Röm 14,13-23
Übersetzung
Röm 14,13-23:13 Lasst uns also einander nicht mehr verurteilen; sondern richtet vielmehr euer Urteil darauf, dem Bruder nicht Anstoß oder Ärgernis zu geben. 14 Ich weiß und bin im Herrn Jesus davon überzeugt, dass nichts von sich aus unrein ist - außer für den, der etwas für unrein hält, für den ist es unrein. 15 Denn wenn dein Bruder wegen einer Speise betrübt wird, wandelst du nicht mehr der Liebe gemäß. Richte durch deine Speise nicht den zugrunde, für den Christus gestorben ist. 16 Es soll doch euer Gutes nicht verlästert werden! 17 Denn das Reich (des) Gottes besteht nicht in Essen und Trinken, sondern in Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist. 18 Wer nämlich darin (dem) Christus dient, ist (dem) Gott wohlgefällig und bei den Menschen angesehen. 19 So lasst uns denn nach dem trachten, was dem Frieden und (was) der gegenseitigen Erbauung [dient]. 20 Zerstöre nicht wegen einer Speise das Werk (des) Gottes! Es ist zwar alles rein, doch schlimm ist es für den Menschen, der unter Anstoß isst. 21 Es ist gut, kein Fleisch zu essen und auch keinen Wein zu trinken und überhaupt nichts, woran dein Bruder Anstoß nimmt. 22 [Den] Glauben, den du hast, habe ihn bei dir selbst vor (dem) Gott. Wohl dem, der sich nicht selbst verurteilt bei dem, was er für richtig hält. 23 Wer aber Skrupel hat, wenn er isst, ist [schon] verurteilt, weil [er] nicht aus Glauben heraus [isst]. Alles aber, was nicht aus Glauben heraus [getan wird], ist Sünde.
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Beobachtungen: V. 13 knüpft an die grundsätzliche Mahnung von 14,1-12 an die Glaubensstarken und -schwachen an, einander nicht zu verurteilen und gering zu achten, sondern einander anzunehmen. Bei der Annahme ist die Tischgemeinschaft bei Sättigungsmählern im Blick, wie sie im Zusammenhang mit dem rituellen Abendmahl vorkommen. Eine solche Tischgemeinschaft scheint nicht oder zumindest nicht immer geübt zu werden. Ziel ist es, nicht nur am gleichen Tisch zu sitzen, sondern auch zu tolerieren, dass der Glaubensbruder oder die Glaubensschwester Fleisch isst oder auch nur Gemüse. Eine solche Toleranz führt zu Mählern, bei denen die Teilnehmer verschiedene Speisen essen. Eine solche Verschiedenheit der Speisen verhindert aber konsequente Tischgemeinschaft, die die Einheit der Gemeinde am besten widerspiegeln würde. Somit stellt sich die Frage, welche Vorgehensweise bei der Herstellung konsequenter Tischgemeinschaft zu wählen ist. Sicher ist, dass sich entweder die Glaubensstarken, die alles und somit auch Fleisch essen, oder die Glaubensschwachen, die nur Gemüse essen, auf die jeweils andere Gruppe einstellen müssen. Für die Glaubensstarken würde eine solche Anpassung keinen Glaubenskonflikt mit sich bringen, weil sie beim Essen von Gemüse keine Skrupel verspüren. Sie könnten sich höchstens darüber ärgern, dass sie kein Fleisch essen können, wobei ein solcher Ärger nicht glaubensrelevant wäre. Eine solche Situation braucht Paulus folglich nicht weiter zu thematisieren. Glaubensrelevant ist dagegen die umgekehrte Situation, dass sich die Glaubensschwachen anpassen und mit den Glaubensstarken zusammen Fleisch essen. Daher thematisiert Paulus diese Anpassung in 14,13-23.
Paulus lehnt nicht grundsätzlich das Urteilen („krinô“) seitens der Gläubigen ab. Dieses Richten soll allerdings nicht im Hinblick auf Glaubensbrüder- oder schwestern erfolgen, sondern allein im Hinblick auf das eigene Verhalten. Über das Verhalten anderer Menschen ist allein Gott bzw. Jesus Christus Richter (vgl. 14,10-12). Im Hinblick auf die konkrete Fragestellung von 14,13-23 ermahnt Paulus die Adressaten dazu, das eigene Verhalten darauf hin zu prüfen, dass es dem „Bruder“ (oder: der „Schwester“) nicht Anstoß oder Ärgernis gibt.
Das Substantiv „adelphos“ ist streng genommen mit „Bruder“ zu übersetzen, wobei nicht ein leiblicher, sondern ein Glaubensbruder gemeint ist Da hier aber nicht nur Männer angesprochen sind, sondern auch Frauen, kann „adelphos“ auch mit „Schwester“ übersetzt werden. Die Aussage bezieht sich auf Glaubensbrüder und Glaubensschwestern gleichermaßen.
Wenn das Verhalten kein Anlass zu Ärgernis oder Anstoß sein soll, so ist daraus zu schließen, dass es Paulus um Rücksichtnahme auf Andersdenkende geht. Das Fordern von Rücksichtnahme prägt den ganzen Abschnitt 14,13-23.
Weiterführende Literatur: W. A. Meeks 1987, 290-300 legt dar, dass Ausleger häufig den Römerbrief in zwei Teile teilten, in einen theologischen/didaktischen und einen ethischen/paränetischen. W. A. Meeks hält eine solche Zweiteilung für irreführend. Die großen Themen der Kapitel 1-11 würden in den Kapiteln 12-15 entfaltet. Ohne die Erkenntnis, dass es Paulus auf die Verwirklichung der Theologie in den römischen Hausgemeinden ankommt, ließen sich die Funktion und die Bedeutung der theologischen Themen im großen Briefzusammenhang nicht erfassen.
C. Burini 1979, 205-220 befasst sich mit der Beziehung zwischen 1 Kor 8,13 und Röm 14,13, wobei sie auf S. 210-212 letzteren Vers auslegt.
A. Lindemann 1997, 29-50 befasst sich mit dem paulinischen Kirchenverständnis, wobei er sich auf S. 32-35 Texten widmet, in denen der Apostel das Problem innergemeindlicher Konflikte erörtert. In 14,1-15,13 gehe es um das Miteinander von Menschen, die in ganz wesentlichen Fragen des Glaubens und der Glaubenspraxis unterschiedlicher, ja sogar gegensätzlicher Meinung sind.
K. B. McCruden 2005, 229-244 untersucht, was sich aus den paulinischen Aussagen zu den „Starken“ und „Schwachen“ in 14,1-15,13 an Einblick in den Anlass des Römerbriefes und in die Theologie des Briefes als Gesamtheit gewinnen lässt.
E. R. Kalin 1998, 461-472 ist der Überzeugung, dass es im Kern des Römerbriefes um ethnische Konflikte gehe und dass Paulus, wenn er das Evangelium darlegt und auf die Schlussfolgerungen für das Leben in Christus zu sprechen kommt, beständig ethnische Unterscheidungen, insbesondere zwischen Jude und Heide sowie Jude und Grieche, im Kopf habe. Die ethnischen Gräben drohten zum Anlass für Stolz und Hochmut auf Kosten Anderer zu werden. Gottes gnädige Unparteilichkeit und Umarmung aller – Juden und Griechen - weise alle zur gleichen Umarmung. E. R. Kalin geht den ethnischen Konflikten nach und fragt nach Möglichkeiten der Überwindung der Gräben, auch innerhalb der christlichen Gemeinde. Die an Luther („Wie finde ich einen gnädigen Gott?“) angelehnte Leitfrage laute: „Wie finde ich eine gnädige Gemeinschaft?“ Ein ethnischer Konflikt werde im Streit um das Halten der jüdischen Speisegebote, evtl. auch der Festtage und insbesondere des Sabbats, deutlich. Dabei versuche Paulus mittels der Ermahnungen sowohl an die Glaubensschwachen als auch an die Glaubensstarken wieder die Einheit beider Gruppen herzustellen.
Die pluralistische Gesellschaft Singapurs hat Y.-H. Tan 2000, 559-581 bei der Beschäftigung mit 14,1-15,13 im Hinterkopf, wobei folgende Fragen im Mittelpunkt stehen: Kann man sich von der christlichen Gesellschaft unterscheiden, ohne von dieser verurteilt zu werden? Ist das Bewahren von Gemeinschaftsbeziehungen wichtiger als alles andere, als Prinzipien und Regeln? Die Beschäftigung mit 14,1-15,13 lege offen, dass Verurteilung durch die Gemeinschaft dazu führt, dass ein Mensch geächtet und an den Rand gedrängt wird, obwohl er zu der Gemeinschaft gehört. Es stelle sich die Frage, woher wir uns das Recht nehmen, ein Gemeindeglied an den Rand zu drängen, wo wir doch letztendlich alle vor Gott rechenschaftspflichtig seien.
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Beobachtungen: Wenn Paulus „weiß“, dann handelt es sich zunächst einmal um ein rein profanes Wissen. Spezifisch christlich wird das Wissen erst durch die Hinzufügung „und bin im Herrn Jesus davon überzeugt“. Das Wissen bzw. die Überzeugung geht also nicht auf Paulus selbst zurück, sondern auf den „Herrn“ Jesus, in dessen Machtbereich sich Paulus befindet. Dabei ist der „Herr“ Jesus nicht von dem Heilsgeschehen zu trennen, das mit ihm verbunden ist.
Das paulinische Verständnis von Reinheit und Unreinheit unterscheidet sich grundsätzlich von dem jüdischen. Für den Juden ist beispielsweise eine Speise grundsätzlich rein oder unrein, unabhängig von der subjektiven Einstellung der essenden Person. Paulus sieht das anders: Er leugnet nicht, dass es beispielsweise eine reine oder unreine Speise gibt. Die Reinheit oder Unreinheit ist für ihn jedoch kein objektiver Sachverhalt, der sich an der Speise selbst festmachen lässt, sondern allein Sache der rein subjektiven Bewertung. Hält jemand beispielsweise eine Speise für unrein, dann ist sie das auch, allerdings nur im Hinblick auf ihn ganz persönlich.
Das Adjektiv „koinos“ bedeutet eigentlich „gemeinsam“, „gemein“ oder „gewöhnlich“. Im hellenistischen Judentum (vgl. insbesondere Josephus) wird es aber auch im spezifischen Sinne „unrein“ verstanden.
Weiterführende Literatur: D. J. Bolton 2009, 617-629 vertritt die Ansicht, dass „koinos“ („gemein“, „unrein“) ein halachischer Begriff sei. Es gehe um die Frage, ob halachisch reines Fleisch gemieden werden soll, nur weil es beim Götzendienst verwendet wurde, bevor es auf dem Markt verkauft wurde. Diejenigen, die zum Essen des Fleisches bereit sind, stünden ebenso wie diejenigen, die die Vermeidung fordern, nicht außerhalb des Gesetzes. Die Konfliktlinie sei nicht ethischer Art, führe also nicht zwischen Heiden- und Judenchristen entlang, sondern sei halachischer Art. Die einen, die „Glaubensschwachen“ (vgl. Röm 14,1), legten also die Tora strikter aus als die anderen, die „Glaubensstarken“ (vgl. Röm 15,1).
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Beobachtungen: Aus V. 15 geht unzweifelhaft hervor, was sich zuvor nur aus dem Zusammenhang erschließen ließ: dass Paulus auf die Unreinheit im Zusammenhang mit Speise zu sprechen kommt - und außerdem auch im Zusammenhang mit den Meinungsverschiedenheiten um das Essen von bestimmten Speisen.
Fraglich ist, welche Betrübnis Paulus im Blick hat. Geht es um rein emotionale Betrübnis oder ist mit der Betrübnis auch existenzielle Gefährdung verbunden? In ersterem Fall wäre der Betrübte Zuschauer, in letzterem Fall Handelnder. Zuschauer wäre er in ersterem Fall insofern, als er zuschaut, wie sein Glaubensgenosse eine unreine Speise verzehrt. Solches Zuschauen würde ihn vermutlich deshalb emotional betrüben, weil er um das Heil seines Glaubensgenossen bangt. Sobald er jedoch selbst isst, bangt er nicht nur um das Heil seines Heilsgenossen, sondern auch um sein eigenes Heil. Dabei geht es jedoch nicht nur um emotionales Bangen, sondern um eine ganz reelle existenzielle Gefährdung, die ein Heilsverlust darstellt. Dass die Betrübnis eine solche existenzielle Gefährdung beinhaltet, lassen die folgenden Aussagen von V. 15 annehmen.
Der Wandel in der Liebe ist das entscheidende Kennzeichen christlichen Daseins (vgl. 1 Kor 13,13-14,1 u. a.). Wer seinen Glaubensgenossen emotional betrübt und darüber hinaus existenziell gefährdet, lebt nicht der Liebe gemäß und stellt sich damit außerhalb des Christentums und damit auch des Heilsbereichs Jesu Christi. Mit der Gefährdung des Glaubensgenossen ist folglich auch die eigene Gefährdung verbunden.
Für den Glaubensgenossen ist Jesus Christus gestorben. Das bedeutet, dass eigentlich der Gläubige hätte sterben müssen, und zwar wegen der eigenen Sünden. Nun ist aber Jesus Christus stellvertretend für ihn gestorben, jedoch nicht unter den Toten geblieben, sondern wieder von den Toten auferweckt worden. Hierin liegt auch das Heil des Gläubigen: Der Gläubige wird trotz seiner Sünden nur den leiblichen, nicht jedoch den existenziellen Tod erleiden. Das heißt, dass der Gläubige nach seinem leiblichen Tod nicht unter den Toten bleiben, sondern wie Jesus Christus auferstehen wird (vgl. 1 Kor 15,20-22).
Dass trotz dieses Heilsgeschehens der Gläubige durch einen rücksichtslosen Glaubensgenossen zugrundegerichtet, also ins Unheil gestürzt werden kann, bedeutet, dass das Heil nicht sicher ist. Besondere Umstände können dazu führen, dass ein Christ das ihm zugesagte Heil verliert. Einen solchen besonderen Umstand stellt ein bestimmter Umgang mit Speise dar, wie Paulus ihn in Röm 14,13-23 thematisiert.
Weiterführende Literatur: Zum Sühnetod Christi als Begründung der Mahnung und Maßstab des neuen Handelns (1 Kor 8,11; Röm 14,15) siehe M. Gaukesbrink 1999, 279-283.
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Beobachtungen: Fraglich ist, was „euer Gutes“ ist. Gut möglich ist, dass es sich auf die Speise oder etwas mit der Speise Zusammenhängendes bezieht. Nun kann eine Speise an sich nicht gut sein, weil gesagt ist (vgl. V. 14), dass sie nicht von sich aus unrein ist. Eine Speise ist nicht gleichsam im Sinne einer Eigenschaft rein oder unrein, gut oder schlecht, sondern sie ist nur ganz subjektiv beurteilt rein oder unrein, gut oder schlecht. So, wie jemand eine Speise bewertet, so wirkt sie auch auf ihn. „Euer Gutes“ könnte die subjektive Bewertung einer Speise als gut sein. Eine solch positive subjektive Bewertung heißt wiederum Paulus grundsätzlich gut, wie die Bezeichnung „glaubensstark“ zeigt. Wer keine Speise als unrein oder schlecht ansieht, zeigt damit, dass er sein Heil allein auf Jesus Christus setzt und nicht von Äußerlichkeiten wie dem Achtgeben auf die Reinheit von Speisen abhängig macht. Somit könnte „euer Gutes“ die Glaubensstärke meinen.
Von wem und inwiefern könnte die positive Bewertung einer Speise oder die Glaubensstärke verlästert werden? Diejenigen, die „euer Gutes“ verlästern, könnten Nichtchristen, Nichtgemeindeglieder oder auch Glaubensschwache sein. Nichtchristen könnten sich darüber mokieren, dass es bei den Christen wegen der Bewertung von Speisen, also reiner Äußerlichkeiten, dermaßen gravierende Auseinandersetzungen und Sorgen um das Heil gibt. Auch Christen außerhalb von Rom könnten sich über ein solches Gebaren lustig machen oder empören. Christen außerhalb von Rom könnten aber auch Partei für die Glaubensschwachen ergreifen und die Glaubensstarken angreifen, dass ihre Glaubensstärke das Heil der Glaubensschwachen gefährde. Die eigentlich gute Glaubensstärke würde dann als etwas Schlechtes erscheinen, was durchaus als Verlästern („blasphêmeô“) bezeichnet werden kann. Auch die glaubensschwachen Christen Roms könnten die Glaubensstärke als etwas Schlechtes ansehen und die Glaubensstarken verurteilen. Letzteres scheint schon der Fall zu sein, wie 14,3 nahe legt.
Es ist aber auch möglich, dass sich „euer Gutes“ auf das bezieht, was gefährdet wird, nämlich Gottes gnädige Sündenvergebung, das Heil. Doch wieso und von wem sollten die gefährdete Sündenvergebung, das gefährdete Heil verlästert werden? Sollte etwa gespottet oder kritisiert werden, dass die Sündenvergebung bzw. das Heil nicht sicher ist? Weil wahrscheinlicher ist, dass nicht das Gefährdete, sondern das Gefährdende verspottet oder kritisiert wird, dürfte der Bezug von „euer Gutes“ auf die Glaubensstärke wahrscheinlicher sein.
Weiterführende Literatur: R. A. J. Gagnon 1998, 675-689 befasst sich mit der Bedeutung von „euer Gutes“, das manche Ausleger auf die Freiheit der Glaubensstarken, alles zu essen bezögen, andere jedoch allgemeiner deuteten, und zwar als Gerechtigkeit, Heil, Liebe (Christi und/oder der Gläubigen), das Gottesreich, Verheißungen (an die Glaubensstarken), das Evangelium oder allgemein das moralisch Gute oder Wohlgefällige. R. A. J. Gagnon kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass „euer Gutes“ die Glaubensstärke und die damit verbundene Freiheit, alles zu essen, meine.
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Beobachtungen: Das Reich Gottes erscheint hier nicht als etwas Zukünftiges oder Jenseitiges, sondern als etwas Gegenwärtiges, als etwas eng mit der Taufe und dem Christenleben Verbundenes. Diese Gegenwärtigkeit schließt jedoch nicht aus, dass das Reich Gottes zugleich etwas Zukünftiges und/oder Jenseitiges sein kann. Es ist gut möglich, dass das Zukünftige und Jenseitige schon in der Gegenwart in das Leben der Christen hineinstrahlt.
Paulus macht zuerst deutlich, woraus das Reich Gottes nicht besteht, bevor er dessen Kennzeichen nennt. Wenn Paulus schreibt, dass es nicht aus Essen und Trinken besteht, so könnte man das auf den ersten Blick so verstehen, dass Essen und Trinken an sich als genussvolles Ereignis nicht das Reich Gottes ausmachen. Angemessener scheint aber eine Auslegung mit Blick auf 14,2-3 zu sein. Dort ist „essen“ als „alles essen“ zu verstehen. Demgemäß dürfte „trinken“ im Sinne von „alles trinken“ zu verstehen sein. Paulus dürfte also in 14,7 den Adressaten - genauer gesagt den Glaubensstarken unter den Adressaten - einimpfen, dass es keinen Grund gibt, auf Fleisch als Mahlzeit für alle zu bestehen. Ein Verzicht auf eine solche Speise unter Rücksichtnahme auf die Glaubensschwachen ist keine Gefährdung des Gottesreiches, sondern trägt zu diesem bei. Bestehen die Glaubensstarken nämlich auf dem Fleischverzehr und drängen das Fleisch den Glaubensschwachen auf, dann kommt es zu Streit und auch zu Sorge um das Heil, die Freude ausschließt. Wo aber Friede und Freude fehlen, da ist auch nicht das Reich Gottes.
Friede und Freude werden u. a. mit der Liebe auch in Gal 5,22-23 genannt, und zwar als „Frucht des Geistes“. Sie werden also vom heiligen Geist bewirkt. Dementsprechend nennt Paulus den heiligen Geist als Wirkmacht auch in Röm 14,17.
Hier nennt Paulus auch die „Gerechtigkeit“ („dikaiosynê“). Der Begriff enthält drei Aspekte: die soziale Gerechtigkeit, Gerechtigkeit im Sinne des rechten, gottgefälligen Tuns sowie Rechtfertigung beim endzeitlichen Weltgericht (vgl. Beobachtungen zu Röm 6,13). Deutet man den Begriff im Lichte der Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Bewertung des Fleisches bei den gemeinsamen Mahlzeiten in der Gemeinde, dann kann man ihn so verstehen, dass alle Menschen zu ihrem Recht kommen sollen. Das ist der Fall, wenn die Glaubensstarken und die Glaubensschwachen einander tolerieren. Will man bei dem Gemeinschaftsmahl die gleiche Speise essen, so müssen die Glaubensstarken auf den Fleischgenuss verzichten, um nicht die Glaubensschwachen zum Fleischgenuss zu zwingen und damit um das Heil zu bringen. Wenn die Glaubensstarken bei den Gemeinschaftsmählern auf Fleisch verzichten, dann ist dies recht und gottgefällig, weil die Glaubensschwachen zu ihrem Recht kommen und ihre Rechtfertigung beim endzeitlichen Weltgericht nicht gefährden. Ziel des Handelns ist, dass am Ende der Tage alle Gemeinschaftsmahl-Teilnehmer von Gott gerechtfertigt werden und das ewige Leben erlangen.
Weiterführende Literatur: R. Garrison 1997, 80-94 geht auf falsche Vorstellungen vom Königreich Gottes im frühen Christentum ein und kommt dabei u. a. auch auf 1 Kor 4,20; 1 Kor 6,9-10; 1 Kor 15,50 und Röm 14,17 zu sprechen.
J. P. Lewis 1998, 53-68, der auf den präsentischen Aspekt der Gottesreich-Vorstellung in V. 7 hinweist, befasst sich mit der Auslegungsgeschichte des Verses. Dass es präsentische und futurische Aspekte der Gottesreich-Vorstellung gibt, sei kein Diskussionspunkt. Fraglich sei jedoch, ob es ein Interimsreich zwischen dem präsentischen und dem futurischen Gottesreich gibt. Darauf gebe V. 7 keine Antwort und die Auslegungsgeschichte zeige, dass der Vers nicht mit einem solchen Interimsreich in Zusammenhang gebracht wurde.
P.-B. Smit 2007, 40-53 unterstreicht die besondere gesellschaftliche Bedeutung, die das förmliche Abendmahl („symposium/symposion“) in der Mittelmeerwelt im 1. Jh. n. Chr. gehabt habe und weist auch auf das häufige Vorkommen im NT (insbesondere Evangelien) hin. So sei die gesellschaftliche Ordnung mittels solcher Mähler nach außen hin dargestellt worden. Dabei habe die Sitzordnung ebenso eine Rolle gespielt wie die Verteilung der Portionen. Wichtig sei nicht nur gewesen, mit wem man aß, sondern auch, was man aß. Bezüglich des idealen formalen Abendmahls habe es jedoch n der Antike Diskussionen gegeben. Paulus vertrete die durchaus gängige Ansicht, dass es nicht so sehr darauf ankomme, was man bei dem Mahl isst, sondern dass die Gemeinschaft entscheidend sei. Wesentlich seien Gerechtigkeit, Friede und Freude, und zwar sowohl bei dem Mahl als auch in der von diesem abgebildeten Gesellschaft.
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Beobachtungen: Die Aspekte rechtes Handeln und Rechtfertigung durch Gott werden in V. 18 weitergeführt: Wer recht handelt, gefällt Gott und wird somit gerechtfertigt. Das rechte Handeln bezeichnet Paulus als „Christus dienen“. Christus ist derjenige, auf dem die Rechtfertigung gründet. Ohne Christi stellvertretendem Kreuzestod für die Sünden der Menschen könnten die Menschen nicht mit Sündenvergebung rechnen. Wenn handeln zur Rechtfertigung führt, dann handelt es sich folglich um Christusdienst.
Nun stellt sich die Frage, worauf sich „darin Christus dienen“ bezieht. Am nächsten liegt die Annahme, dass das Dienen in Gerechtigkeit, Friede und Freude gemeint ist. Allerdings würde die Dreizahl Bezugsworte nicht den Singular „en toutô“, sondern den Plural „en toutois“ erwarten lassen. Einen solchen Plural bieten zwar einige Textzeugen, doch dürfte es sich bei ihm um eine anpassende Korrektur handeln, die nicht den ursprünglichen Wortlaut wiedergibt. Weil der Singular vermutlich ursprünglich ist, ist nach einem einzelnen Bezugswort zu suchen. Nun kann man das Problem so lösen, dass man davon ausgeht, dass Paulus Gerechtigkeit, Friede und Freude hier als eine Einheit versteht und die drei Bezugsworte somit wie ein einziges zu verstehen sind. Man kann aber auch den „heiligen Geist“ als Bezugswort ansehen. Bei letzterer Lösung wäre ausgesagt, dass Gott wohlgefällig und bei den Menschen angesehen ist, wer Christus im heiligen Geist dient. Die Bedeutung des heiligen Geistes als Wirkmacht würde betont.
Es fällt auf, dass Paulus nicht nur dem Wohlgefallen bei Gott, sondern auch dem Ansehen bei Menschen Beachtung schenkt. Es ist gut möglich, dass hier der besondere Stellenwert, den das hohe Ansehen in der Gesellschaft des römischen Reiches hatte, zum Vorschein kommt. Es fällt allerdings auf, dass Paulus der Bewertung des Handelns durch die Menschen nur in Verbindung mit der Bewertung durch Gott Bedeutung schenkt. Das Streben nach Ansehen bei Menschen ist demnach positiv zu werten, allerdings nur dann, wenn es mit dem Streben nach Wohlgefallen bei Gott verbunden ist.
Weiterführende Literatur: M. Fatehi 2000, 241-245 betont die herausragende Rolle, die Paulus dem Wirken des (heiligen) Geistes im Leben des Christen beimesse. Es sei anzunehmen, dass sich in V. 17 „im heiligen Geist“ nicht nur auf die Freude, sondern zugleich auch auf die Gerechtigkeit und den Frieden bezieht. „Darin“ (V. 18) sei wohl kaum allein auf die Gerechtigkeit, den Frieden und die Freude zu beziehen, sondern auf den gesamten V. 17 einschließlich „im heiligen Geist“ oder auch nur auf „im heiligen Geist“.
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Beobachtungen: Fraglich ist, ob es sich bei V. 19 um eine feststellende Aussage oder um eine Aufforderung handelt, denn es ist fraglich, wie der ursprüngliche Text gelautet hat: Handelt es sich bei dem Indikativ „diôkomen“ („wir trachten nach...“) oder bei dem Kohortativ „diôkômen“ („lasst uns nach...trachten“) um den ursprünglichen Text? Ist der Indikativ ursprünglich, dann handelt es sich um eine feststellende Aussage, ansonsten liegt eine Aufforderung vor. Der Kohortativ entspricht dem ermahnenden Charakter des gesamten Abschnittes und passt somit besser in den Zusammenhang, was nahe legt, dass es sich bei dem Indikativ um einen Schreib- oder Hörfehler handelt. Ein solcher Schreib- oder Hörfehler ist angesichts der großen Ähnlichkeit der Vokale, die den Unterschied ausmachen, durchaus wahrscheinlich. Allerdings ist gerade bei derjenigen Lesart, die schlechter passt, die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie ursprünglich ist, weil sich eine Variante oftmals als Korrektur entpuppt. Das ist insbesondere der Fall, wenn die schwierigere Lesart wie in diesem Fall gut bezeugt ist.
Die Formulierung „gegenseitige Erbauung“ („tês oikodomês tês eis allêlous“) beinhaltet den Aspekt des Gemeindeaufbaus, denn Paulus bezeichnet die korinthische Gemeinde als „Bau“ („oikodomê“; vgl. 1 Kor 3,9; ähnlich auch Eph 2,20). Dabei hat man sich die einzelnen Gemeindeglieder als „lebendige Steine“ vorzustellen (vgl. 1 Petr 2,5). Gegenseitige Erbauung bewirkt, dass die Gemeinde als Bau stabil ist und weiter ausgebaut werden kann.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Ist 1 Kor 3,9 wird der Bau nicht als „Bau der Menschen“, sondern als „Bau Gottes“ bezeichnet. Auch wenn die Menschen verkündigt und getauft haben, so ist der Gemeindeaufbau doch letztendlich Werk Gottes. Wenn die Menschen durch ihr Verhalten das Gemeindeleben zerrütten, dann zerstören sie nicht ihr eigenes, sondern Gottes Werk.
Paulus macht nochmals deutlich, dass nichts von sich aus unrein ist. Von sich aus ist alles rein, weshalb es auch ohne schlechtes Gewissen gegessen werden kann (vgl. V. 14). Somit sieht Paulus die Glaubensstarken, die alles essen, auf der richtigen Seite. Dass Paulus aber dennoch nicht rät, bei gemeinsamen Mahlzeiten alles zu essen, hängt damit zusammen, dass es nicht dazu kommen darf, dass das Essen einer Speise Anstoß erregt. Anstoß erregen kann eine Speise nur bei Glaubensschwachen, denn nur diese essen aus Glaubensgründen nicht alles, enthalten sich von Fleisch. Fraglich ist jedoch, wer der Mensch, der unter Anstoß isst, ist. Es kann sich um den Glaubensstarken handeln, aber auch um den zum Fleischessen gezwungenen Glaubensschwachen. In ersterem Fall wäre die essende Person von derjenigen, die Anstoß nimmt, verschieden, in letzterem Fall wären die essende und die Anstoß nehmende Person identisch. Für den Glaubensschwachen hat das Essen unter Anstoß schlimme Folgen. Isst er nämlich etwas widerwillig, weil er es für unrein hält, dann hat die Speise eine Wirkung auf ihn persönlich, als sei sie tatsächlich unrein. Er wird durch die Speise zugrunde gerichtet (vgl. V. 15). Aber auch der Glaubensstarke, der Glaubensschwache gegen deren Willen zum Essen bestimmter Speisen nötigt, hat möglicherweise schlimme Folgen zu befürchten: Er wandelt nämlich nicht mehr der Liebe gemäß (vgl. V. 15) und lebt somit nicht mehr dem Christsein entsprechend. Folglich stellt er sich möglicherweise außerhalb des Heils und riskiert seine Verurteilung beim endzeitlichen Weltgericht. Die Fortsetzung V. 21 legt nahe, dass tatsächlich der Glaubensstarke die essende Person ist.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: V. 21 zählt nun auf, woran der Glaubensbruder - vermutlich ist die Glaubensschwester mitgemeint - Anstoß nehmen könnte. Ausdrücklich werden nur Fleisch und Wein genannt, doch können auch andere Speisen und Getränke in Frage kommen. Dass Fleisch hier mit unreinen Speisen in Verbindung gebracht wird, erstaunt, denn Fleisch ist nach jüdischer Vorstellung nicht grundsätzlich unrein, sondern es wird zwischen reinen und unreinen Tieren unterschieden (vgl. Lev 11). Dass Fleisch als unrein empfunden wird, kann an einer bestimmten Bibelauslegung, die Fleisch als nicht schöpfungsgemäße Speise ansieht, an den Schwierigkeiten, reines und ausgeblutetes Fleisch in einer heidnischen Umwelt zu bekommen, an dem verbreiteten Verkauf von heidnischem Götzenopferfleisch, gegen dessen Verzehr sich manche Christen sträubten, oder auch an einer bestimmten heidnischen Philosophie liegen (vgl. zu den Möglichkeiten ausführlich die Beobachtungen zu Röm 14,2).
Noch erstaunlicher ist die Nennung von Wein, denn Wein sieht die hebräische Bibel keineswegs als unreines Getränk an. Ganz im Gegenteil: Beim Passamahl wie auch bei anderen festlichen Mahlzeiten ist das Trinken von Wein vorgeschrieben und bei verschiedenen Opfern wird auch Wein dargebracht (vgl. Ex 29,40; Num 15,5; 28,14). Das Trinken von Wein ist nur unter bestimmten Umständen verboten: So dürfen die Gottgeweihten (Nasiräer; vgl. Num 6,3; Ri 13,4) ebenso keinen Wein trinken wie die Priester bei der Verrichtung ihres Dienstes (vgl. Lev 10,9; Ez 44,21). Die Rechabiter enthalten sich freiwillig des Weins (vgl. Jer 35,2-11), ebenso im NT Johannes der Täufer (vgl. Lk 1,15; 7,33). Des Öfteren erscheint der Weinverzicht in Zusammenhang mit dem Fleischverzicht (vgl. Dan 1,3-16; 10,3; außerhalb der Bibel: Add Est 14,17; Test Rub 1,10; Test Jud 15,4; Jos As 8,5; mAbod Zar 2,3; 5,2), meist als Kennzeichen der Trauer oder Buße. In diesen Fällen ist vermutlich der Weinverzicht als Parallele zum Fleischverzicht aus Angst vor dem Verzehr von Götzenopferfleisch zu sehen. Ebenso wie Fleisch wird nämlich Wein in der Umwelt Israels und der (römischen) Christen den heidnischen Göttern dargebracht (sog. Libationswein). Es besteht nun ebenso wie bei Fleisch die Gefahr, dass dargebrachter Wein auf dem Markt verkauft wird. Die sicherste Methode, den Genuss von solcherlei Wein zu vermeiden, ist in der heidnischen Umwelt der gänzliche Weinverzicht (vgl. Dan 1,3-16; vielleicht auch 10,3). Es ist aber auch möglich, dass der Nennung des Weines keine allzu große Bedeutung beizumessen ist. Vielleicht nennt Paulus den Wein nur, um neben dem als Speise genannten Fleisch - V. 16 entsprechend - auch ein Getränk anzuführen. Eine solche Nennung des Weines besagt nicht unbedingt, dass der Wein tatsächlich ebenso wie Fleisch gemieden wird. Zumindest lässt sich Röm 14 nur Streit um den Fleischverzehr, nicht jedoch Streit um das Trinken von Wein sicher entnehmen.
Weiterführende Literatur:
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Beobachtungen: Der Glaube lässt sich nicht verallgemeinern, sondern er ist Sache des als „Du“ bezeichneten Individuums. Folglich kann auch nicht das Verhalten aller Menschen an diesem Glauben ausgerichtet werden. Dem Glaubensstarken soll sein an sich guter Glaube nicht genommen werden, doch soll er ihn bei sich selbst vor Gott haben.
Es ist möglich, dass ein Mensch sich selbst bei dem, was er für richtig hält, verurteilt. Wie ist dieses Verurteilen zu verstehen? Handelt es sich um eine Verurteilung im Sinne einer Missbilligung der eigenen Glaubensüberzeugung? Von einer solchen ist in 14,13-23 ebenso wenig die Rede wie in 14,1-12. Es geht grundsätzlich nur um das Missbilligen oder Verurteilen der Glaubensüberzeugung des Glaubensgenossen. Folglich ist eine andere Deutung wohl angemessener: Der Glaubensstarke hält seinen Glauben für richtig und verallgemeinert ihn, mit der Folge, dass sich die Glaubensstarken an ihn anpassen müssen und die aufgedrängte Speise, wohl Fleisch, widerwillig essen. Damit verurteilt der Glaubensstarke sich selbst, aber wohl nicht in dem Sinne, dass er über sich selbst zu Gericht sitzt, sondern auf diese Weise, dass er bewirkt, dass Gott bzw. Jesus Christus ihn verurteilt. Eine solche Deutung passt gut zur Aufforderung, den eigenen Glauben für sich bei Gott zu haben. Wer dieser Aufforderung folgt, verurteilt sich nicht selbst und gehört damit zu den Seliggepriesenen.
Weiterführende Literatur: S. Bénétreau 2003, 273-287 legt dar, dass gewöhnlich V. 22a so gedeutet werde, dass Paulus den Adressaten die Empfehlung gebe, nicht jeder religiösen Überzeugung, die bei Glaubensgenossen zu Verwirrung führen könnte, öffentlich Ausdruck zu verleihen. Die Übersetzung sei demnach „ta conviction, garde-la pour toi devant Dieu“. S. Bénétreau hält diese Deutung für nicht wahrscheinlich, denn der Apostel fordere sicherlich nicht etwas, was er selbst nicht befolgt. Vorzuziehen sei die Übersetzung „garde-la, pour ce qui te concerne, devant Dieu“. Es werde also der Schwerpunkt auf das standhafte Bekenntnis gelegt, dabei jedoch nicht die Tür zum geschwisterlichen Dialog mit denen, die anders denken, verschlossen.
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Beobachtungen: Auch wer Skrupel hat, wenn er isst, missbilligt nicht seine eigene Glaubensüberzeugung. Er missbilligt vielmehr, dass er gegen seine eigene Glaubensüberzeugung handeln muss. Es dürfte sich also - V. 22 entsprechend - bei der Verurteilung nicht um eine Missbilligung des eigenen Tuns handeln, sondern vielmehr um eine Verurteilung durch Gott bzw. Jesus Christus, die durch das eigene Tun bewirkt wird. Dabei erfolgt die Verurteilung nicht erst in der Zukunft bei dem endzeitlichen Weltgericht, sondern sie ist gleichsam schon erfolgt.
Das Essen an sich führt genauso wenig zur Verurteilung wie die Glaubensschwäche an sich. Zur Verurteilung führt, wenn die falsche Beurteilung einer eigentlich immer reinen Mahlzeit als unrein mit Glaubensschwäche zusammentrifft. In einem solchen Fall wirkt die eigentlich reine Speise auf den Glaubensschwachen, als wäre sie tatsächlich unrein. Nun wäre das kein Problem, wenn der Glaube - gemeint ist hier wohl der Glaube an die sündenvergebende Kraft des stellvertretenden Kreuzestodes Christi - stark ausgeprägt wäre. Dann würde die Handlung auf der Grundlage des Glaubens erfolgen und die Sünde würde vergeben. Dass die Sünde verheerend wirken kann, liegt an der Glaubensschwäche, die die Sündenvergebung verhindert. Wer im Hinblick auf eine bestimmte Handlung an der Sündenvergebung zweifelt, der tritt aus dem Machtbereich Jesu Christi und damit aus dem Wirkungsbereich des Heilsgeschehens heraus und wird daher verurteilt statt gerechtfertigt.
Die Aussagen zum Essen mit Skrupeln, also nicht „aus Glauben heraus“, gelten grundsätzlich für alle Bereiche des christlichen Lebens: Alles, was nicht „aus Glauben heraus“ geschieht, ist Sünde. Dabei handelt es sich nicht um eine gewöhnliche Sünde, denn diese würde nicht zur Verurteilung führen, sondern vergeben werden; vielmehr handelt es sich um eine Todsünde. Glaube zeigt sich nicht in einer bestimmten Vorstellung oder im Reden oder Schreiben über sie, sondern im praktischen Vollzug. Nur die Bewährung im praktischen Vollzug führt letztendlich zur Rechtfertigung und nicht zur Verurteilung.
Weiterführende Literatur: Laut R. A. J. Gagnon 2000, 64-82 werde von vielen Auslegern angenommen, dass es sich bei den Glaubensschwachen teilweise oder ganz um jüdische Christen oder christliche Juden handele. Auf jeden Fall herrsche die einhellige Meinung, dass es sich um Christen handele, seien sie heidnischer oder jüdischer Herkunft. Anders M. D. Nanos 1996, 85-165, der die Meinung vertritt, dass es sich bei den Glaubensschwache um nichtchristliche Juden handele. Die „Schwäche“ beziehe sich nicht auf das eingeschränkte Gottvertrauen, das dazu führe, dass Christen dem Halten der Gebote des jüdischen Religionsgesetzes verhaftet bleiben. Vielmehr bezeichne die „Schwäche“ die Unfähigkeit eines Juden zu erkennen, dass die Verheißungen in Jesus Christus erfüllt sind. R. A. J. Gagnon setzt sich ausgiebig mit der Begründung von M. D. Nanos auseinander, weist jedoch dessen These zurück.
Literaturübersicht
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