Röm 9,19-21
Übersetzung
Röm 9,19-21:19 Du wirst mir nun sagen: „Warum tadelt er dann noch? Wer hat sich denn seinem Willen widersetzt?“ 20 O Mensch, wer bist du eigentlich, dass du (dem) Gott widersprichst? Wird denn das Gebilde zum Bildner sagen: „Warum hast du mich so gemacht?“ 21 Oder hat nicht der Töpfer Vollmacht über den Ton, aus derselben Masse das eine Gefäß für einen edlen Zweck zu machen, das andere für einen unedlen?
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Beobachtungen: In dem vorhergehenden Abschnitt 9,13-18 hat Paulus dargelegt, dass Gott die Macht hat, zu erwählen und zu verhärten oder zu verwerfen, wen er will. Daraus kann man die Schussfolgerung ziehen, dass Gott (= „er“) kein Recht zukommt, denjenigen, den er verhärtet oder verworfen hat, auch noch zu tadeln. Dass Gott den Pharao, dessen Herz er verhärtet hatte (vgl. Ex 4,21; 7,3; 9,12; 14,4.8.17; auf diesen Textstellen basierend auch Röm 9,17-18) verschont und nicht dahingerafft hat, ist folglich nur rechtens. Gott kann dem Pharao keinen Vorwurf machen, wenn doch er selbst diesem das Herz verhärtet hat. Ein Vorwurf wäre nur dann gerechtfertigt, wenn sich jemand dem göttlichen Willen widersetzt hätte. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn Gott den Pharao sofort die Notwendigkeit des Auszugs der Israeliten aus Ägypten hätte erkennen lassen wollen, sich der Pharao jedoch dieser Bestimmung widersetzt hätte. Ein solcher Widerstand gegen die Erwählung wird aus dem Römerbrief nicht ersichtlich. Dabei sei jedoch angemerkt, dass das Buch Exodus die Verhärtung des Herzens des Pharaos nicht allein auf Gottes Wirken zurückführt, sondern auch auf den Willen des Pharaos (vgl. Ex 7,13-14.22; 8,15.19.32; 9,7.34-35). Nun macht Paulus (und damit sicherlich auch Gott) den Juden den Vorwurf, dass sie christusfern sind, also nicht an den Messias Jesus Christus und das mit diesem verbundene Heilsgeschehen glauben (vgl. Röm 9,3). Wie kann - so der Einspruch - Gott den Juden dafür tadeln, dass er christusfern ist, wenn er ihn nicht zum Glauben erwählt hat? Der Jude gibt sich doch nur so, wie es seiner göttlichen Bestimmung entspricht. Er hat sich dieser Bestimmung nicht widersetzt.
Weiterführende Literatur: Bei der Frage nach Israel und Kirche in Röm 9 bestehe laut M. Rese 1988, 208-217 das Hauptproblem darin, überhaupt zu erkennen, was Paulus in diesem Kapitel sagt, nicht aber darin, welche Rolle die Aussagen von Röm 9 in irgendwelchen Diskussionen spielen. Deshalb werde er im Folgenden zunächst ausführlicher auf Schwierigkeiten in Gedankenführung und Ausdruck von Röm 9 eingehen, dann kurz nach dem Aufbau und dem Thema von Röm 9 fragen und schließlich einiges zu jenen Aussagen in Röm 9 sagen, die Israel und der Kirche gelten. Grundsätzlich zu Israel und der Kirche: Über Israel sage Paulus in Röm 9 viel, über die Kirche, genauer die Christen, wenig, über das Verhältnis beider zueinander nichts. Aus den Aussagen folge: Was immer noch im Folgenden über Israel und Kirche ausgesagt werden mag, nach den Aussagen in Röm 9 könne dabei die Tatsache nicht außer acht gelassen werden, dass auch das ungläubige Israel immer noch von Gott berufen bleibt.
W. R. Stegner 1984, 37-52 vertritt die Meinung, dass es sich bei dem Abschnitt Röm 9,6-29 aufgrund von Form und Inhalt um einen Midrasch handele.
Das Verhältnis zwischen talmudischen und patristischen Studien, die sich zwar mehr oder weniger mit der gleichen Zeitspanne befassten, darüber hinaus jedoch gegenwärtig wenig gemeinsam hätten, und die Auslegung von Röm 9 seitens der griechischen Kirchenväter hat M. Parmentier 1989, 139-154 zum Thema.
Laut M. Uddin 1999, 265-280 führe Paulus die Zurückweisung des christlichen Glaubens seitens der Juden mal auf Gott, mal auf den Satan (2 Kor 4,4: „Gott dieser Weltzeit“) und mal auf das Volk Israel selbst zurück. Es stelle sich die Frage, ob angesichts dieses Befundes die paulinische Theologie bezüglich des Unglaubens der Juden noch als stimmig bezeichnet werden könne. M. Uddin bejaht dies, wobei er auf den Einfluss intertestamentarischer jüdischer Apokalyptik hinweist. Er schließt mit Überlegung zur Beurteilung von Stimmigkeit.
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Beobachtungen: Paulus entgegnet dem Einwand, indem er das fiktive „Du“ direkt anspricht. Die Anrede eines fiktiven Gesprächspartners ist typisch für die Diatribe („diatribê“ = „Unterredung“), eine von rhetorischen Fragen, Zitaten und Sprüchen, ironischen Aussagen, fiktiven Reden, Paradoxien sowie Antithesen und Parallelismen geprägte Unterredung. Dabei ist jedoch nur der Gesprächspartner an sich fiktiv, nicht jedoch dessen Gedankengut. Dieses ist durchaus real und dürfte Paulus bei verschiedenen Begegnungen mit Menschen begegnet sein.
Es ist anzunehmen, dass es sich bei dem fiktiven „Du“ in 9,19-21 um einen Juden handelt, denn diese sehen sich ja mit dem Vorwurf der Christusferne konfrontiert. Paulus redet das fiktive „Du“ mit „Mensch“ und nicht mit „Jude“ oder „Israelit“ an. Das zeigt, dass er seine Aussagen nicht nur auf die Juden, sondern auf alle Menschen bezogen sehen will. Dem Menschen spricht er grundsätzlich das Recht ab, Gott zu widersprechen und ihn für eine nicht erfolgte Erwählung zur Rechenschaft zu ziehen.
Paulus verdeutlicht seine Theologie anhand eines Bildes aus der Welt des Kunsthandwerks. Dabei vergleicht er den Menschen mit einem Gebilde und Gott mit dem Bildner. Der biblische Hintergrund für diesen Vergleich dürfte die Tatsache sein, dass der Mensch von Gott geschaffen ist (vgl. Gen 1,26-27; 2,7.21-23). Der Bildner - sei es ein Mensch oder Gott - braucht sich gegenüber dem Gebildeten - sei es ein Gegenstand oder ein Mensch - nicht zu rechtfertigen. Daher wäre es unangemessen, wenn das Gebilde dem Bildner die Frage stellen würde, warum er es so gemacht hat, wie es ist. Kein vom Bildner hergestellter Gegenstand fragt so.
Das Schema der Anklage des vom Schicksal Getroffenen und der Entgegnung, die dem Menschen das Recht auf Anklage des in seinem Handeln freien Gottes abspricht, findet sich auch im biblischen Buch Ijob. In der Frage (V.19), wer sich denn dem Willen Gottes widersetzt hat, klingt Ijob 9,19 (vgl. Weish 12,12) an; die Passagen Ijob 38,2-3; 40,1-2 sprechen dem Menschen das Recht auf Anklage Gottes ab.
Die zweite rhetorische Frage ist aus zwei nicht gekennzeichneten Zitaten aus dem biblischen Buch Jesaja zusammengesetzt. Die Einleitung zur - für unangemessen gehaltenen - Frage des Gebildes ist ein ungenaues Zitat des Mittelteils von Jes 29,16LXX. Die Frage des Gebildes selbst basiert auf Jes 45,9 (ähnlich auch Weish 12,12). Ähnlich wie im Buch Jesaja findet sich das Bild vom Bildner bzw. Töpfer und dem Gebilde bzw. Gefäß auch im Buch Jeremia (vgl. Jer 18,1-17).
Weiterführende Literatur: Wie der Apostel in 9,19-21 mit dem AT umgeht, thematisiert H. Hübner 1984, 46-49. Es handele sich bei V. 20b wohl um eine Kombination von Jes 29,16LXX (Anfang und Schluss) und Jes 45,9, Paulus habe aber wahrscheinlich auch Jer 18,6 und Weish 12,12 vor Augen. Ob Paulus nun in V. 20b Jes 29,16 als von Gott gesprochenes Wort anführt, sei schwer zu sagen. Dagegen spreche, dass er gerade hier nicht präzise bei der inhaltlichen Aussage des Zitats bleibt.
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Beobachtungen: V. 21 konkretisiert den Bildenden als Töpfer. Der Töpfer hat Vollmacht, aus der Tonmasse das zu formen, was er will. Er ist über sein Tun den geformten Gefäßen keine Rechenschaft schuldig. Er kann aus derselben Tonmasse ein Gefäß „zur Ehre“ („eis timên“) , aber auch ein Gefäß „zur Unehre“ („eis atimian“) machen.
Es stellt sich die Frage, wem das Gefäß zur Ehre bzw. Unehre gereicht. Dem Töpfer selbst? Oder dem Gefäß? Oder dem Kunden, den das Gefäß ehrt oder schmäht? Bei der Auslegung ist zu bedenken, dass es sich bei Gefäßen vorrangig um Gebrauchsgegenstände handelt. Diese können bei festlichen Anlässen benutzt werden oder auch im Alltag. Insofern können sie für den edlen Zweck/Gebrauch, aber auch für den unedlen bestimmt sein. Dieser gewöhnlichen Bestimmung für den Gebrauch entspricht weniger die wörtliche Übersetzung „zur Ehre“ bzw. „zur Unehre“ als die Übersetzung „für einen edlen Zweck“ bzw. „für einen unedlen Zweck“.
Unklar ist, welches das Bezugswort des Genitivs „tou pêlou“ („des Tons“) ist. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder bezieht sich der Genitiv auf „exousia“ („Vollmacht“) oder auf „kerameus“ („Töpfer“). In ersterem Fall wäre ausgesagt, dass der Töpfer Vollmacht über den Ton hat, in letzterem Fall, dass der Töpfer, der mit dem Ton arbeitet (wörtlich: „Töpfer des Tons“), Vollmacht hat.
Weiterführende Literatur: Zur Prädestination und Auswahl aus Gnade (Röm 9,6-29; 11,1-6) siehe D. Zeller 1990, 172-174.
T. R. Schreiner 1993, 25-40 geht der Schlüssigkeit von zwei Einwänden gegen die calvinistische Annahme, dass Gott nicht nur den christlichen Glauben von Menschen vorhersehe, sondern Menschen sogar zum Glauben vorherbestimme, nach. Die beiden Einwände lauten: a) Röm 9 handele nicht von der Errettung, sondern von der historischen Bestimmung Israels und von dessen Rolle in der irdischen Geschichte. b) Selbst wenn Röm 9 von der Errettung handeln würde, dann nicht von der Errettung von Individuen, sondern von Gruppen. T. R. Schreiner hält beide Einwände für nicht stichhaltig: Ersterer Einwand widerspreche der Tatsache, dass der gesamte Zusammenhang Röm 9-11 von der Errettung Israels handele. Letzterer Einwand übersehe, dass die Errettung von Individuen und die Errettung von Gruppen nicht von einander zu trennen sind.
Literaturübersicht
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Hübner, Hans; Gottes Ich und Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9-11 (FRLANT 136), Göttingen 1984
Parmentier, Martin; Greek Church Fathers on Romans 9, Bijdr. 50 (1989), 139-154
Rese, Martin; Israel und Kirche in Römer 9, NTS 34/2 (1988), 208-217
Schreiner, Thomas R.; Does Romans 9 teach individual election unto salvation? Some exegetical and theological reflections, JETS 36/1 (1993), 25-40
Stegner, William Richard; Romans 9,6-29 – A Midrash, JSNT 22 (1984), 37-52
Uddin, Mohan; Paul, the Devil and “Unbelief” in Israel (with particular Reference to 2 Corinthians 3-4 and Romans 9-11), TynB 50/2 (1999), 265-280
Zeller, Dieter; Charis bei Philon und Paulus (SBS 142), Stuttgart 1990