Röm 10,1-4
Übersetzung
Röm 10,1-4: 1 Geschwister, das Verlangen meines Herzens und das Gebet für sie zu (dem) Gott [zielen] auf [ihre] Rettung. 2 Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer um Gott haben, jedoch nicht gemäß [rechter] Erkenntnis. 3 Indem sie nämlich die Gerechtigkeit (des) Gottes nicht zur Kenntnis nahmen und ihre eigene aufzurichten suchten, haben sie sich der Gerechtigkeit (des) Gottes nicht untergeordnet. 4 Denn des Gesetzes Ende ist Christus zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt.
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Beobachtungen: 9,30-33 hat zu dem Kerngedanken von 10,1-21 hingeführt, dass die Israeliten bezüglich der Erfüllung des Gesetzes - gemeint ist das in der Tora (= fünf Bücher Mose) enthaltene jüdische Religionsgesetz - die falsche Herangehensweise gewählt haben. Sie versuchen es mittels der Werke, d. h. der Befolgung der einzelnen Gebote, zu erfüllen, nicht jedoch mittels des Glaubens an den verheißenen Messias (= Gesalbter = Heilsbringer) Jesus Christus. Somit können sie nicht zum Gesetz gelangen, d. h. es erfüllen. Folglich werden sie auch nicht von Gott bzw. Jesus Christus gerechtfertigt.
Wer nicht gerechtfertigt wird und somit von den Verfehlungen freigesprochen, hat keine Rettung zu erwarten. Der Begriff „Rettung“ macht deutlich, dass es einen Zustand gibt, vor dem die Menschen gerettet werden müssen. Paulus beschreibt diesen Zustand hier zwar nicht, doch dürfte es sich dabei um einen Zustand handeln, der von fehlender Auferstehung zum ewigen Leben und von Gottesferne geprägt ist. Man kann ihn also als Zustand des (leiblichen und existenziellen) Todes ansehen.
Obwohl den Israeliten als Gottesvolk an erster Stelle die Rettung zuteil werden müsste, laufen sie aufgrund ihres fehlenden Glaubens an den verheißenen Messias Gefahr, nicht gerettet zu werden. Paulus fühlt sich als gebürtiger Israelit seinen „Stammesgenossen dem Fleische nach“ besonders nahe und wünscht, dass diese gerettet werden (vgl. Röm 9,2-3). Das ist das Verlangen seines Herzens und der Inhalt seines Gebetes.
„Geschwister“ meint hier nicht leibliche Geschwister, sondern Glaubensgeschwister, nämlich Christinnen und Christen. Bei dem Substantiv „adelphoi“ handelt es sich zwar um eine maskuline Form, die zunächst mit „Brüder“ zu übersetzen ist, jedoch sind hier vermutlich auch die „Schwestern“ eingeschlossen, denn Paulus schreibt ja an alle römischen Christen und nicht nur an die männlichen. Dass die „Schwestern“ unkenntlich bleiben, liegt an der männerzentrierten Sprache, die gemischtgeschlechtliche Gruppen als reine Männergruppen erscheinen lässt.
Weiterführende Literatur: J. Lambrecht 1999, 141-147 geht der Frage nach, ob Röm 10,1 einen deutlichen Bruch im Gedankengang des Apostels Paulus darstellt. Viele Ausleger sähen 9,30-10,21 als den zweiten von drei Hauptabschnitten in Röm 9-11 an. Sie seien der Ansicht, dass die Frage „ti oun eroumen“ („Was sollen wir nun sagen?“) Inhalte einleite, die sich dermaßen stark von den vorhergehenden Inhalten unterschieden, dass 9,30 als Übergang vom ersten zum zweiten Hauptabschnitt angesehen werden könne. J. Lambrecht gibt jedoch zu bedenken, dass 9,30-33 möglicherweise besser als Schluss(folgerung) des ersten Hauptabschnitts betrachtet werden könne. Zwischen 9,30-33 und 10,1-4 liege ein deutlicher Bruch im Argumentationsverlauf vor: im 10. Kapitel liege nicht länger diatribischer Stil und Theodizee vor; vielmehr liege der Schwerpunkt auf menschlicher Verantwortung und Schuld.
Gemäß A. Dewey 1994, 109-128 zeige ein Vergleich der Art und Weise, wie Paulus und Philo Dtn 30,11-14 heranzogen, dass ihre Wahl dieser Stelle von politisch entscheidender Bedeutung war. Sowohl Philo als auch Paulus hätten – obwohl sie in unterschiedliche Richtung gearbeitet hätten – ihre jeweiligen Hörer zu einer aktiven und unmittelbaren Antwort in einer Welt, in der Macht, Reichtümer und Herrschaft als Domäne einer kleinen Elite galten, herausgefordert. Sowohl Paulus als auch Philo hätten, wenn auch auf unterschiedliche Weise, von der Macht der schriftlichen und mündlichen Kommunikationsmittel Gebrauch gemacht. Beide hätten einzuschärfen versucht, dass die letztendliche Macht in der Gewalt der jeweiligen Zuhörer sei. Paulus diene Dtn 30 als umstürzlerische mündliche Botschaft an die nicht zur Elite Gehörigen, wogegen Philo sich die Botschaft zu eigen mache, um die Gebildeten zu ermutigen, an einer allmählichen Umwandlung teilzuhaben.
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Beobachtungen: Paulus streitet nicht grundsätzlich ab, dass die Israeliten um Gott eifern. Das Eifern dürfte dabei nicht als religiöser Fanatismus zu interpretieren sein, sondern als der Glaube an Gott und als das Bemühen, gottgefällig zu leben. Ein solches Bemühen zeichnete auch Paulus zu seiner Zeit als gesetzestreuer Jude aus. Nicht fehlenden Gotteseifer kritisiert Paulus an seinen „Stammesgenossen dem Fleische nach“, sondern dass dieser ohne rechte Erkenntnis erfolgt.
Weiterführende Literatur: M. Rese 1989, 252-266 fragt zunächst ausführlich nach dem Platz von Röm 10 innerhalb von Röm 9-11 sowie nach Thema, Struktur und Gedankengang dieses Kapitels, geht dann kurz auf jene Stellen in ihm ein, an denen von Israels Unwissen und Ungehorsam (vgl. V. 2.3.16.21) und von der Verkündigung des Glaubens durch Paulus (v. a. V. 8) die Rede ist, ein und bestimmt deren Zusammenhang. Abschließend sagt er etwas zu dem Beitrag von Röm 10 zu einer „Gesamtauffassung“ von Röm 9-11.
Laut G. Theißen 2002, 310-341 sei Paulus kein systematischer Theologe gewesen. Sein Denken sei voll von Widersprüchen. Man werde ihm gerechter, wenn man sie nicht weginterpretiert, sondern historisch und psychologisch interpretiert. In Röm 9,1ff. identifiziere er sich mit Israel aufgrund von Geburt und Herkunft. In 10,1ff. identifiziere er sich mit seinen Stammverwandten aufgrund ihres Unglaubens: Juden und Paulus seien dadurch verbunden, dass sie alle Anstoß und Ärgernis genommen und in falschem „Eifer“ gehandelt haben. Am Ende stehe jedoch die Andeutung einer positiven Wende: Israel habe zwar die Botschaft abgelehnt, aber Gott strecke trotzdem seine Hände nach einem ungehorsamen und widerspenstigen Volk aus. In dieser Anklage werde indirekt eine Hoffnung formuliert: Gott lasse sich durch die Ablehnung Israels nicht beirren, sich ihm weiterhin zuzuwenden.
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Beobachtungen: Aus V. 3 geht hervor, was mit der fehlenden Erkenntnis gemeint ist: Die Israeliten haben die Gerechtigkeit Gottes nicht zur Kenntnis genommen und sich ihr nicht untergeordnet. „Gerechtigkeit Gottes“ meint wahrscheinlich die Gerechtigkeit, die von Gott stammt. Paulus kommt es darauf an, dass die Gerechtigkeit - gemeint ist die Nichtanrechnung der im Leben begangenen Sünden beim endzeitlichen Weltgericht - ein Geschenk Gottes ist, das sich der Mensch auch bei noch so viel Gotteseifer nicht verdienen kann.
Dass die Gerechtigkeit ein Geschenk ist, haben die Israeliten nicht zur Kenntnis genommen. Daher versuchen sie weiterhin, sie sich durch eigenes Bemühen „aufzurichten“ und sorgfältig die Satzungen und Gebote des Gesetzes zu halten. Dies hält Paulus für den falschen Weg, die Gerechtigkeit erlangen zu wollen. Richtig wäre es, sich diese schenken zu lassen und sich so unter sie unterzuordnen.
Weiterführende Literatur: Was 9,30-10,3 zum paulinischen Gesetzesverständnis besagt, untersucht T. Schreiner 1991, 209-220.
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Beobachtungen: Wenn aber die „Gerechtigkeit Gottes“ ein Geschenk ist, so bedarf es nicht mehr des Gesetzes, um die Gerechtigkeit zu erlangen. Die Gerechtigkeit Gottes kann man also als Ende des Gesetzes ansehen. Bei dem Ende handelt es sich vermutlich nicht um die Abschaffung des Gesetzes an sich, sondern nur um das Ende der Heilsfunktion des Gesetzes: Aufgrund der „Gerechtigkeit Gottes“ ist es nicht mehr notwendig, alle Satzungen und Gebote um des Heils willen zu halten.
Paulus bringt mit der Gerechtigkeit untrennbar Christus in Verbindung. Nur aufgrund dessen stellvertretenden Sündentodes am Kreuz und aufgrund dessen Auferweckung von den Toten haben die Menschen unverdientermaßen Gerechtigkeit und somit auch ewiges Leben zu erwarten. Deshalb schreibt der Apostel auch nicht „des Gesetzes Ende ist die Gerechtigkeit Gottes“, sondern „des Gesetzes Ende ist Christus“. Voraussetzung dafür, dass das Heilsgeschehen am Menschen wirksam werden kann, ist jedoch, dass er an dieses glaubt. Glaube ist für Paulus nicht allgemein der Glaube an den Gott Israels, sondern ganz konkret der Glaube an den von Gott herkommenden verheißenen Messias und an das mit diesem verbundene Heilsgeschehen.
Das griechische Substantiv „telos“ kann nicht nur als „Ende“ gedeutet werden, sondern auch als „Vollendung“ oder „Ziel“. Die Übersetzung kann folglich „des Gesetzes Ende ist Christus“, „des Gesetzes Vollendung ist Christus“ oder „des Gesetzes Ziel ist Christus“ lauten. Gegen die Deutung als „Vollendung“ spricht, dass Christus ja eben nicht eine Kontinuität hinsichtlich der Werkgerechtigkeit darstellt, sondern einen Gegensatz. Werkgerechtigkeit steht der geschenkten Gerechtigkeit unvereinbar gegenüber. Folgt man letzerer Deutung und Übersetzung, so stellt sich die Frage, inwiefern das Gesetz auf Christus abzielt. Am ehesten wäre an das Gesetz als Sündenaufweis und „Zuchtmeister“ zu denken (vgl. Gal 4,19-29; Röm 4,14-15; 7,7-25), das bzw. der deutlich macht, dass sich mittels der sorgfältigen Befolgung aller Satzungen und Gebote nicht die Gerechtigkeit erlangen lässt. Weil die Gerechtigkeit nur von Gott durch den Glauben an Christus erlangt werden kann, zielt das Gesetz auf Christus, den Heilsbringer, ab. Folglich interpretiert Paulus die hebräische Bibel (= AT) im Lichte Christi. Das bedeutet aber nicht zugleich, dass Paulus das gesamte Gesetz aufgehoben und dessen Erfüllung für überflüssig hält. Er sieht die Erfüllung allerdings nicht in der schier unmöglichen Befolgung aller Satzungen und Gebote gegeben, sondern im Üben von Nächstenliebe (vgl. Gal 5,14).
Der Satzbau lässt annehmen, dass sich „zur Gerechtigkeit“ auf den gesamten vorhergehenden Versabschnitt bezieht und nicht nur auf „des Gesetzes“. Es ist also wohl nicht ausgesagt, dass Christus das Ende/Ziel des zur Gerechtigkeit führenden Gesetzes ist, sondern dass Christus das Ende/Ziel des Gesetzes und der Grund für die Gerechtigkeit der an das Heilsgeschehen Glaubenden ist.
Weiterführende Literatur: T. de Kruijf 2001, 171-189 legt zunächst dar, dass der Römerbrief aus der Sicht der Adressaten, des heutigen Lesers oder aus der Sicht des Verfassers gelesen werden könne. Das Lesen aus ersteren beiden Perspektiven sei mit ernsthaften Schwierigkeiten verbunden, weshalb sich T. de Kruijf für letztere Perspektive entscheidet. Wenn man den Brief als Reflexion des Apostels über das Evangelium Gottes lese, ließen sich seine Charakteristika besser verstehen.
M. A. Getty 1982/83, 79-131 vertritt die Ansicht, dass die von J. C. Beker 1980 gewählte apokalyptische Perspektive den Ausleger in das Herz des paulinischen Denkens hineinführe und die Bedeutung von V. 4 samt engerem Zusammenhang erhellen könne. Eine Deutung, die nicht den Zusammenhang berücksichtige – sei es der Zusammenhang des Verses, des gesamten Römerbriefes, des paulinischen und gesamtkirchlichen Kampfes um Verständnis oder der Zusammenhang der apokalyptischen Bewegung -, sei zum Scheitern verurteilt.
S. K. Davis 2002, der sich auf S. 117-151 konkret mit Röm 9,(25)30-10,13 befasst, vertritt folgende These: Wenn Paulus negativ über die Tora schrieb, dann habe er nicht die Tora an sich im Blick gehabt, sondern eine ganz bestimmte Art der Vorstellung von Tora, wie sie in einer Vielzahl jüdischer Texte begegne. Es handele sich um die Vorstellung der „ewigen Tora“, die auch „kosmische Tora“ oder „ontologische Tora“ genannt werden könne. Die „ewige Tora“ sei nicht nur ein Offenbarungsbuch, eine Buchsammlung oder eine Sammlung von Gesetzen, sondern vielmehr Gottes kosmische Kraft, ein Wesen, das als Mittler zwischen Gott und der Menschheit diene. Die ewige Tora sei das Wort oder die Weisheit, durch das bzw. die Gott die Welt geschaffen hat und auch das Werkzeug des Jüngsten Gerichts. Paulus widersetze sich dieser Tora-Vorstellung, nicht jedoch der Tora an sich, die er als gottgegeben und gut ansehe. Paulus habe einige Aspekte der frühen jüdischen Tora-Theologie abgelehnt und auf Christus diejenigen Funktionen und Titel übertragen, die er bezüglich der Tora zurückgewiesen habe.
Ausführlich zur Auslegungsgeschichte des griechischen Begriffs „telos“ in Röm 10,4 siehe R. Badenas 1985, der sich auch eingehend mit dem Gebrauch des Begriffs in der biblischen und verwandten Literatur befasst und abschließend selbst dessen Bedeutung untersucht. R. Badenas kommt hinsichtlich der grundlegenden Bedeutung der Verse Röm 1,1-5; 1,16; 3,21-22; 10,4 zu folgendem Ergebnis: Der allumfassende Umfang des Evangeliums, das Gottes Gerechtigkeit auf alle, die an Christus glauben - seien sie Juden oder Heiden -, ausweite, stelle die Erfüllung der Schrift dar.
C. Burchard 1997, 341-362 scheint, dass die Tora nach Paulus Gerechtigkeit aus Glauben an Christus nicht nur bezeuge, vorhersehe oder verheiße, sondern auf eine bestimmte Art auch fordere. Die Tora komme in Christus nicht nur zur Erfüllung, sondern auch zu ihrem Recht. C. Burchard versucht das an Röm 3,27-31 und 10,4 zu zeigen. Zu 10,4: In 10,4 scheine Paulus Christus und Glaubensgerechtigkeit am grundsätzlichsten ins Verhältnis zur Tora zu setzen. Dass hier „nomos“ die Tora meint, sei heute kaum strittig. Für „telos“ sei noch keine Einigung in Sicht: Ende, Ziel, Erfüllung, Vollendung oder noch etwas anderes? C. Burchard plädiert für die Bedeutung „Ziel“. Der Satzbau sei wie folgt: „Ziel des Gesetzes“ sei Subjekt. Nicht „Christus“ sei das Prädikat und die übrigen Wörter Erläuterungen dazu, sondern die ganze Wortkette. Die Gerechtigkeit komme „jedem, der glaubt“ zugute.
Zu Israels Schuld angesichts der Glaubensgerechtigkeit Röm 9,30-10,21 siehe H. Hübner 1984, 60-99, der auf S. 72-78 auf 10,1-4 eingeht und dabei auch einen knappen Überblick über die Forschungskontroverse bezüglich des Wortes „telos“ gibt. Dabei gingen die Meinungen nicht nur aus rein exegetischen Gründen auseinander, sondern auch, ja zum Teil sogar mehr noch, aus sehr grundsätzlichen Überzeugungen hinsichtlich der je eigenen theologischen Stellung zum Judentum. Wer in bewusster Absetzung und im bewussten Widerstand zu einer israelkritischen Orientierung der Exegese nicht die Schuld Israels beschrieben sehen wolle, übersetze „telos“ mit Ziel. Andere gäben der Übersetzung „Ende“ den Vorzug. Verschiedentlich werde auch ein Mittelweg vertreten, wonach sowohl das Ende als auch das Ziel des Gesetzes ausgesagt sei.
Zu V. 4 als Ausdruck von zugleich Kontinuität und Diskontinuität siehe A. Gignac 1994, 55-81.
Laut H. Giesen 2006, 156-191 setze Paulus in Röm 10,4 einen deutlichen Akzent: Nur weil Christus das Ziel des Gesetzes sei, könne der Mensch –sei er Jude oder Heide – im Glauben die Gerechtigkeit empfangen. Christus allein sei der Zugang zur Gerechtigkeit Gottes, so dass man von ihm als personifizierter Gerechtigkeit (vgl. 1 Kor 1,30) sprechen könne. Das Gesetz habe damit insofern zutun, als Christus das Endziel des Gesetzes sei. Wie in Röm 1,16-17; 3,21-26 sei die Gerechtigkeit somit christologisch akzentuiert. Ähnlich S. R. Bechtler 1994, 288-308. In 10,4 seien die Tora und Gottes eschatologische Offenbarung der göttlichen Gerechtigkeit in Christus untrennbar miteinander verbunden.
C. T. Rhyne 1985, 486-499 hält 9,31-33 mit dem thematischen Ausdruck „Gesetzesgerechtigkeit“ („nomos dikaiosynês“) für den Schlüssel im Hinblick auf das Verständnis von 10,4. 10,5-8 bekräftige die drei Grundaussagen von V. 4: Erstens bringe Christus das Gesetz in seiner Verheißung der Gerechtigkeit zu seinem Ziel. Zweitens bringe Christus das Gesetz in seiner Verheißung der Gerechtigkeit zu seinem Ziel. Drittens bringe Christus das Gesetz in seiner Verheißung der Gerechtigkeit zu seinem Ziel, so dass Gerechtigkeit von jedem erlangt werden kann, der glaubt.
J. P. Heil 2001, 484-498 kommt nach der Analyse von Röm 9,30-10,8 zu dem Schluss, dass die Übersetzung von „telos“ mit „Ende“ am passendsten sei. Durch seine sorgfältige Auslegung von Lev 18,5 in Verbindung mit Dtn 8,17; 9,4 und 30,12-14 habe Paulus die Aussagen des Gesetzes über das Halten seiner Gebote durch Aussagen darüber, was Gott im Christusereignis getan hat, ersetzt. Der Inhalt des „Glaubenswortes“ ersetze das Gesetzeswort. Es gehe nun also nicht mehr um das Tun von Gebotsforderungen, sondern um den Glauben an Christus. Aus Paulus‘ Sicht sei der Christusglaube aber nicht Ziel oder Zweck, sondern die Alternative zum vergeblichen Versuch, Gerechtigkeit vor Gott durch das Tun von Gesetzeswerken zu erlangen.
Laut F. Refoulé 1984, 321-350 stelle das Christusereignis den Übergang von der Exklusivität zur Universalität dar. Wenn Christus dem Gesetz ein Ende setze, dann deshalb, damit die Gerechtigkeit jedem gegeben werde, der an Christus glaubt.
F. Lang 1997, 579-602 untersucht, in welcher Hinsicht das Gesetz „endet“, wo Christus präsent ist und welche Aussagen des AT Paulus im Auge hat, wenn er sich auf die Schrift als „Zeuge“ für die Gerechtigkeit Gottes beruft, um von hier aus das Verhältnis von Verheißung und Gesetz anhand der eigenen Ausführungen des Apostels sichtbar werden zu lassen. Ergebnis: Der Begriff „ho nomos“ („das Gesetz“) beziehe sich in 3,21 auf den Pentateuch, während mit „hai prophêtai“ auf die Propheten verwiesen und zugleich das übrige AT zusammengefasst werde. Christus sei der eine, die seit Adam herrschende Macht der Sünde überwindende und dadurch das Heil heraufführende Nachkomme Adams und zugleich der eine, das Gesetz durch seinen stellvertretenden Sühnetod erfüllende Nachkomme und Erbe Abrahams, in dem die Verheißung zum Ziel komme. Das Gesetz habe in seiner den Sünder zu Recht anklagenden Funktion für die Christen weiterhin Bedeutung. Zu Christus als „Ende“ des Gesetzes siehe auch W. C. Linss 1988, 5-12, der anmerkt, dass selbst bei der Bedeutung „Ziel“ das Gesetz ein Ende gefunden hätte: Wenn man ein Ziel erreicht hat, habe der Weg keinen Nutzen mehr.
T. R. Schreiner 1993, 113-135 untersucht verschiedene Deutungen des paulinischen Gesetzesverständnisses in 10,4-5 und bietet anschließend eine eigene Deutung. Ergebnis: Christus sei insofern Ende des Gesetzes, als er dem Gebrauch des Gesetzes zur eigenen Rechtfertigung ein Ende setzt. Das bedeute aber nicht, dass jeglicher Bedeutung des Gesetzes für die Gläubigen ein Ende gesetzt werde. Dazu passe, dass V. 5 nicht von der Gerechtigkeit Christi spreche und auch nicht den Glaubensgehorsam beschreibe. Auch sage Paulus in diesem Vers nicht, dass jeder Versuch, das Gesetz zu befolgen, tadelnswert sei. Vielmehr sage Paulus, dass Gerechtigkeit nicht durch das Gesetz komme, weil das Gesetz nicht vollständig befolgt werden könne; und doch versuchten Menschen immer wieder vergeblich, Gott mittels der Werke zu beeindrucken.
M. Stowasser 1996, 1-18 fragt: Christus, das Ende welchen Gesetzes? Sind die ethischen Gebote der Tora auch für Christen bindend oder stellt das Liebesgebot als „Erfüllung des Gesetzes“ (vgl. Gal 5,14; Röm 13,8-10) die Grundlage für ein neues, unabhängiges ethisches System dar? Ergebnis: Für den sittlichen Bereich lasse sich bei Paulus keine Stelle anführen, an der er in ähnlich expliziter Weise ein Ge- oder Verbot für aufgehoben erklärt, wie er dies für die kultisch-rituelle Tora insgesamt deutlich tue. Andererseits falle auf, dass er in den ermahnenden Teilen seiner Briefe auch dort nicht auf das Gesetz zurückgreift, wo für einen konkreten Fall ein entsprechendes Gebot zur Verfügung steht. Eine Antwort auf die Fragen sei schwierig, doch sei von der Gültigkeit zumindest einiger konkreter Einzelweisungen der Tora auszugehen (vgl. Röm 11,18.29; laut 9,4 gehöre auch das Gesetz zu den in 11,29 erwähnten Gaben), auch wenn der für die paulinische Tradition erhobene Befund zunächst eher skeptisch mache. M. Stowasser sieht das Liebesgebot als hermeneutisches Kriterium an. Diesem entsprächen manche atl. Sozialgesetze, die darüber hinausgehend selbst mit jenem sozialethisch selektiven Gesetzesbegriff in Einklang stünden, der sich im paulinischen Traditionsstrom vielfach widerspiegele.
Der Diskussionsbeitrag L. Kundert 1999, 76-89 ist von der Überzeugung geleitet, dass der umstrittenen paulinischen Aussage „Denn des Gesetzes Ende/Vollendung/Ziel ist Christus“ eine ganz bestimmte Argumentationsstruktur zugrundeliege, wie sie uns u.a. auch in einem frühen Text aus Tosefta Nazir 4,7 erhalten sei. Auf diesem Hintergrund sei festzustellen, dass Paulus nicht die Auflösung oder das Ende der Tora, sondern gerade deren Bekräftigung durch eine nach Paulus umfassende neue Halacha aussage.
J. V. Hills, 1993, 585-592 befasst sich mit der seiner Meinung nach vernachlässigten Frage nach der Zeitform des verblosen Satzes V. 4a. Als verbindendes Hilfsverb sei nicht „estin“ („ist“), sondern „ên“ („war“) zu denken; es handele sich somit um einen imperfektischen und nicht um einen präsentischen Satz.
K. Haacker 1998, 127-138 ist der Ansicht, dass der Bedeutung von V. 4 gewöhnlich zu viel Bedeutung beigemessen werde, denn er präzisiere – zugespitzt gesagt – nur den Gedankengang in Röm 10. Der Vers sei gegen das landläufige Verständnis von Luthers Übersetzung dieser Stelle auf der Linie seiner kurzen Bemerkung in der Vorlesung von 1515/16 zu verstehen: Die noch abseits stehenden Israeliten verkennen die im Evangelium verkündigte Gerechtigkeit Gottes, weil sie Christus nicht als das verborgene Thema des Gesetzes (d. h. hier wohl: der Schrift) erkennen. Röm 10,4 sei eine andere Formulierung für die Überzeugung der Urkirche, dass die Christusbotschaft dem Zeugnis der heiligen Schriften entspricht.
Literaturübersicht
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Badenas, Robert; Christ the End of the Law. Romans 10.4 in Pauline Perspective (JSNT.S 10), Sheffield 1985
Bechtler, Steven Richard; Christ, the Telos of the Law: The Goal of Romans 10:4, CBQ 56/2 (1994), 288-308
Beker, Johan Christiaan; Paul the Apostle: the Triumph of God in Life and Thought, Edinburgh 1980
Burchard, Christoph; Glaubensgerechtigkeit als Weisung der Tora bei Paulus, in: C. Landmesser u. a. [Hrsg.], Jesus als die Mitte der Schrift: Studien zur Hermeneutik des Evangeliums (BZNW; 86), FS O. Hofius, Berlin 1997, 341-362
Davis, Stephan K.; The Antithesis of the Ages: Paul’s Reconfiguration of Torah (CBQ.MS 33), Washington DC 2002
de Kruijf, Theo; The Perspective of Romans 10, Bijdr. 62/2 (2001), 171-189
Dewey, Arthur J.; A Re-Hearing of Romans 10:1-15, Semeia 65 (1994), 109-128
Getty, Mary Ann; An Apocalyptic Perspective on Rom 10,4, HBT 4/2 (1982) – 5/1 (1983), 79-131
Giesen, Heinz; Christus – Ende oder Ziel des Gesetzes (Röm 10,4)? Zu Röm 9,30-10,13, in: J. Hainz [Hrsg.], Unterwegs mit Paulus, Regensburg 2006, 156-191
Gignac, Alain; Le christ, telos de la Loi (Rm 10,4), continuité et discontinuité face à l’élection, ScE 46/1 (1994), 55-81
Haacker, Klaus; „Ende des Gesetzes“ und kein Ende? Zur Diskussion von telos nomou in Röm 10,4, in: K. Wengst, G. Saß [Hrsg.], Ja und Nein: christliche Theologie im Angesicht Israels, FS W. Schrage, Neukirchen-Vluyn 1998, 127-138
Heil, Jean-Paul; Christ, the Termination of the Law (Romans 9:30-10:8), CBQ 63/3 (2001), 484-498
Hills, Julian V.; ‘Christ was the Goal of the Law…’ (Romans 10:4), JTS 44/2 (1993), 585-592
Hübner, Hans; Gottes Ich und Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9-11 (FRLANT 136), Göttingen 1984
Kundert, Lukas; Christus als Inkorporation der Tora. Telos gar nomou christos. Röm 10,4 vor dem Hintergrund einer erstaunlichen rabbinischen Argumentation, ThZ 55/1 (1999), 76-89
Lambrecht, Jan; The Caesura between Romans 9.30-3 and 10.1-4, NTS 45/1 (1999), 141-147
Lang, Friedrich; Erwägungen zu Gesetz und Verheißung in Römer 10,4-13, in: C. Landmesser u. a. [Hrsg.], Jesus als die Mitte der Schrift: Studien zur Hermeneutik des Evangeliums (BZNW 86), Berlin 1997, 579-602
Linss, Wilhelm C.; Exegesis of telos in Romans 10:4, BR 33 (1988), 5-12
Refoulé, François; Romains, X, 4. Encore une fois, RB 91/3 (1984), 321-350
Rese, Martin; Israels Unwissen und Ungehorsam und die Verkündigung des Glaubens durch Paulus in Römer 10, in: D.-A. Koch u. a. [Hrsg.], Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum: Beiträge zur Verkündigung Jesu, FS W. Marxsen, Gütersloh 1989, 252-266
Rhyne, C. Thomas; Nomos Dikaiosynês and the Meaning of Romans 10:4, CBQ 47/3 (1985), 486-499
Schreiner, Tom; Israel’s Failure to Attain Righteousness in Romans 9:30-10:3, TrinJ 12/2 (1991), 209-220
Schreiner, Thomas R.; Paul’s View of the Law in Romans 10:4-5, WTJ 55/1 (1993), 113- 135
Stowasser, Martin; Christus, das Ende welchen Gesetzes? Eine Problemanzeige, PzB 5/1 (1996), 1-18
Theißen, Gerd; Röm 9-11 – eine Auseinandersetzung des Paulus mit Israel und sich selbst: Versuch einer psychologischen Auslegung, in: I. Dunderberg et al. [eds.], Fair Play, Leiden 2002, 311-341