Röm 10,14-21
Übersetzung
Röm 10,14-21:14 Wie können sie freilich [den] anrufen, an den sie nicht geglaubt haben? Wie können sie [an den] glauben, auf den sie nicht gehört haben? Wie können sie hören ohne einen, der verkündet? 15 Wie [schließlich] können sie verkünden, wenn sie nicht entsandt wurden? Wie geschrieben steht: „Wie gelegen kommen die Füße derer, die Gutes verkündigen!“ 16 Aber nicht alle haben dem Evangelium gehorcht. Jesaja sagt nämlich: „Herr, wer hat unserer Botschaft geglaubt?“ 17 Folglich [kommt] der Glaube vom Hören, das Hören aber mittels [des] Wortes Christi. 18 Aber, sage ich: Haben sie [dieses] etwa nicht zu hören bekommen? O doch! Über die ganze Erde hin ist ihr Schall gedrungen und bis an die Grenzen der (bewohnten) Erde ihre Worte. 19 Aber, sage ich: Hat Israel etwa nicht erkannt? Als erster sagt Mose: „Ich werde euch eifersüchtig machen auf ein Nicht-Volk, auf ein unverständiges Volk werde ich euch wütend machen.“ 20 Jesaja aber wagt es zu sagen: „Ich wurde von denen gefunden, die mich nicht suchen, ich wurde denen offenbar, die nicht nach mir fragen.“ 21 Zu Israel aber spricht er: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgebreitet gegenüber einem Volk, das ungehorsam ist und widerspricht.“
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Beobachtungen: Paulus leitet mit „freilich“ einen neuen Gedankengang ein. Im unmittelbar vorhergehenden Vers (Röm 10,13) hat er unterstrichen, dass jeder, der den „Herrn“ - gemeint ist im Gegensatz zum ursprünglichen Zusammenhang des Joel 3,5 entnommenen Zitates nicht JHWH, der Gott Israels, sondern Jesus Christus - anruft, gerettet wird. In den beiden Versen Röm 10,14-15 legt er nun dar, dass den Juden (die jüdische Selbstbezeichnung ist „Israeliten“), die nicht ausdrücklich genannt werden, die Voraussetzungen für eine Anrufung des „Herrn“ fehlen.
Paulus verfolgt die einzelnen Schritte zurück, die zur Anrufung Jesu Christi, des „Herrn“ führen: Das Anrufen setzt den Glauben voraus, das Glauben das Hören von einem Verkündigten, das Hören einen Verkündigenden, das Verkündigen das Gesandtsein.
Der Aorist „ouk episteusan“ („...sie nicht geglaubt haben“) ist nicht im Sinne des dauerhaften Unglaubens, sondern im Sinne von „sie sind nicht zum Glauben ... gekommen“ zu verstehen. Es geht also um das Verhalten der Juden angesichts des Inhaltes der Verkündigung, der zurückgewiesen wurde.
Das Relativpronomen im Genitiv („hou“) bezieht sich auf Jesus Christus. Diesen haben sie nicht gehört bzw. auf diesen haben sie nicht gehört.
Im Zitat ist vermutlich Jes 52,7 entnommen, wobei diesem Vers Nah 2,1 ähnelt. Aufgrund der beträchtlichen Unterschiede zur Übersetzung der Septuaginta, die Paulus an anderen Stellen als Vorlage dient, dürfte es sich entweder um ein Zitat aus einer von der Septuaginta abweichenden griechischen Übersetzung, um eine eigene Übersetzung des Apostels aus dem Hebräischen oder um ein freies Zitat handeln. Im Gegensatz zu Jes 52,7 ist nicht nur von einem Freudenboten, sondern von mehreren die Rede. Bei dieser Abweichung handelt es sich vermutlich um eine absichtliche Angleichung an den zuvor zitierten Vers Joel 3,5, wonach eine Mehrzahl Menschen den „Herrn“ anruft und gerettet wird. Diese Änderung entspricht der zeitgenössischen jüdischen Jesaja-Auslegung, wonach es beim Anbruch der Königsherrschaft Gottes eine Vielzahl von Menschen geben werde, die Gott zujubeln und die Kunde von seinem Herrschaftsantritt ausbreiten. Die Verkündigung durch eine Vielzahl Freudenboten entspricht auch der Realität in der missionarischen Arbeit, an der Paulus Anteil hat.
Das Adjektiv „hôraioi“ kann „jugendlich schön“ bedeuten oder auch „zeitlich passend“. In ersterem Fall wäre die Ästhetik, in letzterem Fall der rechte Zeitpunkt im Blick. Beide Aspekte können hier gemeint sein, wobei inhaltlich passender der rechte Zeitpunkt ist. Demnach erfolgt die Verkündigung genau zu Beginn des Anbruchs des Gottesreichs.
Die „Füße“ verkörpern die Verbreitung der frohen Botschaft durch die missionarische Wanderschaft von einem Ort zum nächsten.
Was mit dem „Guten“ gemeint ist, wird nicht dargelegt. Da es sich um den Inhalt der Verkündigung handelt, dürfte es sich um das Heilsgeschehen, das mit dem Messias (= Gesalbter = Heilsbringer) Jesus Christus verbunden ist, handeln.
Weiterführende Literatur: Laut K. O. Sandnes 1991, 154-171 sei das Zitat von Joël 3,5 (in Röm 10,13) der Ausgangspunkt der Logik von Röm 10,14-15. Folglich habe Paulus die apostolische Predigt als Verkündigung des letztendlichen Heils verstanden. Paulus‘ Konzept der Evangeliumsverkündigung sei im Hinblick auf seine Struktur der autorisierten prophetischen Verkündigung im AT ähnlich und sei für Paulus‘ apostolisches Selbstverständnis grundlegend.
Mit Röm 10 unter akustischen Gesichtspunkten befasst sich R. J. Dewey 1989, 212-230.
Gemäß A. Dewey 1994, 109-128 zeige ein Vergleich der Art und Weise, wie Paulus und Philo Dtn 30,11-14 heranzogen, dass ihre Wahl dieser Stelle von politisch entscheidender Bedeutung war. Sowohl Philo als auch Paulus hätten – obwohl sie in unterschiedliche Richtung gearbeitet hätten – ihre jeweiligen Hörer zu einer aktiven und unmittelbaren Antwort in einer Welt, in der Macht, Reichtümer und Herrschaft als Domäne einer kleinen Elite galten, herausgefordert. Sowohl Paulus als auch Philo hätten, wenn auch auf unterschiedliche Weise, von der Macht der schriftlichen und mündlichen Kommunikationsmittel Gebrauch gemacht. Beide hätten einzuschärfen versucht, dass die letztendliche Macht in der Gewalt der jeweiligen Zuhörer sei. Paulus diene Dtn 30 als umstürzlerische mündliche Botschaft an die nicht zur Elite Gehörigen, wogegen Philo sich die Botschaft zu eigen mache, um die Gebildeten zu ermutigen, an einer allmählichen Umwandlung teilzuhaben.
Auch wenn Paulus grundsätzlich die als „Septuaginta“ bezeichnete griechische Übersetzung der Schrift voraussetze, habe es doch laut D.-A. Koch 1986, 57-101 immer Schwierigkeiten bereitet, sämtliche Zitate von dieser Übersetzung herzuleiten. Mehrere Jesaja-Zitate und die beiden Hiob-Zitate des Paulus seien nicht der Septuaginta entnommen; sie stünden dem masoretischen Text wesentlich näher und zeigten zum Teil auch deutliche Übereinstimmungen mit den (späteren!) Übersetzungen von Aquila, Symmachus und Theodotion. Dies weise zugleich darauf hin, dass Paulus hier nicht eigenständig auf den hebräischen Wortlaut der Schrift zurückgreift, sondern an diesen Stellen eine dem hebräischen Text angenäherte Vorlage verwendet. D.-A. Koch geht auf die einzelnen Zitate ein und widmet sich auf S. 66-69.81-82 auch dem Zitat von Jes 52,7 in Röm 10,15.
M. W. Bates 2009, 387-414 vergleicht und kontrastiert die Verwendung von Jes 52,7 in der Qumranschrift 11Q Melchisedek und in Röm 10,15. Um den Beweggrund für ein Zitat herauszufinden, sei der Verweis auf ein Stichwort als Anlass nicht ausreichend. W. Bates versucht den narrativen Rahmen der beiden Texte aufzudecken, die Verwendung von Jes 52,7 darin zu verorten und die Ergebnisse für die Frage nach der Apokalyptik bei Paulus fruchtbar zu machen. Auf diese Weise sollten die Metaerzählungen der beiden Autoren fassbar werden und beide Texte sich gegenseitig erhellen.
Zur Auslegungsgeschichte von Gal 3,2 und Röm 10,14-17 siehe G. Gewalt 1986, 45-64.
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Beobachtungen: Die V. 16-21 haben den Ungehorsam der Juden gegenüber dem Evangelium zum Thema. Die Vielzahl der Zitate aus der hebräischen Bibel (= AT) lässt sich damit erklären, dass Paulus den Juden ihr Fehlverhalten aus deren eigenen heiligen Schriften, in denen er selbst als gebürtiger und ehemals gesetzestreuer Jude bewandert ist, beweisen will. Dabei benennt V. 16 zunächst das Fehlverhalten: Nicht alle haben dem Evangelium gehorcht.
Fraglich ist, wer mit „nicht alle“ gemeint ist. Handelt es sich um eine Teilmenge all derer, denen das Evangelium verkündet wurde, einschließlich der Heiden? Oder ist nur eine Teilmenge aller Juden, denen verkündigt wurde, im Blick? Das Zitat Jes 53,1LXX bezieht sich im ursprünglichen Zusammenhang auf die Israeliten (= Juden), weshalb wohl auch in V. 16 der Blick allein auf diese gerichtet ist.
Wie viele Juden den Glauben an den Messias Jesus Christus nicht angenommen haben, geht aus V. 16 nicht hervor. Wenn ausgesagt ist, dass „nicht alle“ dem Evangelium gehorcht haben, dann scheint es sich bei der Gruppe widerspenstiger Juden nur um eine kleine Gruppe zu handeln. Der resignierte Unterton des Zitats dagegen lässt vermuten, dass kaum ein Jude den christlichen Glauben angenommen hat. Die historische Realität gibt eher dem Zitat Recht. Die Formulierung „nicht alle“ erscheint angesichts dieser Realität als diplomatische Untertreibung.
Dem Gebrauch der Verben „gehorchen“ und „hören“ liegt ein Wortspiel zugrunde: Die Juden haben zwar die Verkündigung gehört („êkousan“), aber nicht auf den Verkündigten gehört („ouk êkousan“) und ihn verinnerlicht. Sie sind also nicht zum Glauben gekommen und haben ihr Leben darauf eingestellt; sie haben dem Evangelium also nicht gehorcht („ou...hypêkousan“).
Dass Paulus Jes 53,1LXX zitiert, dürfte zum einen damit zu erklären sein, dass er als Beweis für das Ausgesagte taugt, zum anderen damit, dass der enthaltene Begriff „akoê“ zum Wortspiel passt. Passend ist nicht nur der Wortlaut, sondern auch die Bedeutung: So meint der Begriff sowohl das „Gehörte“, die Botschaft, als auch das „Hören“.
Die Übersetzung der Septuaginta entspricht dem hebräischen Text Jes 53,1, mit Ausnahme der hinzugefügten Anrede „Herr“.
Weiterführende Literatur: M. Rese 1989, 252-266 fragt zunächst ausführlich nach dem Platz von Röm 10 innerhalb von Röm 9-11 sowie nach Thema, Struktur und Gedankengang dieses Kapitels, geht dann kurz auf jene Stellen in ihm ein, an denen von Israels Unwissen und Ungehorsam (vgl. V. 2.3.16.21) und von der Verkündigung des Glaubens durch Paulus (v. a. V. 8) die Rede ist, ein und bestimmt deren Zusammenhang. Abschließend sagt er etwas zu dem Beitrag von Röm 10 zu einer „Gesamtauffassung“ von Röm 9-11.
Zu Israels Schuld angesichts der Glaubensgerechtigkeit Röm 9,30-10,21 siehe H. Hübner 1984, 60-99, der auf S. 77-99 auf 10,5-21 eingeht.
Eine strukturelle und intertextuelle Analyse von Röm 10,14-17 bietet A. Gignac 1999, 345-361. Paulus beziehe den Jesaja-Text auf die aktuelle Lage: Gemäß Jesaja werden die Heiden Zeugen des Heils Israels sein. Gemäß Paulus dagegen werde Israel Zeuge des Heils der Heiden sein – ein Paradox, das bei den Lesern Verwirrung stifte. Paulus öffne die Heilsbotschaft Jesajas für die Heiden, die somit nicht in der Zuschauerrolle verblieben. Gleichzeitig erinnere er an die Verheißung der Wiederherstellung, die sich zuvörderst an Israel richte.
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Beobachtungen: V. 17 zieht aus dem vorausgehenden Zitat eine Schlussfolgerung und knüpft zugleich wieder an V. 14-15 an. Bei der Deutung des Verses ist die Doppeldeutigkeit des griechischen Begriffes „akoê“ zu bedenken, der sowohl das Gehörte, nämlich die vom Verkündiger verkündigte Botschaft, als auch das Hören meinen kann. In V. 17 ist mit Blick auf das Versende „akoê“ eher mit „Hören“ zu übersetzen. Die Aussage, dass der Glaube vom Hören, das Hören aber mittels des Wortes Christi kommt, entspricht genau der Reihenfolge gemäß V. 14: Der Glaube setzt das Hören voraus und das Hören den Verkündiger bzw. die verkündigte Botschaft.
Das „Wort“ ist sicherlich nicht im engen Sinn als einzelnes Wort zu deuten, sondern als eine verkündigte Botschaft. Der Genitiv „Christi“ meint hier entweder, dass die Botschaft von Christus stammt oder dass Christus der Inhalt der Botschaft ist.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Paulus lässt bezüglich des Fehlverhaltens keine Ausrede gelten. Die Ausrede könnte lauten: Die Juden haben das Evangelium nicht zu hören bekommen. Paulus widerspricht: Auch die Juden haben das Evangelium zu hören bekommen!
Paulus belegt seine Aussage mit einem nicht gekennzeichneten Zitat von Ps 18,5LXX (= 19,5). Dieser Vers spricht im ursprünglichen Zusammenhang von der Verkündigung der Ehre Gottes durch den gesamten Kosmos. Auch die Verbreitung des Evangeliums ist in gewisser Weise eine Verkündigung der Ehre Gottes, sodass es für Paulus nahe lag, diesen Vers zu zitieren.
Das Zitat sagt nichts über die tatsächliche Verbreitung des Evangeliums zur Zeit der Abfassung des Briefes an die Römer aus. Man kann also nicht daraus schließen, dass Länder im Randbereich der bisher bekannten Welt, wie Spanien, schon missioniert worden wären. Das Zitat bezieht sich nur auf „sie“, womit gemäß dem Zusammenhang (vgl. insbesondere V. 19) die Angehörigen des Volkes Israel gemeint sein dürften. Ausgesagt ist folglich einzig und allein, dass auch dem Volk Israel verkündigt wurde.
Weiterführende Literatur: F. Mußner 1986, 246-248 deutet das Zitat von Ps 18,5LXX in Röm 10,18 wie folgt: Die Missionserfahrung zeige die Erfüllung der prophetischen Ansage der Schrift. Die Schrift habe nach der Interpretation des Paulus die weltweite Mission in der messianischen Zeit schon vorausgesagt, und sie habe auch die Juden - wie etwa die Apostelgeschichte erzähle - schon erreicht.
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Beobachtungen: Aus der Tatsache, dass dem Volk Israel zwar das Evangelium Christi verkündigt worden ist, es jedoch großenteils nicht daran glaubt, folgt die Frage, ob es nicht erkannt hat. Das Erkennen hätte zum Glauben an das Verkündigte geführt.
Paulus kommt nun auf das Schicksal des Volkes zu sprechen, indem er auf ein Zeugnis verweist, das zuerst Mose gegeben hat. Da niemand genannt wird, der später das Zeugnis gegeben hat, kann man auch deuten: Schon Mose hat das Zeugnis gegeben.
Die Nennung Moses weist darauf hin, dass das Zitat aus den fünf Büchern Mose, der Tora, stammt. Und tatsächlich ist das Zitat Dtn 32,21LXX entnommen. Dabei wandelt Paulus den Vers so um, dass es direkt die Juden anspricht („euch“ statt „sie“).
Der Vers ist dem „Lied des Mose“ (Dtn 32,1-43) entnommen, das ein Gericht über das seinem Gott untreue Volk Israel, das Fremdgötter („Götzen“) verehrt, ankündigt. Diese Prophezeiung deutet Paulus auf die Endzeit, die er angebrochen sieht.
Obwohl Mose in V. 19 als der Sprechende erscheint, ist mit dem Personalpronomen „Ich“ des Zitats nicht er selbst gemeint, sondern der Gott Israels, JHWH. Gott selbst wird die Israeliten auf ein Nicht-Volk eifersüchtig machen. Paulus führt also die Geschehnisse seiner Zeit auf Gottes Handeln zurück.
Paulus erklärt nicht, was unter „Nicht-Volk“ zu verstehen ist. Zunächst könnte man denken, er würde dem Volk, an das er denkt, den Volkscharakter absprechen. Als Nicht-Volk wäre es dann kein fester Volksverband, sondern eine lose Ansammlung von Sippen oder Ähnliches. Gegen diese Deutung spricht jedoch die unmittelbar folgende Formulierung „unverständiges Volk“, die den Volkscharakter voraussetzt. „Unverständig“ bedeutet, dass das Volk nicht den Gott Israels verehrt. Dieses Volk hat folglich auch kein Interesse am Messias, der den Israeliten verheißen ist. Weil sich das Volk Israel in seinem Erwählungsbewusstsein als das Volk (des wahren) Gottes ansieht, sind aus dessen Sicht alle anderen Völker keine Völker (des wahren) Gottes. „Nicht-Volk“ wäre demnach als Volk, das nicht Volk (des wahren) Gottes ist, zu verstehen.
Um welches Volk es sich beim „Nicht-Volk“ gemäß dem Moselied handelt, ist unklar. In der Antike wurde es mit den Philistern, Samaritanern, Babyloniern oder einem nordafrikanischen Volk identifiziert.
Wenn das Volk Israel, das sich als erwählt sieht, auf ein „Nicht-Volk“ bzw. „unverständiges Volk“ eifersüchtig und zornig gemacht wird, dann werden die bisherigen Verhältnisse umgekehrt. Bisher hatten nämlich die nicht erwählten Völker allen Grund, auf das Volk Israel eifersüchtig und wütend zu sein.
Weiterführende Literatur: Chronologisch gesehen sei Röm 9-11 gemäß M. Quesnel 2003, 321-335 die letzte Passage, in der Paulus von Mose spricht. Nachdem er von ihm im Vorhergehenden ein grundsätzlich negatives Bild gezeichnet habe – verbunden mit dem von Satzungen und Geboten geprägten Gesetz und somit auch mit der Sünde -, berücksichtige er in Röm 9-11 vermehrt die Komplexität dieser herausragenden Persönlichkeit des Judentums. Wenn Mose schließlich wieder in seinen Status eines Propheten eingesetzt werde, wie es in Röm 10,19 der Fall zu sein scheine, dann sei es schließlich ganz Israel, Inhaber einer Tora vielgestaltiger Folgerungen, das gerettet wird.
Laut H. Lindner 2000, 63-73 sei in dem Schriftzitat Dtn 32,21 der entscheidende Grund dafür zu sehen, dass der Apostel von der israelkritischen Argumentation der Kapitel 9 und 10 fortschreiten kann, zu der positiven Darlegung, die das endliche Heil Israels in den Blick nehme.
Laut W. Reinbold 1995, 122-129 gebe Paulus auf die in V. 19 gestellte Frage nach dem Verstehen „Israels“ eine differenzierte Antwort: Die (nicht christusgläubigen) Juden hätten, wie Mose sage, nicht verstanden, die (christusgläubigen) Heiden aber, wie Jesaja sage, sehr wohl. Weil das Verstehen der im emphatischen Sinn als „Israel“ geltenden Heidenchristen seines Erachtens das Unverständnis der (Mehrheit der) Juden überwiege, leite der Heidenapostel die Frage in V. 19 mit „mê ouk“ („etwa nicht“) ein. Der Widerspruch der Mehrheit Israels sei nicht selbstverschuldet, sondern im Gegenteil durch die Macht Gottes hervorgerufen und somit – wenn man so will - „fremdverschuldet“.
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Beobachtungen: Der Gebrauch des Verbs „apotolmaô“ („sich erkühnen“, „wagen“) macht die Anstößigkeit der Umkehrung der Verhältnisse und speziell auch der Erwählung von Nichtisraeliten, wie sie aus dem folgenden Jesaja-Zitat (65,1LXX) hervorgeht, deutlich. Jesaja wagt es, etwas Anstößiges zu sagen.
Im Buch Jesaja gehört das Zitat zu einer Antwort des Gottes JHWH auf ein Gebet seines bedrängten Volkes. In dieser Antwort macht JHWH sein vergebliches Werben um die Rückkehr seines Volkes von der Verehrung von Fremdgöttern deutlich.
Das „Nicht-Volk“, das Paulus generell mit allen Nichtjuden identifiziert, erscheint im Hinblick auf den Gott Israels und den verheißenen Messias Jesus Christus, den Sohn des Gottes Israels, völlig passiv. Es sucht den Gott Israels bzw. Jesus Christus nicht und fragt auch nicht nach ihm. Gerade diese passiven Nichtjuden aber sind es, die aufgrund der Verkündigung des Evangeliums zum Glauben an den Gott Israels bzw. Jesus Christus gekommen sind. Sie haben ihn gefunden, ihnen ist er offenbar geworden.
Die in den Zitaten von Röm 10,19-20 dargelegte endzeitliche Umkehrung der Verhältnisse führt zu Röm 11 hin, wo das Schicksal des Volkes Israel am Ende der Tage ausführlich thematisiert wird.
Weiterführende Literatur: W. L. Schutter 1989, 624-633 befasst sich mit der Bedeutung des Verbs „apotolmaô“ („zu sagen wagen“). Zwei verschiedene Verständnisweisen seien zu nennen: Die eine sehe den Bewusstseinszustand des Propheten beschrieben, die andere verstehe das Verb als Hinweis darauf, welche Bedeutung Paulus der folgenden Aussage beimisst. W. L. Schutter überlegt, ob sich diese beiden Verständnisweisen nicht vielleicht ergänzen und geht dazu auf Philos Psychologie der prophetischen Inspiration ein. Ergebnis: Das Verb verweise tatsächlich wohl nicht nur darauf, dass der folgenden Aussage besondere Bedeutung zukommt, sondern auch darauf, dass der Prophet Jesaja durch eine ungewöhnliche Heimsuchung des Geistes zur Äußerung eines solchen Orakels bewegt wurde.
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Beobachtungen: Die Fortsetzung des Jesaja-Zitats (65,2LXX) betont, dass die Umkehr der Verhältnisse nicht die Schuld des Gottes Israels ist. Dieser hat nämlich ständig („den ganzen Tag“) seine Hände ausgebreitet (oder: ausgestreckt). Das Ausbreiten der Hände erfolgte gegenüber seinem Volk. Die Geste dürfte als Einladung an das abtrünnige Volk zu verstehen sein, zu seinem Gott zurückzukehren. Im Hinblick auf Jesus Christus heißt das: Gott hat darauf gewartet, dass das Volk Israel seinen Sohn Jesus Christus als verheißenen Messias anerkennt.
Das Volk Israel dagegen hat die Einladung abgelehnt. Es war ungehorsam und hat widersprochen. Aufgrund seines Unglaubens und Starrsinns glaubt es nicht an den verheißenen Messias.
Weiterführende Literatur:
Literaturübersicht
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Bates, Matthew W.; Beyond Stichwort: A Narrative Approach to Isa 52,7 in Romans 10,15 and 11Q Melchizedek (11Q 13), RB 116/3 (2009), 387-414
Dewey, Arthur J.; Acoustics of the Spirit: A Hearing of Romans 10, Proceedings EGL&MWBS 9 (1989), 212-230
Dewey, Arthur J.; A Re-Hearing of Romans 10:1-15, Semeia 65 (1994), 109-128 (= SBL.SPS 29 [1990], 273-282)
Gewalt, Dietfried; Die “fides ex auditu” und die Taubstummen. Zur Auslegungsgeschichte von Gal 3,2 und Röm 10,14-17, LingBib 58 (1986), 45-64
Gignac, Alain; La Bonne Nouvelle d‘Ésaïe au service de l’Évangile de Paul. Rom 10,14-17 comme relecture de Es 52,6-53,1, SR 28/3 (1999), 345-361
Hübner, Hans; Gottes Ich und Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9-11 (FRLANT 136), Göttingen 1984
Koch, Dietrich-Alex; Die Schrift als Zeuge des Evangeliums: Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus (BHTh 69), Tübingen 1986
Lindner, Helgo; Antwort und Trost aus der Schrift für einen Angefochtenen. Zwei Beobachtungen zu Röm 9-11, JETh 14 (2000), 63-73
Mußner, Franz; Die Psalmen im Gedankengang des Paulus zu Röm 9-11 (SBB 13), in: E. Haag, F.-L. Hossfeld [Hrsg.], Die Freude an der Weisung des Herrn. Beiträge zur Theologie der Psalmen, FS H. Groß, Stuttgart 1986, 243-263
Quesnel, Michel; La figure de Moïse en Romains 9-11, NTS 49/3 (2003), 321-335
Reinbold, Wolfgang; Israel und das Evangelium: Zur Exegese von Römer 10,19-21, ZNW 86/1-2 (1995), 122-129
Rese, Martin; Israels Unwissen und Ungehorsam und die Verkündigung des Glaubens durch Paulus in Römer 10, in: D.-A. Koch u. a. [Hrsg.], Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum: Beiträge zur Verkündigung Jesu, FS W. Marxsen, Gütersloh 1989, 252-266
Sandnes, Karl Olav; Paul – One of the Prophets? A Contribution to the Apostle’s Self- Understanding (WUNT II/43), Tübingen 1991
Schutter, Willam L.; Philo’s Psychology of Prophetic Inspiration and Romans 10:20, SBL.SPS 28, Atlanta 1989, 624-633