treue würde bewirken, dass die untreuen Juden aufgrund des Gerichtsurteils nicht zugrunde gehen, sondern gerettet und ins ewige Leben eingehen werden. Da nicht ausdrücklich gesagt ist, dass die Treue Gottes gegenüber den untreuen Juden bestehen bleibt, kann man auch interpretieren, dass die untreuen Juden zwar verloren gehen, aber Gottes Treue gegenüber den treuen Juden aufhebt. Dann wäre ausgesagt, dass die Untreue eines Teils der Juden nicht die Treue Gottes gegenüber seinem Volk als Ganzem aufhebt.
Weiterführende Literatur: Mit dem Aufbau und der Beweisführung von 3,1-8 befasst sich P. J. Achtemeier 1990, 77-87. Es fänden sich weniger Einwände als vielmehr falsche Schlussfolgerungen, die eher pädagogische Hilfsmittel für die Leser in Rom als Widerlegungen eines Gegners, sei es ein Jude oder ein anderer, seien. Das der Beweisführung zugrunde liegende rhetorische Grundschema sei eine Gedankenfolge, bei der gefragt wird, was sich aus Aussage „A“ schlussfolgern lässt. Sollte es Aussage „B“ sein? Mitnichten, wegen der folgenden Aussage „C“.
C. H. Cosgrove 1987, 90-105 vertritt die Auffassung, dass Paulus in Röm 3,3 den Unglauben „einiger“ Juden gegenüber dem Evangelium meine (vgl. 11,17), diesen in 3,5 als „Unrecht“ werte und so die Anklage von 3,9 vorbereite.
S. K. Williams 1980, 265-270 meint, dass Paulus, wenn er in Röm 3,1-7 von Treue, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit spricht, sich auf Gottes Treue den Verheißungen Abraham gegenüber beziehe – den Verheißungen, dass Gott auf der Grundlage von (Christus-)Glauben alle Menschen der Erde retten wird.
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Beobachtungen: Paulus weist die Möglichkeit, dass Gottes Treue aufgehoben werden könnte, weit von sich. Das was geschehen soll, formuliert Paulus im Gebetsstil, eingeleitet durch „ginesthô“ („es geschehe“). Die Sicherheit, mit der der Apostel die fortwährende Treue Gottes verkündet, zeigt, dass es sich bei dem Gebet nicht nur um eine gewöhnliche Bitte handelt, sondern um eine Bitte, die ein in der hebräischen Bibel (= AT) längst angekündigtes Geschehen einleitet.
Bei dem angekündigten Geschehen handelt es sich um den Treueerweis Gottes trotz der Untreue „jedes Menschen“. Die pauschale Formulierung „jeder Mensch“ ist hier wohl auf die Juden zu beziehen, womit die Gruppe, die untreu wurde, nicht als Teilgruppe der Juden erscheint, sondern als die Gesamtheit der Juden. Im Lichte von V. 4 ist V. 3 folglich so zu interpretieren, dass Gott treu bleibt, obwohl sein gesamtes Volk untreu wurde. Im Hinblick auf Auferstehung und ewiges Leben würde das bedeuten, dass das ganze Volk Israel trotz seiner Untreue vor dem Verderben gerettet wird uns ins ewige Leben eingeht.
Die Aussage, dass sich „jeder Mensch“ als Lügner erweist, findet sich auch in Ps 115,11LXX (= 116,11). Es liegt daher nahe, dass Paulus diese Aussage aufgegriffen hat. Fraglich ist, ob die übernommene Formulierung „jeder Mensch“ im Widerspruch zu „einige“ steht. So bezieht sich „einige“ nur auf die Juden, wogegen „jeder Mensch“ genau genommen die ganze Menschheit einschließt. Paulus stört sich an dieser Ungereimtheit jedoch nicht, weil er „jeder Mensch“ nur auf die Juden bezieht. Ein weiterer Widerspruch ist, dass „einige“ nur eine Teilmenge der Juden, „jeder Mensch“ dagegen die Gesamtheit der Juden (genau genommen: der Menschen) meint. Diesbezüglich lassen sich beide Formulierungen jedoch harmonisieren: So kann man „einige“ dahingehend deuten, dass es sich um die große Mehrheit handele, also nahezu um die Gesamtheit der Juden. Man kann aber auch „jeder Mensch“ auf eine bestimmte Zeitepoche beziehen, nämlich diejenige der Lebzeiten Jesu und des Apostels Paulus. Für letztere Deutung spricht, dass Paulus davon ausgeht, dass nach der Bekehrung der Heiden zum Glauben an Jesus Christus auch die Verstockung der Juden enden werde (vgl. Röm 11,25-32). Versteht man „jeder Mensch“ von der Gesamtheit der Zeitepochen bis zum Ende der Welt her, so erscheint „jeder Mensch“ nur als Teil aller Juden, als „einige“ der Gesamtheit, die auch die zu Christus bekehrten Judenchristen nach Ende der Verstockung umfasst. Allerdings setzt diese Deutung voraus, dass sich die Untreue der Juden auf die Verweigerung des Christusglaubens bezieht.
Die Untreue der Juden und die Treue Gottes sieht Paulus in einem Schriftzitat („wie geschrieben steht“) vorhergesagt. Zitiert wird Ps 50,6LXX (= 51,6). In diesem Vers stellt sich der Betende (laut V. 1-2 David) als Sünder dar, den richtenden Gott dagegen als Gerechten. Zunächst einmal steht es Gott frei, streng den Werken gemäß zu richten. Der Betende setzt allerdings seine Hoffnung darauf, dass sich Gott barmherzig erweist und seine Sünden tilgt. Die Tilgung der Sünden ist dabei im Zusammenhang mit Schuldbekenntnis und Buße zu sehen.
In dem Zitat ist Gott derjenige, der in seinen Worten gerecht gesprochen wird bzw. sich als gerecht erweist. Auch wenn der Mensch mit ihm hadert, so erweist sich Gott doch in seinem Urteil als gerecht, selbst wenn es hart ausfällt. Diese Gerechtigkeit sagt das Zitat 50,6LXX aus; dass Gott tatsächlich Barmherzigkeit walten lässt, geht aus ihm nicht hervor. Andernfalls wäre der Hader des Menschen mit dem Urteil verwunderlich. Im Hinblick auf die Kernaussage, dass Gott treu bleibt, liegt Barmherzigkeit im Urteilsspruch zugunsten der Juden nahe. Gottes Treue scheint aber nicht mit Barmherzigkeit gleichzusetzen zu sein. Gottes Treue ist sicher, ganz im Gegensatz zur Barmherzigkeit, die einzig und allein Gott anheim gestellt ist. Wie auch immer das Urteil ausfällt: Gott siegt, d. h. er gewinnt den Prozess, der gegen ihn von Seiten des Menschen geführt wird.
Liest man wie Paulus 50,6LXX so, dass ausgesagt ist, dass sich Gott als wahrhaftig erweist, jeder Mensch aber als Lügner, dann ist das Zitat wie folgt zu verstehen: Gott erweist sich als wahrhaftig, indem er bei dem endzeitlichen Gericht, bei dem er als Richter auftritt, ein gerechtes Urteil spricht. Das gerechte Urteil ist nicht mit Barmherzigkeit gleichzusetzen, sondern es ist Gott allein anheim gestellt, Barmherzigkeit walten zu lassen. Ein hartes Urteil kann durchaus den Protest der Verurteilten hervorrufen, die Gott daraufhin der Ungerechtigkeit anklagen. Damit erweisen sich die Verurteilten aber gleich in zweifacher Hinsicht als Lügner: Zum einen weil sie ihr Treuegelübde nicht gehalten haben, zum anderen weil sie leugnen, dass der Urteilsspruch Gottes gerecht ist.
Paulus weicht insofern von der Vorlage Ps 50,6LXX ab, als er für das Verb „siegen“ die Zeitform Indikativ Futur statt Konjunktiv Aorist wählt. Er betont also die Zukünftigkeit des Geschehens. Der Konjunktiv Aorist ist allerdings als eine Textvariante erhalten.
Weiterführende Literatur: Gemäß T. H. Tobin 1993, 298-318 habe Paulus polarisiert, wobei zwischen ihm und der christlichen Gemeinde in Jerusalem aufgrund seiner Theologie ein Graben entstanden sei. Um die Auseinandersetzung zu entschärfen, habe er herauszustellen versucht, dass seine umstrittenen Thesen zur Sündhaftigkeit von Juden und Heiden tatsächlich in den jüdischen Schriften und in der jüdischen Theologie gründen. Diese Strategie versucht T. H. Tobin anhand von 1,18-3,20 nachzuweisen.
A. Gignac 2005, 46-62 meint, dass die vier Prozesse, die sich im Text Röm 3,1-9 erkennen ließen (Prozess gegen die Juden, gegen die Menschen, gegen Gott, gegen Paulus) im Lichte der Erzählung von David, dem Sünder (vgl. Ps 50,6LXX), eine andere Gewichtung bekämen: Wenn die Gerechtigkeit Gottes nicht im Wesentlichen Vergebung ist, dann könnten wir Gottes Gerechtigkeit anzweifeln. Indem Gott angeklagt werde, werde die Neudefinition von Gottes Gerechtigkeit in Röm 3,21 vorbereitet und die Art, wie Gerechtigkeit mit den Begriffen „Unparteilichkeit“ und „Verurteilung“ in 1,18-2,29 dargestellt wird, nicht weitergeführt. Im gerichtlichen Zusammenhang, als Schlussfolgerung der Prozessserie, lasse sich auch das Übersetzungsproblem von V. 9 lösen. Und schließlich sei die Prozessmetaphorik nicht nur die Grundlage von 3,1-9, sondern das Hauptthema, das den gesamten Römerbrief durchzieht.
O. Hofius 1997, 72-90 legt dar, dass Paulus im Römerbrief (3,1-20; 4,6-8) dann Psalmen zitiere, wenn er sich mit strengen toratreuen Judenchristen, die in Paulus einen Apostaten erblickten und seine gesetzesfreie Evangeliumspredigt aufs schärfste bekämpften, auseinandersetze. Das heiße: Es sind jene Gruppen, die bereits beim Apostelkonzil und im antiochenischen Konflikt seine Gegner waren und deren Agitation er auch in Rom befürchten muss. Die Auseinandersetzung mit diesen Judenchristen habe im Römerbrief durchgehend ihren Niederschlag gefunden. Der von ihnen vertretenen theologischen Position gegenüber wolle der Apostel die Schriftgemäßheit seiner Rechtfertigungslehre aufzeigen.
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Beobachtungen: In V. 5 spricht Paulus plötzlich von „unserer Ungerechtigkeit“. Auf Menschen bezogen bedeutet das Substantiv „Ungerechtigkeit“ („adikia“), vor Gott als sündiger Mensch zu stehen, der der Verdammung würdig ist. Da Paulus in Röm 3,1-4/8(?) konkret von den Juden spricht und nicht von der Menschheit allgemein, meint „unsere Ungerechtigkeit“ zunächst die Ungerechtigkeit der Juden. Auch Paulus ist gebürtiger Jude, hat aber zwischenzeitlich den christlichen Glauben angenommen, weshalb er die Ungerechtigkeit der Juden wohl kaum auch auf sich selbst beziehen dürfte. Deshalb ist V. 5a wohl als Aussage des fiktiven jüdischen Gesprächspartners zu verstehen, dessen Einwand der Apostel aufgreift. Nun sind aber nicht nur die Juden ungerecht, sondern alle Menschen, die nicht an Jesus Christus glauben. „Unsere Ungerechtigkeit“ kann folglich auch auf alle Heiden bezogen werden. Und schließlich kann man auch alle Menschen als ungerecht ansehen, weil niemand in der Lage ist, sich aufgrund eigener Werke selbst zu rechtfertigen. Wahrscheinlich ist, dass der jüdische Gesprächspartner Paulus‘ Rede von der grundsätzlichen Ungerechtigkeit der Menschen konkret auf die Juden bezieht und es nur als konsequent ansieht, gleichfalls die Rede von „Gottes Gerechtigkeit“ auf die Juden zu beziehen.
Geht man davon aus, dass ein Gericht streng nach Werken rechtens ist, dann ist Gottes hartes Urteil angesichts des Sünders gerecht und somit als „Gottes Gerechtigkeit“ zu verstehen. Liest man dagegen Röm 3,5 im Lichte von 1,17, dann lassen sich zur „Gerechtigkeit Gottes“ folgende Aussagen machen: Die Formulierung „Gottes Gerechtigkeit“ ist nicht als eine Gerechtigkeit im juristischen oder sozialen Sinn zu verstehen, sondern als eine Gerechtigkeit, die den (christus)gläubigen Menschen aufgrund des die Sünden sühnenden Kreuzestodes Jesu Christi für gerecht erklärt. Dabei enthält die Formulierung zwei Aspekte: Als genitivus subiectivus verstanden besagt sie, dass Gott Gerechtigkeit eigen ist. Er ist es, von dem die Gerechtigkeit/Rechtfertigung ausgeht. Kreuzigung und Auferstehung Jesu, Sündenvergebung und ewiges Leben entsprechen seinem Willen. Als genitivus obiectivus verstanden handelt es sich um eine Rechtfertigung des Menschen vor Gott.
Im Hinblick auf Röm 3,5 wirft diese Deutung jedoch das Problem auf, dass die Juden - sieht man von den Judenchristen ab - Jesus Christus nicht für den verheißenen Messias halten. Folglich können sie an der Rechtfertigung, die untrennbar mit dem Glauben an den Heilsbringer Jesus Christus verbunden ist, nicht Anteil haben. Interpretiert man also 3,5 im Lichte von 1,17, so ist davon auszugehen, dass der fiktive jüdische Gesprächspartner nicht aussagt, dass die Juden an der „Gerechtigkeit Gottes“ teilhaben, sondern dass die Juden an ihr teilhaben müssten – vorausgesetzt, dass sich „Gottes Gerechtigkeit“ tatsächlich an „unserer Gerechtigkeit“ erweist. Paulus hält dies für ein Missverständnis, denn seiner Meinung nach ist nicht die Ungerechtigkeit an sich für den Erweis von „Gottes Gerechtigkeit“ maßgeblich, sondern die Ungerechtigkeit verbunden mit dem Glauben an Jesus Christus. Folglich kann Gottes Zorn im Gericht die Ungerechten treffen – eben wenn sie nicht christusgläubig sind.
Vertritt man abweichend von dieser Deutung trotz 1,17 die Ansicht, dass sich „Gottes Gerechtigkeit“ in 3,5 auf die Juden beziehe, dann scheinen auch die Juden gerechtfertigt werden zu können, ohne Jesus Christus als verheißenen Messias anerkennen zu müssen. Nun hat Paulus in den vorausgehenden Versen unterstrichen, dass das Urteil Gottes (streng den menschlichen Werken gemäß, unabhängig vom Ansehen der Person; vgl. 2,6-8.11) rechtens ist. Allerdings kann Gott auch Barmherzigkeit walten lassen. Dabei handelt es sich aber nur um eine Möglichkeit, die Gott allein anheim gestellt ist, nicht um einen Rechtsanspruch der Menschen. Ein Jude, der meint, er könne trotz seines Fehlverhaltens auf jeden Fall mit Gottes Barmherzigkeit rechnen, könnte ein von Zorn geprägtes Urteil als ungerecht empfinden. Gott Ungerechtigkeit vorzuwerfen ist jedoch Rede nach Menschenart.
Die Formulierung „was sollen wir sagen“ kennzeichnet entweder - wie in 3,5 - eine falsche Schlussfolgerung aus vorhergehenden theologischen Aussagen (vgl. Röm 6,1; 7,7; 9,14) oder eine richtige, die entfaltet wird (vgl. Röm 8,31; 9,30).
Weiterführende Literatur: G. Burnett 1998, 159-188 befasst sich angesichts neuerer Tendenzen, die kollektiven Aspekte hervorzuheben, mit dem persönlichen Heil. So sei zwar die soziale Funktion des Glaubens im Hinblick auf Israel und die paulinischen Gemeinden herausgestellt worden, doch werde die einseitige Sichtweise der paulinischen Vorstellung vom Wirken des Glaubens nicht gerecht. G. Burnett vertritt die Meinung, dass Paulus mit dem Verhältnis zwischen Judenchristen und Heidenchristen befasst und sein Denken am Bund orientiert sei. Die Logik der Beweisführung der ersten Kapitel weise auf die Bedeutung hin, die die Rede vom persönlichen Heil habe.
R. B. Hays 1980, 107-115 vertritt die Ansicht, dass die Deutung von „dikaiosynê theou“ („Gerechtigkeit Gottes“) als Gottes Heil schaffende Macht ohne jeden Verweis auf Qumranschriften oder „apokalyptisches“ Gedankengut als richtig erwiesen werden könne. Derartiges Belegmaterial könne zwar bei einem Vergleich von Interesse sein, doch seien als Beweis hinsichtlich der Richtigkeit der These Röm 3 und Ps 143 entscheidend.
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Beobachtungen: Gott ist nicht ungerecht, wenn er über Sünder das Zorngericht verhängt. Paulus begründet dies damit, dass Gott die Welt richtet. Kein Mensch kann Gott dabei Vorschriften machen, wie sein Urteil auszusehen hat. Angesichts der Tatsache, dass Paulus von einem Gericht streng nach Werken und ohne Ansehen der Person ausgeht, bei dem Gott auch unverdienterweise Milde walten lassen kann, scheint ein zu strenges Urteil ausgeschlossen. Daher ist es aus seiner Sicht falsch, Gott unrechtmäßige Härte vorzuwerfen.
Geht man davon aus, dass die Betonung auf dem Gericht Gottes über die ganze Welt liegt, dann wäre ausgesagt, dass selbstverständlich auch die Juden als Bestandteil der Welt dem Gericht unterworfen sein werden.
Weiterführende Literatur: C. Janssen 2008, 226-232 deutet Gottes gerechtes Gericht auf dem Hintergrund apokalyptischer Eschatologie und mangelhaftem menschlichem Rechtswesen: Gottes Gerechtigkeit werde das letzte Wort haben. Alle Menschen müssten sich für ihre ungerechten Taten verantworten. Nicht den Mächtigen und Herrschenden gehöre das Recht und die Rechtsprechung, sondern Gott. Gericht sei somit ein Hoffnungswort: Gerechtigkeit werde aufgerichtet.
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Beobachtungen: V. 7 setzt den Einwand V. 5 in der Ich-Form fort. Wiederum ist die Kernaussage, dass ein strenges Gericht ungerecht ist. Wiederum wird vorausgesetzt, dass Gott barmherzig ist und folglich der Missetäter nicht verurteilt werden darf. Es fällt auf, dass sich der Missetäter nicht als Sünder versteht. Er kann sich deshalb für gerecht halten, weil seine Lüge gemäß seiner Fehldeutung der Verherrlichung Gottes dient, und zwar weil Gott in besonderem Maße seine Gnade unverdientermaßen einem Menschen zukommen lassen kann.
Das Substantiv „Lüge“ lässt den fiktiven Kritiker der paulinischen Theologie als „Lügner“ erscheinen, als einen Juden, der Gott untreu wurde. Fraglich ist jedoch, was genau die Kritik an der paulinischen Theologie ist: Wird Paulus vorgeworfen, er predige das Gericht über Juden, die Gott untreu wurden, obwohl er doch von der Gnade Gottes ausgeht? Dann würde es sich bei dem Kritiker um einen Juden handeln, der schon aus seinem Judesein und der Beschneidung einen besonderen Vorzug beim endzeitlichen Gericht erschließt. Oder wird Paulus vorgeworfen, er lege den Schwerpunkt seiner Predigt zu sehr auf die Gnade Gottes und vernachlässige dabei die Forderung, die Satzungen und Gebote der hebräischen Bibel (= AT) zu halten? Dann würde es sich bei dem Kritiker um einen gesetzestreuen Juden handeln, der die buchstabengetreue Befolgung der Satzungen und Gebote als heilsnotwendig erachtet.
Die „Wahrhaftigkeit/Wahrheit (des) Gottes“ ist als Barmherzigkeit/Gnade Gottes zu interpretieren. Von V. 7 her gelesen besagt V. 4, dass Gott sein Volk Israel bzw. „einige Juden“ am Ende der Tage nicht zugrunde gehen lässt, obwohl es bzw. sie untreu war(en).
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Die paulinischen theologischen Aussagen geben anscheinend zu Lästerungen der Gegner Anlass. So behaupten „gewisse Leute“, dass Paulus - er spricht hier von sich in der Wir-Form - mit seiner Gnadenlehre geradezu dazu auffordere, das Böse zu tun, weil dadurch Gottes Gnade besonders deutlich hervortrete und Gott auf diese Weise verherrlicht werde. Diese Behauptung führt die paulinische Theologie ad absurdum. Hier endet die V. 5-8 umfassende fiktive Diskussion mit den Kritikern. Der letzte Einwand ist aus Sicht des Apostels dermaßen abwegig, dass er nicht mehr dagegen argumentiert, sondern nur noch auf das Gerichtsurteil Gottes über die Lästerer verweist. Dabei erscheint das Gerichtsurteil als gegenwärtig, als schon feststehend. Paulus bezeichnet es als rechtens. Da er insbesondere die Lästerung als schwerwiegende Verfehlung betrachtet, dürfte es sich bei dem rechten Gerichtsurteil über die Lästerer um eine Verurteilung handeln. Wer Gott verspottet, kann nicht auf Gnade hoffen.
Weiterführende Literatur: R. Penna 1989, 43-53 geht der Frage nach, wer die in V. 8 erwähnten „gewissen Leute“ sind. Ergebnis: Es handele sich um Judenchristen im ethnischen Sinn, die das Evangelium libertinistisch deuten. Es handele sich um keine fiktiven Personen, sondern vermutlich um Glieder der römischen Gemeinde.
I. J. Canales 1985, 237-245 vertritt die Meinung, dass Paulus in 3,8 einer judaistischen Beschuldigung und in 6,1 einer heidnisch-antinomistischen Fehlinterpretation seiner Gnadenlehre widerspreche.
E. Reinmuth 2009, 75-94 beleuchtet zunächst Aspekte des öffentlichen Sprachgebrauchs bezüglich des „Bösen“, entwickelt daraus eine aktuelle Perspektive auf die Frage nach dem Bösen im Römerbrief und zeigt schließlich Dialogmöglichkeiten mit gegenwärtigen Ansätzen auf.
Literaturübersicht
[ Hier geht es zur Übersicht der Zeitschriftenabkürzungen ]
Achtemeier, Paul J.; Romans 3:1-8: Structure and Argument, AnglTr SupplS 11 (1990), 77-87
Burnett, Gary; Individual and Collective Aspects of Pauline Soteriology in Romans 3, IBS 20 (1998), 159-188
Campbell, W. S.; Romans III as a Key to the Structure and Thought of the Letter, NT 23/1 (1981), 22-40
Canales, Isaac J.; Paul’s Accusers in Romans 3:8 and 6:1, EvQ 57/3 (1985), 237-245
Cosgrove, Charles H.; What If Some Have Not Believed? The Occasion and Thrust of Romans 3,1-8, ZNW 78/1-2 (1987), 90-105
Gignac, Alain; Procès de l’humain ou process de Dieu? Le jeu intertextuel entre Rm 3,1-9 et Ps 50 (LXX), RB 112/1 (2005), 46-62
Hays, Richard B.; Psalm 143 and the Logic of Romans 3, JBL 99/1 (1980), 107-115
Hofius, Otfried; Der Psalter als Zeuge des Evangeliums. Die Verwendung der Septuaginta- Psalmen in den ersten beiden Hauptteilen des Römerbriefes, in: H. G. Reventlow [Hrsg.], Theologische Probleme der Septuaginta und der hellenistischen Hermeneutik, Gütersloh 1997, 72-90
Janssen, Claudia; Gottes Gericht: düstere Drohung oder Hoffnung auf Zukunft? Röm 1-3 und die Eschatologie des Neuen Testaments, BiKi 63/4 (2008), 226-232
Penna, Romano; La funzione strutturale di 3,1-8 nella lettera ai Romani, Bib. 69 (1988), 507- 542
Penna, Romano; I diffamatori di Paolo in Rm 3:8, RicStBib 1/2 (1989), 43-53
Reinmuth, Eckart; Gott und das Böse: Der Römerbrief als aktueller Testfall neutestamentlicher Hermeneutik, in: U. Schnelle [ed.], The Letter to the Romans (BETL 226), Leuven 2009, 75-94
Stowers, Stanley Kent; Paul’s Dialogue with a Fellow Jew in Romans 3:1-9, CBQ 46/4 (1984), 707-722
Tobin, Thomas H.; Controversy and Continuity in Romans 1:18-3:20, CBQ 55/2 (1993), 298- 318
Williams, Sam K.; The „Righteousness of God“ in Romans, JBL 99 (1980), 241-290