Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Der Brief des Paulus an die Philipper

Phil 3,4b-6

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Phil 3,4b-6



Übersetzung


Phil 3,4b-6:4b Wenn jemand anderes meint, auf Fleisch vertrauen zu können – ich [könnte es noch] mehr: 5 beschnitten am achten Tag, vom Volk Israel, [vom] Stamm Benjamin, Hebräer von Hebräern; dem Gesetz nach ein Pharisäer; 6 dem Eifer nach ein Verfolger der Kirche; der Gerechtigkeit nach, die im Gesetz ist, untadelig geworden.



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V. 4b


Beobachtungen: In 3,2-4a hat Paulus die Adressaten davor gewarnt, sich von Irrlehrern, die ihre Heilshoffnung auf das „Fleisch“, also die beschnittene Vorhaut des Gliedes, setzen und nicht auf Jesus Christus, täuschen zu lassen. Paulus selbst gründet seine Hoffnung auf dem Christusglauben, könnte aber auch seine Heilshoffnung auf das „Fleisch“ setzen, was er jedoch nicht tut. Dabei hätte er noch mehr Grund dazu als die Irrlehrer, wie er in V. 5-6 darlegt.


Weiterführende Literatur: J. B. Polhill 1980, 359-372 legt Phil 3 den Themen- und Versgruppen folgend aus. Dabei setzt er literarische Einheitlichkeit des Philipperbriefes voraus.


Mit der Bedeutung und Funktion von 3,2-21 befasst sich D. A. DeSilva 1994, 27-54. Ergebnis: 3,2-21 bilde mit dem Rest des Philipperbriefes eine literarische Einheit. Es gehe Paulus in dem Abschnitt nicht in erster Linie um seine Widersacher, sondern darum, was man aus dem falschen Verständnis von Christi Tod und Erhöhung seitens der Widersacher lernen kann.


A. Standhartinger 2008, 417-435 hält das Fragment Phil 3,2-21; 4,8-9 für ein Weisheit enthaltendes Testament, das von Paulus in einer Situation höchster Lebensgefahr - möglicherweise der Situation von 2 Kor 1,8-9 - geschrieben und aus dem Gefängnis geschmuggelt worden sei. Es sei sein - noch früher - Abschiedsbrief an eine ihm nahe stehende Gemeinde, in dem er ihnen seine christologisch reflektierte Biographie präsentiere.


G. Klein 1989, 297-313 skizziert zunächst grob die Variationsbreite der Hypothesen bezüglich der Identität der philippischen Paulusgegner und bietet dann eine eigene Hypothese: Für die Identifizierung der philippischen Gegner des Paulus komme einzig Phil 3,2-11 in Frage. Es handele sich um Judaisten. Beim Versuch einer noch detaillierteren theologischen Standortbestimmung habe man sich vor einer zu starken Annäherung an den Herrenbruder und seinen Kreis wegen Röm 15,25ff. zu hüten. Näher liege ein Zusammenhang mit den Falschbrüdern von Gal 2,4.

Mit der Frage, wer die Konkurrenten des Apostels Paulus in Philippi sind, befasst sich H. W. Bateman 1998, 39-61. Gewöhnlich werde eine Zugehörigkeit der Konkurrenten zum Volk der Juden/Israeliten angenommen. Entweder halte man sie für Juden, die nach Philippi gekommen sind, um Heidenchristen zum Übertritt zum Judentum zu bewegen oder man halte sie für Judenchristen, die sich das Ziel gesetzt haben, Heidenchristen zur Befolgung jüdischer Rituale zu bewegen. H. W. Bateman stellt die jüdische Herkunft der Konkurrenten des Apostels in Frage und stellt folgende These auf: Weil Philippi eine mehrheitlich heidnische Stadt gewesen sei, hätten sich weitere Heiden der christlichen Gemeinde der Stadt angeschlossen (vgl. 4,2). Vielleicht hätten einige der Heiden in ihrem Eifer, den neuen Glauben verstehen zu wollen, das AT falsch verstanden und somit den Inhalt des Evangeliums mit zum Judentum gehörigen Ritualen vermengt (vgl. 1,15-17; 3,2). Das irrige Verständnis habe möglicherweise zu eifernden Aussagen geführt, die die Kirche zerrüttet haben (vgl. 1,27-28). Es habe sich um Heiden gehandelt, die sich wie Juden verhielten, ohne tatsächlich Juden zu sein (vgl. 3,2). Sie hätten wie christliche Missionare Christus verkündigt, seien aber keine Christen gewesen, sondern heidnische Judaisten.

Auch K. Grayston 1986, 170-172 hält die Widersacher des Apostels für Heiden, denn Paulus habe sicherlich nicht Juden(christen) als „Hunde“ beschimpft. Bestimmte Heiden hätten aus einem halb-magischen Glauben an rituelles Blutvergießen heraus die Beschneidung gefordert. 3,4-11 sei nicht als Verteidigung des Apostels gegen Vorwürfe zu verstehen, dass seine Fähigkeiten mangelhaft seien, sondern als von einem wahren Juden geäußerte Geringschätzung pseudo-jüdischer Phantasien seitens bestimmter heidnischer Propagandisten.


M. Tellbe 1994, 97-121 vertritt die Ansicht, dass der Abschnitt 3,1-11 auf dem Hintergrund der besonderen gesellschaftlichen und geschichtlichen Lage der philippischen Gemeinde, dem fortwährenden Konflikt zwischen der Kirche und der römischen Gesellschaft in Philippi zu verstehen sei. Dieser Konflikt sei mindestens teilweise durch das Aufeinandertreffen des christlichen Evangeliums und der politisch-religiösen Ideologie der Stadt Philippi verursacht worden. Bei den paulinischen Widersachern der V. 2-6 handele es sich wohl um Judenchristen, die auch von den Heidenchristen die Einhaltung des Beschneidungsgebots forderten. Diese Forderung sei für die philippischen Gemeindeglieder theologisch und gesellschaftlich anziehend gewesen – theologisch insofern, als die Beschneidung die Identität als wahre Glieder des Volkes Gottes sichern konnte, und gesellschaftlich insofern, als die Beschneidung der Linderung des Konfliktes dienlich schien und das Christentum durch die Nähe zum Judentum auf Anerkennung als „religio licita“ und Schutz seitens des römischen Staates hoffen konnte.


D. J. Doughty 1995, 102-122 vertritt die Ansicht, dass sich 3,2-21 weder auf eine konkrete geschichtliche Situation noch auf konkrete Widersacher des Apostels bezögen. Der Abschnitt habe deutero-paulinischen Charakter, die Lehren des Apostels erschienen verallgemeinert: Die Widersacher könnten alle Widersacher der Gemeinde sein. 3,2-21 spiegele das Selbstverständnis einer von der umgebenden Welt grundsätzlich unterschiedenen Gemeinde wider.


Auf dem Hintergrund des kulturanthropologischen Modells „Ehre und Scham/Schande“ liest P. Reinl 2003, 117-134 Phil 3,1b-11(21).


Mit der rhetorischen Strategie in 3,3-17 befasst sich F. W. Weidmann 1997, 245-257. Dabei setzt er sich u. a. mit der These von R. T. Fortna 1990, 220-234 auseinander, dass der Philipperbrief ich-zentrierter als alle anderen paulinischen Briefe sei, denn der Heidenapostel entfalte darin seine Theologie aus der Situation des eigenen drohenden Todes und des eigenen Standes vor Gott und der Welt heraus.


J. Thomas 1983, 340-349 sieht in Phil 3 die Suche des Menschen Paulus nach sich selbst, nach seiner wahren Menschlichkeit und Identität.


Nach einer kurzen Sichtung der wichtigsten Forschungsparadigmen der Ritualforschung stellt C. Strecker 2008, 460-472 die wegweisenden Theorien Victor Turners über rituelle Schwellenphasen und die darüber hinausreichenden Erscheinungsformen permanenter Liminalität vor. Dass sich Turners Einsichten und Modelle in der Paulusexegese fruchtbar anwenden lassen, wird exemplarisch an Phil 3 vorgeführt.


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V. 5


Beobachtungen: Paulus wurde, wie es in der Tora (= fünf Bücher Mose) vorgeschrieben ist (vgl. Gen 17,9-14; Lev 12,3) am achten Tage beschnitten. Als Paulus acht Tage alt war, wurde also die Vorhaut seines Gliedes entfernt. Anhand dieses körperlichen Merkmals war er von nun an als Angehöriger des Volkes Israel erkenntlich.


Paulus ist nicht zum Judentum übergetreten und sich auch nicht beschneiden lassen, weil er dies für heilsnotwendig hielt, sondern weil er vom Volk Israel abstammt. Die Abstammung und nicht die Religionszugehörigkeit betont der Begriff „genos“ („Volk“), der Proselyten wohl nicht einschließt. Als gebürtiger Israelit wurde Paulus zwangsläufig beschnitten. Das zeichnet ihn gegenüber den Irrlehrern aus.


Das Volk Israel führt sich auf die Erzväter zurück, namentlich auch auf Jakob, der nach seinem Gotteskampf am Jabbok „Israel“ genannt wird (vgl. Gen 32,29). Von Jakob stammen die zwölf Stämme Israels ab (vgl. Gen 35,22b-26; 48,1-49,28), die sich in ihrer Gesamtheit „Israel“ nennen. „Israel“ ist eine Selbstbezeichnung, die im Gegensatz zur häufig abwertend gebrauchten Fremdbezeichnung „Juden“ einen positiven Beiklang hat. Einer der Stämme, die von Jakob abstammen, ist Benjamin. Benjamin war der jüngste Sohn Jakobs, geboren von Rahel, und dementsprechend war auch sein Gebiet im Land Israel klein. Fraglich ist, welche Bedeutung der Nennung des Stammes Benjamin zukommt. Will Paulus nur betonen, dass er kein Proselyt ist, sondern Angehöriger eines ganz bestimmten israelitischen Stammes? Oder ist die Zugehörigkeit zum Stamm Benjamin eine besondere Auszeichnung? Dem Stamm Benjamin, dem auch der frühe Richter Ehud und der erste König Saul angehörten, kam in der Frühzeit der Geschichte Israels zwar eine bedeutende Rolle zu und in Dtn 33,12 wird Benjamin sogar als „Liebling JHWHs“ bezeichnet, doch lässt sich nicht klären, ob Paulus in Phil 3,5 mit dem Namen tatsächlich irgendeine Auszeichnung verbindet.


Die Bezeichnung „Hebräer“ bezieht sich vermutlich vor allem auf religiöse und kulturelle Eigenheiten. Dazu gehört auch die Sprache, das Hebräische, das zu Lebzeiten des Apostels allerdings im Gegensatz zum gesprochenen Aramäischen eher eine Schriftsprache ist. Im Gegensatz zu den „Hebräern“ stünden die hellenistischen Juden, die griechisch sprechen und nach griechischen Sitten leben. Die Apostelgeschichte weiß zu berichten, dass Paulus hebräisch zu sprechen vermag (vgl. 21,40; 22,2), allerdings sind seine Briefe an griechischsprachige Adressaten in griechischer Sprache abgefasst. Was die Kultur betrifft, ist zu beachten, dass Paulus in der kilikischen Stadt Tarsus (vgl. Apg 9,11; 21,39; 22,3; im Südosten der heutigen Türkei gelegen) und damit im hellenistisch geprägten Kulturraum geboren wurde. Es stellt sich also die Frage, ob ihm tatsächlich die „hebräische“ Kultur von Anfang an vertraut ist oder ob er sie nicht vielmehr erlernen musste. Als weitere Deutung der Bezeichnung „Hebräer“ kommt infrage, dass sie hier als eine insbesondere in der Diaspora gebrauchte Selbstbezeichnung der Juden/Israeliten zu verstehen ist.

Die Formulierung „Hebräer von Hebräern“ besagt vermutlich, dass auch Paulus‘ Eltern und vielleicht auch weitere Vorfahren „Hebräer“ sind bzw. waren. In seinen Adern fließt also kein nichtjüdisches Blut.


Die Formulierung „dem Gesetz nach ein Pharisäer“ verwundert. Die Pharisäer (= die „Abgesonderten“) sind im 1. Jh. n. Chr. eine von drei religiösen Hauptgruppen, zu denen auch die Sadduzäer und die Essener gehören. Doch was bedeutet „dem Gesetz nach“? Vermutlich ist die Formulierung im Sinne von „was das Gesetz betrifft“ zu deuten, womit ausgesagt wäre, dass Paulus in der Art und Weise von Pharisäern das jüdische Religionsgesetz befolgte. Ob er es weiterhin wie ein Pharisäer befolgt, bleibt offen, ist jedoch angesichts der Kehrtwende in seinem Leben eher unwahrscheinlich. Selbst wenn das Leben als Pharisäer der Vergangenheit angehört, so erscheint es hier dennoch nicht in einem schlechten Licht. Es gehört zu den Dingen, mit denen Paulus begründet, weshalb er mehr noch als die Irrlehrer auf das „Fleisch“ vertrauen könnte.


Weiterführende Literatur: J. D. G. Dunn 1999, 174-193 geht der Frage nach, inwiefern sich Paulus selbst als Jude versteht. Ergebnis: Paulus sei gebürtiger Jude, doch verstehe er sein Judesein als innerlich, nicht äußerlich. Er messe der Beschneidung und den Speisegeboten keine besondere Bedeutung bei. Auch betone er nicht die völkischen Aspekte des Judentums und den Gedanken der Abgrenzung des erwählten Volkes. Paulus sei Diasporajude. Er sei im historischen und religiösen Erbe seines Volkes verankert, habe sich jedoch den Erfordernissen infolge der göttlichen Offenbarung angepasst.


Zur theologischen Bildung des vorchristlichen Paulus, zum Selbstzeugnis des Paulus und konkret auch zur Bedeutung des Begriffs „Hebraios“ („Hebräer“) siehe M. Tiwald 2008, 144-183. Der Ausdruck „Hebraios“ dürfe in der Selbstbezeichnung des Paulus nicht einfach nur als eine synonyme Bezeichnung für sein Jude-Sein gedeutet werden, wie die eindeutige Klimax in Phil 3,5 verdeutliche. Dennoch sei es schwer, das Spezifikum der Bezeichnung „Hebraios“ zu erfassen. Am besten werde man im Ausdruck „Hebraios“ eine wie auch immer geartete äußere (geographische) Beziehung zum Land Palästina und eine innere Verbundenheit mit dem Judentum in Palästina erkennen. Kenntnisse der hebräischen/aramäischen Sprache ließen sich bei Paulus nicht nachweisen und seien im Terminus „Hebraios“ nicht unbedingt mitgemeint (was nicht ausschließe, dass diese Bedeutung sekundär mitschwingen könne, etwa als Konsequenz einer Abstammung aus Palästina). Paulus sei Jude gewesen und geblieben, zeit seines ganzen Lebens, auch als Christ.


O. Betz 1990, 103-113 geht der Frage nach, was Phil 3,5-6 zu unserer Kenntnis des frühen Pharisäismus und dessen Treue zur Tora beitragen kann. Ergebnis: Die Form der Aussage sei zwar vom Pathos einer hellenistisch-jüdischen Rhetorik geprägt, und auch der Inhalt von V. 5 zeige den Standort des Diasporajuden an, doch ließen sich für den pharisäischen Leistungsbericht V. 6 und auch für die Struktur des Ganzen die besten Parallelen im palästinischen Judentum vor dem Jahre 70 n. Chr. finden. Die rein israelitische Abstammung sei der Adel des Juden und die Grundlage des Heils gewesen. Zum Hebräertum des Paulus, das sich auf die Pflege der heimatlichen Sprache und Sitte beziehe, zeigten die Qumranschriften, wie groß die Bedeutung des Hebräischen gerade da war, wo man sich vom Volk absonderte und ein heiliges Leben im Dienst der Tora zu führen gewillt war. Die Gesetzeserfüllung sei zentrale Aufgabe des Pharisäers gewesen. „Durch das Gesetz“ habe man vollkommene Gerechtigkeit erworben. Für den pharisäischen Eiferer und Christenverfolger Paulus habe sicherlich das Beispiel des Pinehas und eine Stelle wie Ps 106,30f., in der die Tat des Pinehas gerühmt und als Anrechnung zur Gerechtigkeit gewertet wird, eine große Rolle gespielt.


F. E. Udoh 2000, 214-237 spürt dem Ursprung der außergewöhnlich negativen Einstellung des Paulus gegenüber dem jüdischen Religionsgesetz nach. Allgemein gesagt sei der Ursprung dieser Einstellung der grundsätzliche christliche Glaube, dass – für Juden gelte dies genauso wie für Heiden – Rettung nur durch den Eintritt in die messianische Bewegung durch den Glauben an Jesus Christus erlangt werden könne. Eine Besonderheit im Rahmen dieses Glaubens sei jedoch die grundsätzlich negative Einstellung des Apostels gegenüber dem Gesetz. So seien in Phil 3,2-11 drei Gegenüberstellungen auszumachen: Beschneidung – Christus, Gesetz – Glaube an Christus, jüdische Bundeszugehörigkeit – Glaube an Christus. Diese negative Einstellung sei auf dem historischen Hintergrund der Diskussion über die Regeln für die Einbeziehung der Heiden und – genauer gesagt – dem Beharren einiger Judaisten darauf, dass Heiden jüdische Bundesidentität annehmen müssten, zu verstehen. Drei historische Zeitpunkte hätten zu Höhepunkten des Konfliktes geführt: a) Paulus‘ zweiter Besuch in Jerusalem; b) Petrus‘ Besuch in Antiochia; c) die Krise in Galatien. Der eigentliche Ursprung der negativen Einstellung zum Gesetz sei jedoch in der Krise in Galatien zu suchen.


Zur Ethnie des Paulus siehe D. Duling 2008, 799-818. Die ethnische Identität des Paulus stehe am Anfang seiner Selbstidentität. Mit der Bekehrung zum Christentum sei es zu einem Wandel gekommen: Paulus habe geglaubt, dass er Angehöriger einer anderen Ethnie mit eigenen Grenzen, eigenen Werten und eigenen Symbolen geworden sei. Diese Ethnie werde jedoch nicht als im Geschlecht Israels verankert angesehen, im Stamm Benjamin, der hebräischen Sprache und Kultur, den Normen der Tora und dem Ritus der Beschneidung. Es handele sich um eine andere Form der Ethnie, nämlich um das wahre Geschlecht von Abraham, einen Leib des neuen Lebens Christi, eine inklusivere Sprache und Kultur, die Normen einer anderen Art der Erkenntnis, das Modell leidender Sklaverei und um den Ritus der Taufe. Dies sei eine neue Familie gewesen. Auch wenn die Grenzen weiterhin fließend gewesen seien – das Ziel sei nicht erreicht worden -, so seien sie doch scharf genug gewesen, um zu erkennen, wer sich in ihnen befand und wer außerhalb.


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V. 6


Beobachtungen: Die Formulierung „dem Eifer nach ein Verfolger der Kirche“ entspricht der Formulierung „dem Gesetz nach ein Pharisäer“. Gemeint sein dürfte also, dass Paulus im Hinblick auf seinen Eifer ein Verfolger der Kirche ist. Ob er weiterhin ein Verfolger der Kirche ist, geht zwar aus V. 6 nicht hervor, doch ist dies angesichts seiner zwischenzeitlichen Hinwendung zu Christus und seiner Missionstätigkeit ausgeschlossen. Dies lässt annehmen, dass Paulus auch kein Pharisäer mehr ist. Dass er die Kirche verfolgt hat, hängt nicht mit seinem Pharisäertum zusammen, sondern mit seinem Eifer. Weniger eifernde Pharisäer haben die Kirche wohl nicht verfolgt.

Wie die Verfolgung in der Praxis genau aussah, konkretisiert Paulus nicht. Somit lässt sich nur ganz allgemein sagen, dass Paulus auf irgendeine Weise versucht hat, ein weiteres Wachsen und eine weitere Stärkung der christlichen Gemeinden zu verhindern. Sein Ziel wird gewesen sein, die christlichen Gemeinden wieder zum Verschwinden zu bringen (vgl. Gal 1,13). Möglich ist, dass Paulus auch die Irrlehrer als Verfolger der Kirche ansieht und er sich durch den Hinweis auf seine eigene Verfolgungstätigkeit als ehemals noch größeren Verfolger der Kirche darstellen will.


Der Begriff „ekklêsia“ kann sowohl mit „Gemeinde“ als auch mit „Kirche“ übersetzt werden. „Kirche“ ist der Oberbegriff für die einzelnen Gemeinden, wobei sich die Frage stellt, inwieweit die einzelnen Gemeinden organisatorisch schon eine Einheit waren und sich als eine solche fühlten. Paulus selbst betont auf jeden Fall die Einheit der Christenheit (vgl. 1 Kor 12,12-26 u. a.). Wenn er von einzelnen Gemeinden spricht, präzisiert Paulus 1 Thess 2,14 entsprechend, wo - ebenfalls im Zusammenhang mit Verfolgung - von „Gemeinden (des) Gottes in Judäa“ die Rede ist.


Paulus war nicht von Anfang an untadelig, sondern er ist es geworden. Die Untadeligkeit setzte also das Lernen voraus, wobei hier jedoch die Betonung weniger auf dem Lernen selbst als auf dem Ergebnis des Lernens liegen dürfte. Paulus präzisiert, in welcher Hinsicht er untadelig geworden ist: „der Gerechtigkeit nach, die im Gesetz ist“. Im Gesetz ist also eine Gerechtigkeit, was vermutlich bedeutet, dass nach jüdischem Verständnis vor Gott gerechtfertigt ist, wer das in der Tora (= Weisung; fünf Bücher Mose) enthaltene Glaubensgesetz genau befolgt. Paulus hat die Satzungen und Gebote in einem solchen Maße gelernt und verinnerlicht, dass er schließlich die Befolgung bis zur Perfektion gebracht hat und insofern untadelig geworden ist. Das stellt Paulus ohne negativen Unterton sachlich fest. Aus der Warnung vor den Irrlehrern (3,2-4a) geht jedoch hervor, was in 3,4b-6 nur zwischen den Zeilen anklingt und in dem folgenden Abschnitt 3,7-11 ausgeführt wird: Bezüglich der wahren Gerechtigkeit, des Vertrauens in den Christusglauben, war Paulus mindestens in dem Maße zu tadeln, wie es die Irrlehrer sind.

Aus V. 6 ist zu schließen, dass Paulus davon ausgeht, dass das Gesetz tatsächlich in Gänze bis ins Detail befolgt werden kann. Dem widersprechen jedoch (scheinbar) Röm 3,19-20 und 7,7-25. Der (scheinbare) Widerspruch lässt sich aber möglicherweise mit dem unterschiedlichen Blickwinkel erklären, von dem aus Paulus schreibt: In Phil 3,6 geht es ihm darum darzulegen, dass er sein Heilsvertrauen voll und ganz auf das „Fleisch“ setzen könnte bzw. hätte setzen können. Deshalb betont er, dass man ihm im Hinblick auf Abstammung, Beschneidung und Gesetzesbefolgung nichts vorwerfen kann bzw. konnte. Für die Betonung der Untadeligkeit nimmt er die Sichtweise des Pharisäers ein. Um darzulegen, dass eine solche Untadeligkeit nicht heilsentscheidend ist, nimmt er im Folgenden aber wieder die Sichtweise des zum Christusgläubigen Gewordenen ein. Der Christusgläubige setzt seine Heilshoffnung auf den Christusglauben. Um die Berechtigung dieser Heilshoffnung möglichst gut zu begründen, wird (in Röm 3,19-20; 7,7-25) die Unmöglichkeit des Haltens aller Satzungen und Gebote als Problem in den Vordergrund gerückt.


Weiterführende Literatur: G. Baumbach 1999, 9-23 befasst sich mit der Wende des Paulus von einem pharisäischen zu einem christlichen „Standpunkt“, wie sie in Phil 3,3ff mit der Entgegensetzung von „Glaubensgerechtigkeit“ contra „Gesetzesgerechtigkeit“ umschrieben werde. Mit der Wende sei das Judentum für Paulus keine negative Größe geworden, sondern es erscheine in einem anderen Licht: Paulus verstehe nun den von Gott mit Abraham geschlossenen Bund nicht mehr als Gesetzesbund, sondern als Verheißungsbund, der auf den Glauben ziele. Die paulinische Antithese von „Gesetzesgerechtigkeit contra Glaubensgerechtigkeit“ habe eine gesetzeskritische, nicht aber eine verheißungskritische Funktion. Mit einem Antijudaismus habe sie absolut nichts zu tun.


E. P. Sanders 1986, 75-90 vermag in Phil 3,2-11 (ebenso wie in 2 Kor 11,24-26) keine anti-jüdischen Ressentiments zu entdecken. Das Gesetz werde nicht deshalb degradiert, weil es schlecht sei, oder deshalb, weil dessen Befolgung zur Gesetzlichkeit und zur Zurückweisung der Gnade führe, sondern nur deshalb, weil es den Menschen nicht zu einem Glied des Leibes Christi mache. Schmähungen richteten sich nicht gegen die Juden als Juden, sondern gegen die mannigfaltigen Widersacher des Apostels unter den Christen.



Literaturübersicht


Bateman, Herbert W.; Were the Opponents at Philippi Necessarily Jewish?, BS 155/617 (1998), 39-61

Baumbach, Günther; “Glaubensgerechtigkeit” contra “Gesetzesgerechtigkeit” – Die Auseinandersetzung des Paulus mit seiner pharisäischen Vergangenheit, in C. Kähler u. a. [Hrsg.], Gedenkt an das Wort, Leipzig 1999, 9-23

Betz, Otto; Paulus als Pharisäer nach dem Gesetz, in: O. Betz [Hrsg.], Aufsätze zur biblischen Theologie II (WUNT 52), Tübingen 1990, 103-113

DeSilva, David A.; No Confidence in the Flesh: The Meaning and Function of Philippians 3,2-21, TrinJ 15/1 (1994), 27-54

Doughty, Darrell J.; Citizens of Heaven: Philippians 3.2-21, NTS 41/1 (1995), 102-122

Duling, Dennis; „Whatever gain I had…” Ethnicity and Paul’s self-identification in Philippians 3:5-6, HTS 64/2 (2008), 799-818

Dunn, James D. G.; Who Did Paul Think He Was? A Study of Jewish Christian Identity, NTS 45/2 (1999), 174-193

Fortna, Robert T.; Philippians: Paul’s Most Egocentric Letter, in: R. T. Fortna, B. R. Gaventa [eds.], The Conversation Continues: Studies in Paul and John, FS J. L. Martyn, Nashville, Tennessee 1990, 220-234

Grayston, Kenneth; The opponents in Philippians 3, ET 97/6 (1986), 170-172

Klein, Günter; Antipaulinismus in Philippi. Eine Problemskizze, in: D. A. Koch [Hrsg.], Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum: Beiträge zur Verkündigung Jesu und zum Kerygma der Kirche, FS W. Marxsen, Gütersloh 1989, 297-313

Polhill, John B.; Twin Obstacles in the Christian Path. Philippians 3, RExp 77/3 (1980), 359- 372

Reinl, Peter; Plädoyer gegen die Schaffung neuer Ränder in der Gemeinde von Philippi. Phil 3,1b-11(21) und das kulturanthropologische Modell „Ehre und Scham/Schande“, in: M. Küchler, P. Reinl [Hrsg.], Randfiguren in der Mitte, FS H.-J. Venetz, Luzern 2003, 117-134

Sanders, Ed P.; Paul on the Law, His Opponents, and the Jewish People in Philippians 3 and 2 Corinthians 11, in: P. Richardson, D. Granskou [ed.], Anti-Judaism in Early Christianity. Vol. 1: Paul and the Gospels (Studies in Christianity and Judaism / Etudes sur le christianisme et le judaisme 2), Wareloo, Ontario 1986, 75-90

Standhartinger, Angela; “Join in imitating me” (Philippians 3.17): Towards an Interpretation of Philippians 3, NTS 54/3 (2008), 417-435

Strecker, Christian; Leben als liminale Existenz. Kulturanthropologische Betrachtungen zum frühchristlichen Existenzverständnis am Beispiel von Phil 3, EvTh 68/6 (2008), 460- 472

Tellbe, Mikael; The Sociological Factors behind Philippians 3,1-11 and the Conflict at Philippi, JSNT 55 (1994), 97-121

Thomas, Joseph; Un homme en quête de lui-même. Lecture de Philippiens 3, Chr 119 (1983), 340-349

Tiwald, Markus; Hebräer von Hebräern: Paulus auf dem Hintergrund frühjüdischer Argumentation und biblischer Interpretation (HBS 52), Freiburg i. Br. 2008

Udoh, Fabian E.; Paul’s Views on the Law: Questions about Origin (Gal 1:6-2:21; Phil 3:2- 11), NT 42/3 (2000), 214-237

Weidmann, Frederick W.; An (Un)Accomplished Model: Paul and the Rhetorical Strategy of Philippians 3:3-17, in: V. Wiles et al. [eds.], Putting Body and Soul together, FS R. Scroggs, Valley Forge 1997, 245-257


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