Röm 3,9-20
Übersetzung
Röm 3,9-20:9 Was nun? Machen wir Ausflüchte? Ganz sicher nicht! Denn wir haben vorhin Anklage erhoben, dass Juden und Griechen gleichermaßen unter der Sünde sind, 10 wie geschrieben steht: „Keinen Gerechten gibt es, auch nicht einen einzigen. 11 Keinen gibt es, der einsichtig ist, keinen, der (den) Gott sucht. 12 Alle sind sie abgewichen, zusammen verdorben. Es gibt keinen, der rechtschaffen handelt; keinen gibt es, nicht einmal einen. 13 Ein geöffnetes Grab ist ihr Schlund. Mit ihren Zungen betrogen sie; Schlangengift ist unter ihren Lippen. 14 Ihr Mund ist voll Fluch und Bitterkeit. 15 Rasch sind ihre Füße, um Blut zu vergießen. 16 Verwüstung und Elend sind auf ihren Wegen, 17 und einen Weg des Friedens erkannten sie nicht. 18 Keine Gottesfurcht gibt es vor ihren Augen.“ 19 Wir wissen aber, dass, was das Gesetz sagt, sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, damit jeder Mund gestopft werde und alle Welt schuldig dastehe vor Gott. 20 Denn aufgrund von Werken des Gesetzes wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden; durch [das] Gesetz [kommt] nämlich nur Erkenntnis der Sünde.
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Beobachtungen: Unklar ist, wie V. 9 inhaltlich an die vorhergehenden Verse anschließt. Zu begründen ist diese Unklarheit mit einem Übersetzungsproblem. So ist fraglich, wie „proechometha? ou pantôs“ zu übersetzen ist. Parallelen aus der griechischen Literatur legen nahe, die mediale Verbform „proechometha?“ mit „Machen wir Ausflüchte?“zu übersetzen. Paulus wäre also Subjekt des Verbs, ebenso wie er mit Sicherheit Subjekt des folgenden Verbs „proêtiasametha“ („wir erhoben Anklage“) ist. Eine solche Übersetzung passt auch gut zu der fiktiven Diskussion Röm 3,5-8, wo Paulus drei Einwänden hinsichtlich seiner Theologie entgegnet. Die Entgegnungen könnte man angesichts der Kürze und nicht gerade tiefschürfenden Art allerdings auch als Ausflüchte angesichts durchaus ernst zu nehmender Einwände ansehen. Diese Einwände könnten durchaus mit Textpassagen aus der hebräischen Bibel begründet sein. In V. 9 würde Paulus den Vorwurf, er weiche aus, aufgreifen, um im Folgenden - vielleicht als Antwort auf die Vorgehensweise seiner jüdischen Kritiker - eine Vielzahl Schriftzitate anzuführen, die die Richtigkeit seiner Theologie belegen sollen. Aus der Tatsache, dass Paulus auf seine vorhergehende (vgl. 1,18-2,24) Anklage, dass Juden und Griechen gleichermaßen unter der Sünde sind, verweist und nachfolgend die entsprechenden Schriftbelege anführt, ist zu schließen, dass Paulus seinen jüdischen Kritikern vorwirft, dass sie die grundsätzliche Sündigkeit auch der Juden übersehen. Tatsächlich lassen sich den Einwänden 3,5-8 zwei Einwände gegen die paulinische Theologie entnehmen, die beide die grundsätzliche Sündigkeit auch der Juden übersehen: a) Paulus missachte, dass den Juden aufgrund ihrer Erwählung als Gottesvolk und Beschneidung beim endzeitlichen Weltgericht besondere Milde entgegengebracht werde. b) Paulus betone zu sehr die Gnade Gottes und vernachlässige dabei die Notwendigkeit der buchstabengetreuen Befolgung der Satzungen und Gebote des jüdischen Religionsgesetzes. Beide Vorwürfe stören sich an der Meinung des Apostels, dass weder die Erwählung als Gottesvolk noch die Beschneidung oder die buchstabengetreue Befolgung der Satzungen und Gebote zur Rechtfertigung vor Gott führen. Um seinen jüdischen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, legt Paulus in 3,9-20 die grundsätzliche Sündigkeit aller Menschen dar und führt eine Vielzahl Schriftzitate an. Es handelt sich dabei um die längste Aneinanderreihung von Zitaten in den paulinischen Briefen, die nicht (wie in Gal 3,6-14) von Kommentaren unterbrochen ist.
Die zweite Übersetzungsmöglichkeit von „proechometha? ou pantôs“ geht davon aus, dass die erste nicht in den Zusammenhang, der sich mit den Juden befasst, passt. Angesichts der Tatsache, dass sich der Abschnitt 3,9-20 offensichtlich mit der grundsätzlichen Sündigkeit von allen Menschen befasst, wird geschlossen, dass V. 9 genau zu dieser Thematik hinführen müsse. Das ist der Fall, wenn man entgegen dem üblichen Sprachgebrauch die der aktivischen Bedeutung entsprechende Übersetzung „Haben wir einen Vorzug? In keiner Weise!“ wählt. Paulus würde sich bei dieser Lösung auf seine jüdische Identität besinnen und zu den Juden hinzuzählen. Gegen die zweite Übersetzungsmöglichkeit spricht, dass der Apostel in 3,1-2 klargestellt hat, dass den Juden durchaus ein Vorzug zukommt, vor allem weil ihnen die „Worte (des) Gottes“ anvertraut sind. Den Widerspruch könnte die Übersetzung „... Nicht alle zusammen!“, wonach nur einem Teil der Juden (den treuen?) ein Vorzug zukäme, glätten. Allerdings gibt es keine Parallele für den Gebrauch der medialen Verbform „proechometha?“ im Sinne eines Aktivs. Man kann nur darauf verweisen, dass die in hellenistischer und römischer Zeit im östlichen Mittelmeerraum verbreitete Koinê - ehemals ein attischer Dialekt - nicht so stark zwischen dem Aktiv und dem Medium unterschied.
Das einleitende „ti oun?“ („Was also/nun“) ist bei der gegebenen Zeichensetzung als eigene Frage (vgl. 6,15; 11,7; ähnlich auch 3,3; 9,32), die einen neuen Sinnzusammenhang einleitet und Aufmerksamkeit hervorrufen soll, aufzufassen. Die Langform der Frage ist „ti oun eroumen?“ („was sollen wir sagen“). Sie kennzeichnet entweder - wie in 3,5 - eine falsche Schlussfolgerung aus vorhergehenden theologischen Aussagen (vgl. Röm 6,1; 7,7; 9,14) oder eine richtige, die entfaltet wird (vgl. Röm 8,31; 9,30). Da die Zeichensetzung im Urtext jedoch fehlte, kann „ti oun?“ auch zu „proechometha“ („Haben wir einen Vorzug?“, oder: „Machen wir Ausflüchte?“) hinzugezogen werden. Im Hinblick auf die Frage, ob Juden einen Vorzug haben, ließe sich übersetzen „Was also haben wir voraus?“.
Mit den „Griechen“ dürften allgemein die „Nichtjuden“ gemeint sein. Die Bezeichnung „Griechen“ dürfte Paulus gewählt haben, weil die hellenistische Welt, die den gesamten östlichen Mittelmeerraum umfasst, sein Missionsgebiet ist. Der Einfluss von hellenistischem Gedankengut und hellenistischer Lebensweise dürfte sich auch nach Rom erstrecken, wo die Adressaten des Briefes wohnen.
Die Sünde erscheint als Macht, in deren Wirkungsbereich sich die Menschen - Juden und Christen gleichermaßen - befinden.
Weiterführende Literatur: Gemäß W. S. Campbell 1981, 22-40 stelle 3,21-26 den Kern der paulinischen Theologie im Römerbrief dar. Röm 3 als Gesamtes sei der strukturelle Kern und zugleich Zeugnis der Situation, in die hinein der Brief geschrieben wurde.
G. Burnett 1998, 159-188 befasst sich angesichts neuerer Tendenzen, die kollektiven Aspekte hervorzuheben, mit dem persönlichen Heil. So sei zwar die soziale Funktion des Glaubens im Hinblick auf Israel und die paulinischen Gemeinden herausgestellt worden, doch werde die einseitige Sichtweise der paulinischen Vorstellung vom Wirken des Glaubens nicht gerecht. G. Burnett vertritt die Meinung, dass Paulus mit dem Verhältnis zwischen Judenchristen und Heidenchristen befasst und sein Denken am Bund orientiert sei. Die Logik der Beweisführung der ersten Kapitel weise auf die Bedeutung hin, die die Rede vom persönlichen Heil habe.
Mit der Bedeutung von V. 9a befasst sich ausführlich T. C. de Kruijf 1985, 234-244. Dabei geht er folgenden Fragen nach: a) Wie lautet der ursprüngliche Text? b) Welche Zeichensetzung ist zu wählen? c) Was bedeutet „proechometha“? d) Was bedeutet „ou pantôs“? e) Wer ist das Subjekt von „proechometha“? Ergebnis: a) Der ursprüngliche Text laute „ti oun proechometha ou pantôs“. b) Folgende Zeichensetzung sei zu wählen: „ti oun; proechometha: ou pantôs“. c) „proechometha“ sei nicht aktiv als „wir übertreffen / haben voraus“ oder passiv als „wir werden übertroffen“ zu verstehen, sondern medial im Sinne von „wir machen Ausflüchte“. d) „ou pantôs“ könne mit „keineswegs“ oder mit „nicht in jeder Hinsicht“ wiedergegeben werden, wobei vom rein philologischen Standpunkt aus gesehen letzterer Übersetzung der Vorrang zu geben sei. e) Diejenigen, die „proechometha“ als aktiv oder passiv deuteten, sähen gewöhnlich „die Juden“ als Subjekt an. Bei der Deutung als Medium komme als Subjekt ebenso Paulus in Frage. Die Entscheidung müsse den Zusammenhang berücksichtigen. Aus diesem sei zu schließen, dass Paulus das Subjekt ist. Von der Annahme ausgehend, dass „ou pantôs“ entgegen der gewöhnlichen Bedeutung „nicht in jeder Hinsicht“ hier mit „keineswegs“ zu übersetzen sei, kommt T. C. de Kruijf zusammenfassend zu dem Schluss, dass V. 9a wie folgt zu deuten sei: „Was nun? Machen wir Ausflüchte? Keineswegs!“
A. Feuillet 1983, 33-46 vertritt unter Berücksichtigung von Röm 1,16 und 3,1-2 die Ansicht, dass „ou pantôs“ nicht mit „absolument pas“ („ganz und gar nicht“), sondern mit „pas entièrement/absolument“ („nicht gänzlich“) zu übersetzen sei, denn Paulus leugne sicherlich nicht jedes Vorrecht der Juden. Diese Auslegung werde durch Röm 9-11 gestützt. Der Römerbrief korrigiere die einseitigen Aussagen des stark situationsbezogenen, spontan verfassten Galaterbriefes.
Die Rede von der Rechtfertigung der Gottlosen und der in Sünde verstrickten Menschen durch Gottes Handeln führe laut L. Schottroff 2000, 332-347 bei Paulus zu einer Analyse der Strukturen und Verstrickungen, die befreiendes Handeln ermöglicht. Vor allem in Klageliedern und –gebeten der Gemeinde würden eigene Leidens- und Erniedrigungserfahrungen zur Sprache gebracht. Das eigene Beteiligtsein werde in der Klage vor Gott wahrnehmbar. So entstehe Ermutigung zum befreienden Handeln trotz der Erfahrung der Globalisierung der Sünde. Die Tora werde mitten in Strukturen der Sünde erfüllbar und im „Wandel“ der Glaubenden erfüllt. Die paulinische Tradition ermögliche heute, das Schreien der Opfer als Gebet zu verstehen. Und die Gebete der Gemeinden, die die eigene Verstrickung in die Strukturen des Todes benennen, könnten – inspiriert von der paulinischen Tradition – wieder zu öffentlichem und befreiendem Geschrei werden.
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Beobachtungen: Paulus führt nun Zitate an, die V. 10-18 umfassen. Die Formulierung „wie geschrieben steht“ besagt zwar nicht, wo sich das Geschriebene findet, doch ist sie als Hinleitung zu Zitaten aus der hebräischen Bibel (= AT) zu verstehen.
Auf dem in V. 10 enthaltenen Zitat - und auch auf den folgenden Zitaten - basiert die Feststellung, dass Juden und Griechen gleichermaßen unter der Sünde sind. Es stellt eine Schlussfolgerung aus 1,18-3,8 dar, die auch den wesentlichen Inhalt aller folgenden Zitate widergibt. Die Formulierung dürfte Ps 13,1LXX (= Ps 14,1; vgl. Ps 52,2LXX = 53,2) in Verbindung mit Koh 7,20LXX entnommen sein. In Koh 7,20LXX findet sich das zentrale Adjektiv „dikaios“ („gerecht“), und zwar in der Kernaussage, dass es auf der Erde keinen Gerechten gibt.
Weiterführende Literatur: W. Dumbrell 1992, 91-101 meint, dass die Frage nach dem Wesen der Rechtfertigung für Paulus zentral im Hinblick auf die Frage, was christliche Identität begründet, sei. Er widmet sich in seinem Aufsatz insbesondere Gal 2,11-21; Gal 3; Röm 3,21-31 und Röm 4,1-8.
In V. 10 heißt es: „wie geschrieben steht“. M. Rose 2005, 345-359 macht deutlich, dass das Zitat so nirgendwo geschrieben stehe, in keiner griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel. Und es bereite große Probleme, einigermaßen sicher zu rekonstruieren, an welchen Text des AT Paulus hier in Röm 3,10 gedacht hat. M. Rose geht davon aus, dass Paulus auf eine vor-paulinische Zitatensammlung zurückgegriffen habe, die auch auf Hebräisch existiert hat. Solche Zitatensammlungen nenne man auch „Florilegien“; für die griechische Welt seien diese schon ab dem 4. Jh. v. Chr. belegt (vgl. Plato, leg. 811A), die ältesten hebräischen Zeugnisse stammten aus Qumran, aus der 2. Hälfte des 2. Jh.s v. Chr. Mit der Berufung auf die Treue Gottes habe das von Paulus benutzte Florilegium seinen Abschluss gefunden. Paulus nehme die jüdische Hoffnung auf die Gnade und Barmherzigkeit Gottes auf, gehe jedoch in zwei Punkten radikal über die jüdische Tradition hinaus, nämlich in der Betonung „keinesfalls aus Gesetzeswerken!“ (vgl. Röm 3,20; Gal 2,16) und in der christologischen Deutung.
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Beobachtungen: Die V. 11-12 setzen das Zitat Ps 13,1-3LXX (= Ps 14,1-3; vgl. Ps 52,2-4LXX = 53,2-4) fort und übernehmen die dortige Wortwahl. Ausgelassen ist jedoch die Aussage, dass der „Herr“ vom Himmel auf die Menschensöhne herabschaut. Dieses Schauen dient der Vergewisserung, ob es tatsächlich unter den Menschensöhnen keinen gibt, der einsichtig ist und Gott sucht. Paulus betont den feststellenden Charakter der Vergewisserung: es gibt tatsächlich keinen, der einsichtig ist und Gott sucht. Zudem betont er die Universalität der Sündhaftigkeit: Ist der Psalm auf dem Hintergrund von Unrecht zu sehen, das Unterdrücker in Israel begehen, so bezieht Paulus die Aussagen auf das Wesen des Menschen allgemein. So sieht er seine These belegt, dass man nur aus dem Glauben an das mit Jesus Christus verbundene Kreuzes- und Auferstehungsgeschehen heraus vor Gott gerecht werden könne, nicht aufgrund des Haltens sämtlicher Satzungen und Gebote des jüdischen Religionsgesetzes.
Die rechte Gottesverehrung wird als ein Wandeln auf dem rechten Weg verstanden. Das Verb „ekklinô“ („abweichen“) meint somit die Abwendung von Gott und das Abweichen vom rechten Weg. Die Menschen sind verdorben („êchreôtêsan“). Aus dem verdorbenen Wesen resultiert verdorbenes Handeln: Es gibt keinen Menschen, der rechtschaffen handelt.
Die Formulierung „Es gibt keinen, der rechtschaffen handelt“ entspricht - mit Ausnahme des hinzugefügten Artikels „ho“ - der Formulierung Ps 13,3LXX. Im Gegensatz zu V. 9 hat Paulus nicht „poiôn chrêstotêta“ („einer, der rechtschaffen handelt“, „einer, der Gutes tut“) durch „dikaios“ („gerecht“) ersetzt.
Weiterführende Literatur: O. Hofius 1997, 72-90 legt dar, dass Paulus im Römerbrief (3,1-20; 4,6-8) dann Psalmen zitiere, wenn er sich mit strengen toratreuen Judenchristen, die in Paulus einen Apostaten erblickten und seine gesetzesfreie Evangeliumspredigt aufs schärfste bekämpften, auseinandersetzte. Das heiße: Es sind jene Gruppen, die bereits beim Apostelkonzil und im antiochenischen Konflikt seine Gegner waren und deren Agitation er auch in Rom befürchten muss. Die Auseinandersetzung mit diesen Judenchristen habe im Römerbrief durchgehend ihren Niederschlag gefunden. Der von ihnen vertretenen theologischen Position gegenüber wolle der Apostel die Schriftgemäßheit seiner Rechtfertigungslehre aufzeigen.
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Beobachtungen: V. 13-14 haben die Sünden zum Thema, die der Mensch durch sein Reden begeht. Dementsprechend wählt Paulus als Zitate Stellen aus der hebräischen Bibel (= AT) aus, in denen die Kehle (= der Schlund), die Zunge, die Lippen und der Mund vorkommen. Es handelt sich um Verse aus den Psalmen, und zwar um 5,10LXX, 139,4LXX (= 140,4) und 10,7LXX.
Aus der Rede resultiert nichts als Verderben, wie die bildhaften Ausdrücke, die Paulus wählt, zeigen:
Das „geöffnete Grab“ verweist entweder auf das verdorbene Innere, aus dem die verwerfliche Rede entspringt, oder auf das Verderben, das die verwerfliche Rede bewirkt.
Das Verderben bezeichnet Paulus bildlich als „Schlangengift“ (konkret: „Natterngift“). Das Gift befindet sich bei den Giftschlangen in den Giftzähnen, die sich direkt an der Mundöffnung, also „unter ihren Lippen“, befinden.
Es geht nicht um gelegentliche verwerfliche Rede, sondern um das Wesen der Rede allgemein. Darauf weist die Formulierung „voll Fluch und Bitterkeit“ hin. Im Mund gibt es nichts anderes als Fluch und Bitterkeit.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Die V. 15-17 befassen sich mit dem Bösen, das die Menschen statt des Guten tun, und mit den Folgen aus diesem Handeln.
Paulus zitiert leicht gekürzt Jes 59,7-9LXX. Auch diese Passage verallgemeinert der Apostel, indem er aus einer Klage über das Verhalten der Israeliten eine Aussage über das Verhalten der Menschen schlechthin macht. Die Wahl des Zitats unterstreicht dabei, dass auch die Juden (Israeliten) vom Streben nach Blutvergießen nicht ausgenommen sind.
Die Menschen vergießen nicht nur Blut, sondern sie beeilen sich sogar Blut zu vergießen. Das Streben nach Blutvergießen geht auch aus Spr 1,18 hervor. Dass Paulus drei Verse dem Blutvergießen widmet, besagt nicht unbedingt, dass um ihn herum ständig Gewalttaten verübt wurden. Sicherlich hat Paulus auf seinen Missionsreisen manche Gewalttat erlebt, doch thematisiert er das Blutvergießen wohl deshalb, weil es am besten die Verdorbenheit der Menschen und das daraus resultierende frevelhafte Handeln zu verdeutlichen vermag.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Am deutlichsten wird der Zusammenhang zwischen Blutvergießen und Verwüstung und Elend bei Kriegen, die ganze verwüstete Landstriche hinterlassen. Verwüstung und Elend dürften sich aber nicht nur auf die Kriegsfolgen beziehen, sondern grundsätzlich auf die Zerstörung von menschlichem Leben und Glück durch Gewalttaten.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Dementsprechend ist der Friede in V. 17 vermutlich nicht nur als Abwesenheit von Krieg, sondern grundsätzlicher als ein friedvolles Miteinander der Menschen auch eines Volkes zu verstehen. Aus der Formulierung „Weg des Friedens“ geht der Gedanke des Lebens als eines Wandelns auf einem bestimmten Weg deutlich hervor. Bei dem „Weg des Friedens“ handelt es sich sicherlich um den rechten, gottgefälligen Weg. Dass die Menschen ihn nicht gehen, hängt mit deren fehlender Erkenntnis zusammen.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: V. 18 ist ein Zitat von Ps 35,2LXX (= 36,2). Der Mangel an Gottesfurcht ist zum einen als ein Mangel an Ehrfurcht Gott gegenüber, zum anderen als ein Mangel an Furcht vor der Strafe Gottes angesichts des frevelhaften Tuns zu verstehen.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: V. 19 gehört nicht mehr zur Reihe der Schriftzitate, sondern ist ein Kommentar zu diesen. Er sagt aus, an wen sich das „Gesetz“ richtet.
„Wir wissen“ kann sich allein auf Paulus beziehen, der damit der Wissende wäre, oder auch auf die Adressaten.
Doch was ist mit dem „Gesetz“ gemeint? Der Begriff ist hier sicherlich auf die unmittelbar vorhergehenden Schriftzitate bezogen. Dabei handelt es sich aber weder um Gesetzestexte im eigentlichen Sinn noch um Bestandteile der Tora, auf deutsch: „Weisung“, sondern um Verse aus den Psalmen und aus dem Buch des Propheten (Trito-)Jesaja. Die Tora umfasst die ersten fünf Bücher Mose (Genesis bis Deuteronomium). Enthalten sind neben eigentlichen Gesetzestexten auch andere, erzählende und belehrende, Texte. Dennoch wurde für die Tora in späterer Zeit die Bezeichnung „Gesetz“ (nomos) gebräuchlich. Sie ist folglich sowohl in der Septuaginta als auch im NT zu finden. Dass Paulus auch den zitierten prophetischen Text als Teil des „Gesetzes“ ansieht, hängt wohl damit zusammen, dass das rabbinische Judentum die Propheten als Ausleger des „Gesetzes“ versteht und daher nicht nur die Tora, sondern die gesamte hebräische Bibel als „Gesetz“ bezeichnet. Nebenbei sei gesagt, dass es zusätzlich zu diesem „schriftlichen Gesetz“ auch noch das „mündliche Gesetz“ gibt, das schließlich im Talmud verschriftlicht und kommentiert wurde.
„Unter dem Gesetz“ sind die Juden, also diejenigen, die unter der Macht des Gesetzes stehen und dessen Satzungen und Gebote zu halten haben.
Das Stopfen des Mundes dürfte sich auf das Verstummen der Behauptung, der Mensch könne allein durch das Halten der Satzungen und Gebote und aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Gottesvolk, deren nach außen hin sichtbares Zeichen die Beschneidung des Gliedes der jüdischen Knaben ist, vor Gott gerecht dastehen. Zum Stopfen des Mundes dürfte darüber hinaus auch das Verstummen aller Rede gehören, die der Verteidigung dieser Behauptung dient.
Mit dem Stopfen des Mundes entfällt die Verteidigung des Schuldigen. Dass jeder Mensch schuldig vor Gott dasteht, ist aus Sicht des Apostels eine Tatsache, die nicht vom Stopfen des Mundes abhängig ist. Geht man aber davon aus, dass die Schuld aller Welt bewusst werden muss - auch bei einer Gerichtsverhandlung gilt es, die Schuld des Angeklagten allen Beteiligten zu verdeutlichen -, so ist die Schuld erst mit dem Verstummen der Verteidigung angesichts der argumentativen Niederlage gegeben. Der Schuldspruch erfolgt demzufolge auch erst am Ende der Gerichtsverhandlung und nicht schon zu Beginn, bei der der Angeklagte noch als Unschuldiger zu gelten hat.
Weiterführende Literatur: Gemäß H. Giesen 2009, 115-146 führe Paulus in Röm 1,18-3,20 den Nachweis, dass alle, Juden und Nichtjuden, unter der Sünde sind. Bevor Paulus von der neuen heilsgeschichtlichen Situation durch die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes spreche, fasse er die Unheilssituation der Menschen vor Christus in 3,19-20 kurz zusammen. Vor diesem dunklen Hintergrund könne die ganze Tragweite der folgenden Aussagen erst recht begriffen werden.
Umstritten ist, ob Paulus in 1,18-3,20 davon ausgeht, dass das gesamte Gesetz erfüllt werden kann oder nicht. Den Bruch im Gedankengang des Abschnittes legt deutlich H. Räisänen 1983, 97-109 dar, der sich auch mit der bisherigen Diskussion auseinandersetzt und die entsprechende Literatur nennt: In 1,18-3,20 behaupte Paulus, dass niemand das gesamte Gesetz erfüllen kann. Der Grund dafür sei, dass alle, Juden wie Heiden, unter der Sünde sind (vgl. 3,9). Paulus beginne mit einer Anklage gegen die heidnische Welt (vgl. 1,18-32) und zeige dann die Sündigkeit der Juden auf (vgl. 2,1-29). Gemäß 2,1-3 tue der Jude dasselbe wie die Heiden. Der Jude, der das Gesetz besitzt und beschnitten ist, werde zwar deutlich von dem Heiden unterschieden, letztendlich seien aber alle vor dem unparteiisch richtenden Gott gleich. Diesen Ausführungen widersprächen jedoch 2,14-15.26-27. So würden zwar die Juden als Übertreter des Gesetzes dargestellt, doch von den Heiden – zumindest einem Teil von ihnen - werde gesagt, dass sie, die das Gesetz nicht haben, dieses von Natur aus tun. Angesichts dieses merkwürdigen Sachverhaltes gebe es seitens der Ausleger verschiedene Versuche, die Widersprüche aufzulösen oder zumindest zu glätten: a) Nur einige Vorschriften würden von den Heiden gehalten, nicht alle. Somit seien sie weiterhin sündig. b) Paulus spreche von einem hypothetischen Fall, der nicht eintreffe. c) Die Verse 2,14-15.26-27 seien im Lichte von Röm 8,4 (vgl. Jer 38,33LXX) zu verstehen. Demnach sei nicht von Heiden, sondern von Heidenchristen die Rede. d) Das griechische Substantiv „ethnê“ bezeichne hier nicht die Heidenvölker, sondern Völker, die in einer bestimmten Weise theologisch qualifiziert sind, wie Christen als Gottes endzeitliches Volk, Juden und Heiden „typologisch“ verstanden, endzeitliche Juden oder Juden und Heiden, die schon von Christus und dem heiligen Geist beeinflusst werden. Gegen alle diese Thesen ließen sich jedoch Einwände anbringen: zu a) Zumindest 2,26-27 sei mit Sicherheit nicht als teilweises, sondern als vollständiges Halten des Gesetzes zu deuten. zu b) Fiktion sei nicht ersichtlich. c) Von 2,9 an würden Juden und Griechen einander gegenübergestellt. In diesem Zusammenhang sei schwerlich anzunehmen, dass „ethnê“ eine andere Bedeutung als „Nichtjuden“ hat. d) Es handele sich um Spekulationen, die schon durch die klare Gegenüberstellung von Juden und Griechen in 2,9-10 ausgeschlossen würden. Angesichts dieser Einwände geht H. Räisänen davon aus, dass Paulus sich unbewusst tatsächlich widerspricht, was er folgendermaßen erklärt: Die Heiden stellten in dem Gedankengang Röm 2 nur ein Mittel zum Zweck dar. Paulus habe an ihnen selbst kein Interesse. Ihm gehe es nur darum, die Schuld der Juden zu beweisen. Nur zu diesem Zweck erschienen plötzlich die Heiden, die das Gesetz erfüllen, und verschwänden genauso plötzlich wieder. Sie würden nur als Waffen gebraucht, um die Juden zu schlagen. Hinsichtlich der Frage, ob alle Menschen unter der Sünde sind und somit das Gesetz nicht halten können, sei sich Paulus unschlüssig. Es sei anzunehmen, dass er – wie auch die Juden – nicht von der überzogenen Forderung ausgeht, dass das Gesetz zu hundert Prozent gehalten werden muss, denn das wäre wirklich unmöglich. Wahrscheinlich sei, dass Paulus durchaus zugesteht, dass das Gesetz im Großen und Ganzen gehalten werden kann. C. E. B. Cranfield 1990, 77-85 setzt sich ausgiebig mit den Ausführungen von H. Räisänen auseinander. Er geht der Frage nach, ob Paulus Einstellung dem Gesetz gegenüber tatsächlich so widersprüchlich und durcheinander ist, wie H. Räisänen annehmen lasse. Er macht folgende kritische Anmerkungen: Paulus komme in seinen Briefen zwar auf verschiedene Aspekte des Gesetzes zu sprechen, eine systematische Abhandlung zu diesem Thema finde sich bei ihm aber nirgends. Desweiteren sei eine Schwierigkeit, dass sich viele der Aussagen im Zusammenhang einer Kontroverse finden. H. Räisänens Ansatz sei zu vereinfachend, die Antworten auf offene Fragen sollten aus dessen Sicht zugleich einfach und richtig sein, das sei aber oft nicht zu haben. Es dürfe nicht vergessen werden, dass es verschiedene Muster der Übereinstimmung geben kann. Aufgrund des zu vereinfachenden Ansatzes erkenne H. Räisänen nicht, dass die von Paulus benutzten Begriffe geeignet sind, den Gedanken der Erfüllung auszudrücken, und zwar sowohl hinsichtlich des perfekten Gesetzesgehorsams, der nur Jesus möglich war, als auch hinsichtlich des durch den heiligen Geist angeregten, nicht perfekten Gesetzesgehorsams, der vom gütigen Gott ebenso willkommen geheißen werde.
E. B. Cranfield 1990, 77-85 setzt sich ausgiebig mit den Ausführungen von H. Räisänen auseinander. Er geht der Frage nach, ob Paulus Einstellung dem Gesetz gegenüber tatsächlich so widersprüchlich und durcheinander ist, wie H. Räisänen annehmen lasse. Er macht folgende kritische Anmerkungen: Paulus komme in seinen Briefen zwar auf verschiedene Aspekte des Gesetzes zu sprechen, eine systematische Abhandlung zu diesem Thema finde sich bei ihm aber nirgends. Desweiteren sei eine Schwierigkeit, dass sich viele der Aussagen im Zusammenhang einer Kontroverse finden. H. Räisänens Ansatz sei zu vereinfachend, die Antworten auf offene Fragen sollten aus dessen Sicht zugleich einfach und richtig sein, das sei aber oft nicht zu haben. Es dürfe nicht vergessen werden, dass es verschiedene Muster der Übereinstimmung geben kann. Aufgrund des zu vereinfachenden Ansatzes erkenne H. Räisänen nicht, dass die von Paulus benutzten Begriffe geeignet sind, den Gedanken der Erfüllung auszudrücken, und zwar sowohl hinsichtlich des perfekten Gesetzesgehorsams, der nur Jesus möglich war, als auch hinsichtlich des durch den heiligen Geist angeregten, nicht perfekten Gesetzesgehorsams, der vom gütigen Gott ebenso willkommen geheißen werde.
S. Moyise 1995, 367-370 geht der Frage nach, wie die lange Kette von Zitaten zu deuten ist. Oberflächlich gesehen sei der Sachverhalt klar, denn V.9.19 lasse sich entnehmen, dass die Sünde universal ist. Bei genauerer Betrachtung werde jedoch deutlich, dass sich die Zitate in ihrem ursprünglichen Zusammenhang nicht auf alle Menschen, sondern nur auf die Frevler beziehen, die Feinde Israels. S. Moyise kommt zu der Schlussfolgerung, dass Paulus in 3,10-18 die Leser davon zu überzeugen versuche, dass Gott mit Recht Frevel bestraft. Diese Aussage bringe Paulus in einen Dialog mit der frohen Botschaft, dass Gott den Sündern vergibt (3,21-26). Paulus‘ interpretierende Kommentare in 3,9.19 sollten die Leser zu dem Schluss führen, dass alle Menschen des Evangeliums bedürfen. Hinzu komme jedoch als zweite Stimme der alte Zusammenhang der Zitate, wonach Gott schon immer mit den Gerechten und gegen die Frevler gewesen sei.
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Beobachtungen: Die Schriftzitate verdeutlichen zwar die Schuld aller Welt vor Gott, doch ist damit noch kein konkreter Bezug auf die Juden, die ja die paulinische Rechtfertigungslehre kritisieren, gegeben. Nachdem Paulus in V. 19 die Juden als konkrete Adressaten der Aussagen der Schriftzitate benannt hat, macht er nun deutlich, was die Schriftzitate - und damit aus Sicht des Apostels das „Gesetz“ insgesamt - zur Bedeutung der Werke des Gesetzes sagt: Aufgrund von Werken des Gesetzes wird kein Fleisch, d. h. kein (aus Fleisch und Blut bestehender) Mensch vor Gott gerecht. Durch das Gesetz kommt nur die Erkenntnis der Sünde, eben weil niemand in der Lage ist, sämtliche Satzungen und Gebote zu halten (vgl. Gal 3,6-25). Das wird mit jeder Gesetzesübertretung deutlich.
Weiterführende Literatur: Weil Paulus kein systematischer Denker gewesen sei, habe sich die Forschung laut H. W. Boers 1988, 55-68 auf die Erforschung des Zentrums seiner Theologie und nicht der systematischen Übereinstimmung seiner Aussagen konzentriert. Über diese Untersuchungen zum Zentrum der paulinischen Theologie gibt H. W. Boers einen Überblick, wobei auch die Rechtfertigung als zentrales paulinisches Thema in den Blick kommt.
Gemäß T. H. Tobin 1993, 298-318 habe Paulus polarisiert, wobei zwischen ihm und der christlichen Gemeinde in Jerusalem aufgrund seiner Theologie ein Graben entstanden sei. Um die Auseinandersetzung zu entschärfen, habe er herauszustellen versucht, dass seine umstrittenen Thesen zur Sündhaftigkeit von Juden und Heiden tatsächlich in den jüdischen Schriften und in der jüdischen Theologie gründen. Diese Strategie versucht T. H. Tobin anhand von 1,18-3,20 nachzuweisen.
Eine betont lebensnahe Auslegung von Röm 1,17; 3,20 und 4,1-5, Aussagen zur Rechtfertigung aus Glauben, bietet H. Weder 1992, 28-36.
G. Lafon 1987, 32-53 merkt an, dass der Begriff „nomos“ („Gesetz“) im Römerbrief bis 2,27 fehle, dann aber zwischen 3,19 und 3,31 gleich elf Mal genannt werde. Danach tauche er erst wieder in 4,13 auf. Die Häufigkeit des Begriffs im Abschnitt 3,19-31 lasse annehmen, dass es sich dabei um eine zusammenhängende Einheit handelt. Das Gesetz, speziell das „Gesetz des Glaubens“, ist denn auch der Gegenstand der Untersuchung von G. Lafon.
Eine ausgiebige kritische Begutachtung der Kommentare von J. D. G. Dunn, C. E. B. Cranfield, N. T. Wright und D. Moo zu Röm 3,20 bietet H. Bowsher 2006, 295-303. Zunächst gibt er einen Überblick über die Definitionen von „Gesetzeswerke“, dann beschreibt er die – von C. E. B. Cranfield und D. Moo geteilten - Annahmen von J. D. G. Dunn und N. T. Wright bezüglich des Gesetzes in V. 19, um abschließend dem Thema „Gesetz“ in der Erörterung 1,18-3,18 nachzuspüren. Diese wecke Zweifel bezüglich der Deutungen der vier Ausleger.
M. Bachmann 1993, 1-33 betrachtet die Rechtfertigung unter dem Aspekt der „Werke des Gesetzes“, nicht der „Gerechtigkeit Gottes“. Er vertritt folgende These: Paulus meine mit dem Ausdruck „Werke des Gesetzes“ nicht etwas, was auf der durch das Tun gemäß den Regelungen des Gesetzes markierten Ebene liegt, insbesondere nicht: Gebotserfüllungen, sondern er meine mit dem Syntagma „Werke des Gesetzes“ die Regelungen des Gesetzes selber.
N. Baumert 2005, 153-172 versucht anhand von 3,27 aufzuweisen, dass für 3,20.28 die Bedeutung „aus einem / ohne ein Werke-Gesetz“ („ex ergôn nomou“) nahe liege.
T. Schreiner 1993, 131-155 geht davon aus, dass Werke des Gesetzes für die Rechtfertigung erforderlich sind. Er legt dar, dass Paulus in 2,17-24 behaupte, dass die Beschneidung und der Besitz des Gesetzes für die Juden wertlos seien, wenn sie das Gesetz nicht befolgen. In diesem Fall seien sie dem Gericht Gottes unterworfen. Juden und Heiden, die den (heiligen) Geist nicht besitzen, seien nicht in der Lage, das Gesetz zu befolgen, ganz im Gegensatz zu den Heiden, die durch den Geist verwandelt worden sind. Von solchen verwandelten Heiden, den Heidenchristen, sprächen 2,7.10.26-29. Diese Auslegung widerspreche nicht 3,20, wonach aufgrund von Werken des Gesetzes niemand gerechtfertigt wird. 3,20 sei nämlich an diejenigen gerichtet, die meinen, sie könnten nur durch das Halten des Gesetzes, also ohne das Wirken des Geistes, gerechtfertigt werden. Nicht durch das Halten des Gesetzes werde der Geist und die Rechtfertigung erlangt, sondern durch den Glauben.
Mit den „Gesetzeswerken“ in den Paulusbriefen und in der Qumranschrift 4QMMT befasst sich R. Penna 1997, 155-176.
P. R. Gryziec 1997, 16-22 sieht keinen Widerspruch zwischen Röm 2,12-13 und 3,20.28.
H. Boers 1992, 273-281 ist der Ansicht, dass der scheinbare Widerspruch auf einem Missverständnis bezüglich dessen beruhe, was Paulus meint, wenn er die Werke des Gesetzes und den Glauben einander gegenüberstellt. Paulus selbst leiste dem Missverständnis aufgrund der zweideutigen Art, mit der er die Formulierung „Rechtfertigung durch Werke des Gesetzes“ in Röm 2 als Hinweis auf Gottes Anerkennung und Belohnung der guten Werke und Bestrafung des Bösen gebrauche; und in 3,20-4,25, wo sich die Rechtfertigung durch Gesetzeswerke zusammen mit der Beschneidung auf das Vertrauen angesichts des Judeseins, angesichts der Zugehörigkeit zum Bundesvolk als Heilsgarantie, die das Heil der Heiden ausschließe, beziehe. Tatsächlich wolle Paulus jedoch sagen, dass man nicht Jude sein müsse, um gerechtfertigt zu werden. So könne der von Gott gerechtfertigte Abraham von den Juden – ebenso wie von den Christen – nicht für sich allein beansprucht werden.
Soweit N. Walter 1991, 99-102 sieht, sei bisher kaum bemerkt worden, dass an den beiden Stellen Röm 3,20; Gal 2,16, an denen der Hinweis auf die Sündverfallenheit aller Menschen (aus Juden und Heiden) mit der Verkündigung der gnädigen Zuwendung Gottes in Jesus Christus sachlich eng zusammenhänge, ein Bezug auf die Sintfluterzählung im Hintergrund stehe (vgl. den Gebrauch der vornehmlich auf Menschen, aber auch auf Tiere bezogenen Wendung „alles Fleisch“ in Gen 6-9). Dieser Gott, der Eine Gott Israels und der „Völker“ trage die Züge eines Vaters und einer Mutter seiner Menschen. Und es sei ganz einleuchtend, dass der Part des sich seiner Menschen in Liebe und Erbarmen annehmenden , ihnen tröstlich und freundlich zuredenden Gottes religionsgeschichtlich der Rolle einer weiblichen Gottheit wie Ischtar entspricht.
Zum Gedankengang von Röm 3,19-20 und 3,25b-26 siehe J. Lambrecht 2009, 733-737. Zur Frage, warum niemand aufgrund von Werken des Gesetzes gerechtfertigt wird, würden verschiedene Antworten gegeben: a) Das Halten der Gesetze sei mit Ruhmsucht, Stolz und Selbstgerechtigkeit verbunden. b) Niemand könne das gesamte Gesetz halten. c) Paulus erhalte seine Einsicht aus atl. Texten, insbesondere Ps 142,2 und Hab 2,4. d) Begründung mit der von Gott durch Jesus Christus geschenkten Gnade. Die Antwort a) hält J. Lambrecht für nicht zutreffend.
Literaturübersicht
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