Kol 1,9-14
Übersetzung
Kol 1,9-1 4 : 9 Daher hören auch wir seit dem Tag, an dem wir [davon] erfahren haben, nicht auf, für euch zu beten und zu bitten, dass ihr mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistlichen Einsicht erfüllt werdet, 10 damit ihr, des Herrn würdig, [ihm] ganz zu Gefallen lebt, indem ihr in jedem guten Werk Frucht bringt und in der Erkenntnis (des) Gottes wachst 11 [und] mit aller Kraft gestärkt werdet gemäß der Macht seiner Herrlichkeit zu aller Standhaftigkeit und Geduld [und] mit Freuden 12 dem Vater dankt, der euch zum Erbteil der Heiligen im Licht befähigt hat. 13 Er hat uns aus der Macht der Finsternis errettet und in das Reich des Sohnes seiner Liebe versetzt. 14 In ihm haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden.
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Beobachtungen: Es wird nicht ausdrücklich gesagt, was der Verfasser des Kol erfahren hat. Es ist anzunehmen, dass es die in Kol 1,4-8 genannten Dinge sind.
"Wir hören nicht auf ... zu beten" kann so gedeutet werden, dass das Gebet dauerhaft ist. Dann wäre es nicht an den Gottesdienst gebunden, sondern könnte ununterbrochen im Geiste auch im Alltag geschehen. Geht man von Gebeten im Gottesdienst oder zu bestimmten Gebetszeiten aus, dann wären hier von Gottesdienst zu Gottesdienst und/oder Gebetszeit zu Gebetszeit wiederholt erfolgende Gebete gemeint. Gleiches gilt für die Bitten.
Es ist von "seinem Willen" die Rede, ohne dass gesagt wird, auf wen sich "sein" bezieht. Man könnte an Epaphras denken, von dem in V. 7-8 die Rede ist. Allerdings ist Epaphras ein Mensch und somit nicht für das Denken und Handeln der Christen maßgeblich. Als "Mitsklave", also Sklave wie Paulus und vielleicht auch Timotheus und andere Christen, ist er Untergebener und dient. Folglich ist er nicht in einer herrschenden Position mit Weisungsbefugnis. "Sein Wille" kann sich nur auf den Willen eines Herrn beziehen, wobei der Herr der Christen Gott bzw. Jesus Christus ist. Da Epaphras in V. 7 als "Diener (des) Christi" bezeichnet wird, ist Epaphras der Sklave und Jesus Christus dessen Herr. Das lässt im Hinblick auf V. 9 darauf schließen, dass "sein Wille" der Wille Jesu Christi ist.
"Geistlich" bezieht sich auf "Einsicht", kann sich darüber hinaus aber auch auf "Weisheit" beziehen. Die Übersetzung kann also entweder "in aller Weisheit und geistlichen Einsicht" oder "in aller geistlichen Weisheit und Einsicht" lauten.
Mit der "Weisheit" ist hier nicht menschliche Klugheit, auch nicht eine kluge Theorie oder geistreiche Philosophie gemeint. Die "Weisheit" ist ebenso wie die "Einsicht" geistlicher Art. Weitere Ausführungen zu den beiden Begriffen finden sich hier noch nicht, sondern erst später im Brief (zur "Weisheit" siehe 1,28; 2,3.23; 3,16; 4,5; zur "Einsicht" siehe 2,2). Ein nennenswerter Bedeutungsunterschied zwischen "Weisheit" und "Einsicht" ist nicht zu erkennen: Zur Weisheit gehört (geistliche) Einsicht und (geistliche) Einsicht ist zugleich Weisheit. Vermutlich drückt der Verfasser des Kol ein und dieselbe Sache mit zwei Worten aus (= Hendiadyoin).
Weiterführende Literatur: E. E. Ellis 2006, 415-428 dient eine Untersuchung des historischen Rahmens und der literarischen Form von Kol 1,12-20 als Grundlage für eine Darstellung derjenigen Aspekte, die seiner Meinung nach für die Predigt zu dieser Perikope besonders relevant sind.
Zum Widerhall von Jes 11,2.9 in Kol 1,9-10 siehe C. A. Beetham 2008, 61-79. Paulus habe den betreffenden Abschnitt des Jesajabuches sicherlich gekannt und gelesen. Zwischen Jes 11,2.9 und Kol 1,9-10 bestünden explizite Übereinstimmungen im Wortschatz und bezüglich der Vorstellung, dass Gott durch den Messias und den Geist die Welt mit Erkenntnis seiner selbst füllt. Paulus habe in Jesu Kommen die Erfüllung der prophetischen Verheißung Jes 11,2 gesehen und sei in seinen Ausführungen mit dem konkreten Bezug auf die Kolosser noch darüber hinausgegangen. Paulus habe Jes 11,1-9 - mit Ausnahme der Identifizierung Jesu von Nazareth mit dem verheißenen Messias - in Übereinstimmung mit der frühen (und späteren) jüdischen messianischen Interpretation gedeutet.
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Beobachtungen: Der Begriff "areskeia"" ("Wohlgefallen") findet sich im gesamten NT nur hier.
Gute Werke gehören gemäß dem Kol zum christlichen Leben dazu. Sie entspringen allerdings dem Glauben, der Erkenntnis des Willens des Herrn Jesus Christus. Sie sind - das Bild von einem Obstbaum aufgenommen - die Früchte der gläubigen Erkenntnis und nicht die Voraussetzung für das Erlangen eines himmlischen Lohnes.
Gemäß V. 6 trägt das Evangelium bei den Kolossern bereits Frucht. Insofern könnte man das Partizip "karpophorountes" ("Frucht bringend") statt "und ... Frucht bringt" auch mit "denn ihr bringt ... Frucht" übersetzen. Allerdings würde eine solche Übersetzung nicht berücksichtigen, dass es sich bei V. 9-11 um eine Fürbitte und nicht wie bei V. 3-8 um eine Danksagung handelt. Die Fürbitte erfolgt seit dem Beginn der Bekehrung der Kolosser. Das heißt, sie stellt das Bringen der Frucht nicht fest, sondern sie erbittet es. Dass die Kolosser tatsächlich Frucht bringen, ist auch auf die Fürbitte zurückzuführen. Und das Bringen der Frucht ist nicht abgeschlossen, sondern kann mit zunehmender Erfüllung mit Erkenntnis noch zunehmen. Dazu soll die Fürbitte beitragen.
Ebenso wenig wie eine reine Feststellung des Bringens bzw. Tragens von Frucht passt eine Aufforderung an die Kolosser, dass sie Frucht bringen sollen, zu einer Fürbitte. Die Übersetzung des Partizips "karpophorountes" mit "ihr sollt ... Frucht bringen" ist folglich zwar theoretisch möglich, aber hier unpassend. Die Fürbitte richtet sich nämlich nicht an die Kolosser, sondern an Gott (bzw. Jesus Christus). Die eigentliche Fürbitte lautet, "dass ihr mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistlichen Einsicht erfüllt werdet" (V. 9). Die Erkenntnis wird nicht von den Kolossern erbeten, sondern von Gott (bzw. Jesus Christus). Gott (bzw. Jesus Christus) ist derjenige, der die Erkenntnis gibt. Aus der Erkenntnis resultiert das Bringen bzw. Tragen von Frucht.
Wahrscheinlich handelt es sich bei dem Fruchtbringen durch gute Werke und dem Wachstum der Gotteserkenntnis um zwei Aspekte des gottgefälligen Lebens, auf die mit der Standhaftigkeit und Geduld (V. 11) und dem Dankgebet (V. 12) zwei weitere folgen. Diese insgesamt vier Aspekte konkretisieren, was mit dem gottgefälligen Leben gemeint ist. Diese Aspekte werden aber nicht nur zu rein informativem Zweck aufgezählt, sondern auch zum Zwecke der Ermahnung, entsprechend zu leben.
Gemäß Kol 1,3 ist Jesus Christus "unser Herr". Folglich dürfte auch in V. 10 davon auszugehen sein, dass sich der Titel "Herr" auf Jesus Christus bezieht. Bei der "Erkenntnis seines Willens" in V. 9 ist dementsprechend wohl der Wille Jesu Christi im Blick. In V. 10 ist nun aber von der "Erkenntnis (des) Gottes" statt von der "Erkenntnis (des) Jesu Christi" die Rede, obwohl eigentlich letztere zu erwarten wäre. Es stellt sich die Frage, ob die Erkenntnis des Willens Jesu Christi von der Erkenntnis (des) Gottes unterschieden ist, ob Jesus Christus einen anderen Willen als Gott hat, oder ob es in dem einen Fall um die Erkenntnis eines Willens (= Wille Jesu Christi) und im anderen um die Erkenntnis eines Wesens (= Gott) geht. Gemäß V. 3 ist Gott der Vater Jesu Christi. Ein Vater kann durchaus einen anderen Willen als sein Sohn haben. Allerdings ist für Paulus typisch, dass er kaum zwischen Jesus Christus und Gott unterscheidet und er auch beide als "Herrn" bezeichnen kann. Das spricht dagegen, zwischen dem Willen Jesu Christi und dem Willen Gottes zu unterscheiden. Eine Unterscheidung würde auch das Problem aufwerfen, wessen Willen sich die Christen unterordnen sollen. Auch eine deutliche Unterscheidung zwischen der Erkenntnis des Willens Jesu Christi und der Erkenntnis Gottes liegt nicht nahe. Der Wille ist nämlich ein Teil des Wesens. Wer Gott erkennt, erkennt somit auch dessen Willen. Und da Gott der Vater Jesu Christi ist, ist er wesensmäßig mit ihm verwandt. Und schließlich weist auch die Übereinstimmung des Willens Gottes und Jesu Christi auf ein mindestens ähnliches, wenn nicht sogar gleiches Wesen hin. Wer Gott erkennt, erkennt demnach auch Jesus Christus.
Wie auch immer: Erkenntnis ist nicht statisch. Von Erkenntnis werden Christen erfüllt und sie können und sollen darin wachsen.
Weiterführende Literatur: Zum vielfältigen Gebrauch der Partizipien im exordium 1,3-23 siehe L. Giuliano 2012, 153-172. Das lange Abschnitte umfassende Satzgefüge scheine wohl durchdacht zu sein und werde von den Partizipien, die den Gedankengang vorantrieben, zusammengehalten. Die wiederholte Verwendung von Partizip-Paaren in 1,6.9-10 solle den Aussagen größere Intensität, Klarheit und Wirkungskraft geben.
Mit dem christlichen Leben bei den Kolossern, wie es in Kol 1,3-11 dargestellt wird, befasst sich Z. Kiernikowski 1985, 63-79.191-228. Dieses christliche Leben, das als Werk Gottes erscheine, befinde sich teilweise schon in der Umsetzung, sei dabei aber auf die vollständige Erfüllung ausgerichtet.
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Beobachtungen: "Mit aller Kraft gestärkt" ist ein auffälliges Beispiel für den pleonastischen Stil des Verfassers des Kol: Es wird eine Vielzahl von Worten verwendet, die zwar verschieden, aber bedeutungsgleich oder bedeutungsähnlich sind. Somit ergibt sich kein Informationsgewinn, höchstens eine Verstärkung der Aussage. Im Sinne der Verstärkung ist wohl die - in V. 9-11 und auch sonst im Kol gehäufte - Verwendung von "pas" ("jeder/alle") zu verstehen.
Die Bedeutung der beiden Begriffe "hypomonê" und "makrothymia" ist unklar. Während "hypomonê" gewöhnlich "Ausdauer", "Beharrlichkeit" oder "Standhaftigkeit" meint, ist "makrothymia" gewöhnlich mit "Geduld" oder "Langmut" zu übersetzen. In Kol 1,11 weist nichts darauf hin, dass hier von diesen Bedeutungsspektren abzuweichen ist. Insofern ist anzunehmen, dass "hypomonê" hier die Standhaftigkeit im Glauben angesichts von Bedrängnis und Irrlehren meint, "makrothymia" dagegen die Geduld insbesondere angesichts des Fehlverhaltens von anderen Christen. Geduld im Sinne einer emotionalen Ruhe bewirkt, dass man nicht selbst in Streitereien verfällt, Glaubensgenossen verurteilt, hochmütig wird oder sich von sonstigem Fehlverhalten anstecken lässt.
Standhaftigkeit und Geduld erlangen die Christen in Kolossä nicht durch eigene Anstrengung, sondern durch göttliches Wirken: Sie werden gestärkt gemäß der Macht seiner Herrlichkeit. Gott hat also die notwendige Wirkmacht.
Die Präposition "kata" ("gemäß") kann verschiedene Bedeutungen haben: Sie kann eine Übereinstimmung ("in Übereinstimmung mit"), die Grundlage ("aufgrund") oder die Ursache ("wegen") von etwas ausdrücken. Die Stärkung kann also in Übereinstimmung mit der Macht seiner Herrlichkeit, aufgrund der Macht seiner Herrlichkeit oder wegen der Macht seiner Herrlichkeit erfolgen.
Die Stärkung erfolgt mit aller Kraft, wobei die Kraft Gottes gemeint sein dürfte. Die Kraft Gottes bewirkt eine Änderung im Dasein des Menschen. Ohne die Stärkung wären die Christen glaubensschwach. Weder könnten sie bei Verfolgungen seitens der Nichtchristen standhaft bleiben, noch würden sie Irrlehren widerstehen oder Streitereien und Schwierigkeiten innerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft überwinden.
Der Begriff "doxa" kann mit "Ehre", "Ruhm", "Glanz" oder "Herrlichkeit" übersetzt werden. Alle diese Übersetzungsmöglichkeiten geben Aspekte des Wesens und Wirkens Gottes wieder. Die Macht Gottes hängt also mit seiner Ehre, seinem Ruhm und seiner Glanz ausstrahlenden Herrlichkeit zusammen.
Wie schon in V. 9 und 10 wird auch in V. 11 die Präposition "en" ("in/durch/mit") verwendet. Die häufige Verwendung ist für den Kolosserbrief typisch.
"Mit Freuden" kann sich auf "Standhaftigkeit und Geduld" beziehen, aber auch auf "dankt".
Weiterführende Literatur: J. H. Roberts 2001, 187-209 geht der Frage nach, ob "meta charas" ("mit Freuden") mit dem Vorhergehenden oder mit dem Folgenden zu verbinden ist. Er geht den verschiedenen Begründungen für beide Möglichkeiten nach und untersucht den Gebrauch der Formulierung in der Septuaginta und im NT. Auf Grundlage dieser Betrachtungen kommt er zu dem Ergebnis, dass keine der beiden Möglichkeiten mit Bestimmtheit favorisiert werden könne. Eine Strukturanalyse des Abschnittes Kol 1,9-12 lasse jedoch eine Verbindung mit dem Vorhergehenden wahrscheinlicher erscheinen.
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Beobachtungen: Fraglich ist, inwiefern V. 12 bzw. der Abschnitt V. 12-14 mit V. 9-11 verbunden ist. Mit dem Dankgebet kommt ja ein neuer Aspekt in den Blick. Handelt es sich um eine Aufforderung zum Dankgebet? Eine solche wäre mit V. 15-20 verbunden, wo sich ein Christushymnus findet, sozusagen ein Mustergebet. Eine solche Deutung ist möglich, allerdings spricht die erneute Verwendung eines Partizips ("eucharistountes") gegen eine Trennung von V. 12 bzw. V. 12-14 von V. 9-11. Wie die in V. 10-11 vorhergehenden Partizipien drückt vermutlich auch dieses Partizip einen Aspekt des gottgefälligen Lebens aus. In V. 12 kommt demnach der vierte Aspekt zur Sprache: das Dankgebet.
Der Dank spielt im Kolosserbrief eine ganz zentrale Rolle, wie die Vielzahl Stellen (1,3.12; 2,7; 3,15-17; 4,2) zeigt, an denen von ihm die Rede ist.
Hier dürften - wie schon in Kol 1,4 (vgl. 1,2) - mit der Bezeichnung „Heilige“ Christen gemeint sein. Es liegt also nicht das spätere Verständnis von Heiligen als besonders vorbildlich lebenden oder wundertätigen Christen zugrunde. Als "Heilige" könnten auch himmlische Wesen wie Engel bezeichnet werden, die sich ja auch im göttlichen Licht befinden, jedoch geht es hier nicht um solche. Thema ist das gottgefällige Leben im Lichte von Erlösung, Sündenvergebung, Erkenntnis und Dankbarkeit.
Die „Heiligen“ erscheinen als eine Gemeinschaft, die ein Erbe bekommt. Jeder Christ bekommt einen Anteil an diesem Erbe. Kann schon der Begriff „klêros“ neben der Bedeutung "Erbe" auch die Bedeutung "Erbteil" haben, so wird in V. 12 die Bedeutung "Erbteil" betont, indem der Begriff "meros" ("Anteil") hinzugefügt ist. Ihr Erbteil können Christen jedoch nicht aus eigener Anstrengung erlangen, sondern sie müssen dazu befähigt werden. Die Befähigung erfolgt durch "den Vater", wobei Gott gemeint sein dürfte. Gott ist gemäß Kol 1,1 Vater der Christen und gemäß 1,3 Vater Jesu Christi. In V. 12 erscheint der Begriff "Vater" im Lichte des Beistandes und der Fürsorge. Die Adressaten des Kol sind bereits vom Vater zum Erbteil befähigt worden. Der Hintergrund dieser Befähigung ist in V. 3-11 geschildert worden und der Verfasser des Kol hat dementsprechend auch seinen Dank geäußert.
Die Erwähnung des Lichtes erfolgt nicht plötzlich, sondern vorbereitet: Es ist mit der Herrlichkeit Gottes (V. 11) verbunden. Das Hoffnungsgut, das für die Adressaten in den Himmeln bereitliegt (V. 5), befindet sich im Licht, in der Sphäre Gottes. Möglicherweise schwingt im Begriff "Licht" auch die "Erkenntnis" mit, für die es ja - im übertragenen Sinne - geöffneter und sehender Augen bedarf (vgl. Apg 26,18), die den Einfall des Lichtes zulassen.
Weiterführende Literatur: Zum linguistischen und konzeptionellen Hintergrund und zur Absicht von Kol 1,12-14 im Rahmen des gesamten Kol siehe G. S. Shogren 1988, 173-180. Die paulinische Polemik passe nicht gut zur korporativen Göttlichkeit von Qumran und noch weniger zum vermuteten kosmischen Wissen der Gnostiker. Wir sollten uns also davor hüten, 1,12-14 vorschnell als unpaulinisch abzutun und als essenisch anzusehen. Die Verse könnten am ehesten als paulinisch-christliches Argument gegen die Art des radikalen Individualismus und Elitismus angesehen werden, die der visionäre Mystizismus natürlicherweise erzeuge.
Mit der Heilslehre im Kol befasst sich H. W. House 1994, 325-338. Der Artikel gliedert sich in folgende Abschnitte: Das Erbe der Gläubigen; Christi Erlösung seines Volkes; Versöhnung; Beharrlichkeit.
R. Hoppe 1994 versucht anhand eingehender traditions- und religionsgeschichtlicher Analysen aufzuweisen, dass gerade in der Zentralfrage des Paulus, nämlich in der Deutung des Kreuzes Jesu, der Autor des Kol gegenüber den Briefen des Paulus neue Wege geht, die es nicht mehr erlauben, von Kontinuität in der Paulus-Tradition zu sprechen. Die Ausrichtung auf den in der Zukunft sich durchsetzenden Heilsplan Gottes im paulinischen Sinne sei durch den ontologischen des ekklesialen Idealismus aufgehoben. Die Deutung des Kreuzes als Triumph sei in Kol 1,12-23 ebenso wie in 2,11-15 maßgebliche Grundlage für den präsentischen ekklesialen Heilsgedanken. Diese Kreuzesinterpretation kenne der Verfasser schon aus seiner Tradition, habe sie aber für die Situation seiner Adressatengemeinde weiter ausgebaut und zugespitzt. Hier lägen dann die wesentlichen Grundlagen für ein theologisches Konzept, das vorpaulinische Denktraditionen aufnehme und in nachpaulinischer Zeit neu zur Geltung bringe.
Der Begriff "hagioi" ("heilige/Heilige") werde gemäß P. Benoit 1982, 83-101 in Kol 1,12 gewöhnlich so verstanden, dass es sich um Christen handele. Im AT für das Volk Gottes verwendet, sei das Adjektiv "hagios" von der Kirche übernommen und auf ihre Angehörigen übertragen worden. In 1,12 verbinde Paulus den Begriff mit dem Licht, das durch das Evangelium gegeben werde. Die Vorstellung des Daseins der Christen "im Licht" lasse nicht nur an eine Erfahrung in der gegenwärtigen Welt, sondern auch an ein Leben in der himmlischen Herrlichkeit denken, das zu der Vollendung gehöre. Eine alternative Erklärung des Begriffs in 1,12 sei, dass er "Engel" bedeutet. Auch dieser Begriff habe einen atl. Hintergrund. Im NT sei allerdings der Gebrauch von "hagioi" als Substantiv mit der Bedeutung "Engel" selten, obgleich der Begriff manchmal als Adjektiv auf sie bezogen werde. In der paulinischen Literatur beziehe sich "hagioi" wahrscheinlich in 1 Thess 3,13; 2 Thess 1,10 und Eph 1,18 auf Engel, obwohl die Bedeutung in allen drei Fällen nicht über alle Zweifel erhoben sei.
M. M. Sokupa 2008, 145-158 befasst sich mit heiligen Personen und Heiligkeit im Kolosserbrief. Der häufige Gebrauch der adjektivischen Form des Wortes "hagios" ("heilig"; "Heiliger") in Kol 1 sei bedeutsam für die Deutung des Kol. Ihm komme im Zusammenhang des Themas "in Christus" hinsichtlich des nächsten Kapitels eine besondere Bedeutung zu. Dort werde vor Philosophen, die aufgrund ihres verzerrten Christusbildes eine abweichende Vorstellung von Heiligkeit hätten, gewarnt.
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Beobachtungen: Die Finsternis ist die Gott ferne Welt und damit der Sphäre Gottes entgegengesetzt. Es ist die Welt, der es an Erlösung und Erkenntnis mangelt. Die Finsternis ist nicht einfach nur ein Zustand, sondern ihr ist Macht (exousia) eigen. Allerdings ist diese Macht sehr beschränkt: Sobald Gottes heilsames Wirken beginnt, hat die Finsternis ihm nichts entgegenzusetzen. So ist auch von keiner Verteidigung seitens der Finsternis, von keinem Kampf um den Menschen die Rede.
Die Christen - mindestens Paulus, Timotheus, Epaphras und die Adressaten des Briefes - wurden nicht in das Gottesreich versetzt, sondern in das "Reich des Sohnes seiner Liebe". Das ist wohl damit zu erklären, dass die Erlösung / der Loskauf und die Vergebung der Sünden in Jesus Christus konkrete Gestalt angenommen haben. Es ist aber nicht davon auszugehen, dass es sich um zwei verschiedene Reiche handelt. Vielmehr dürfte es sich bei dem "Reich des Sohnes seiner Liebe" um einen ganz bestimmten Aspekt des Gottesreiches handeln, nämlich um den Aspekt der Erlösung und der Sündenvergebung.
Der Begriff "Reich" ("basileia") lässt an einen Herrscher denken, der im "Reich des Sohnes seiner Liebe" Jesus Christus wäre. Im AT gibt es Texte, die von einem König als "Gottes Sohn" sprechen: So erscheint in den Psalmen (2,7; 89,27-37) der König (bei der Thronbesteigung) als Sohn Gottes, des Vaters. Und auch in 2 Sam 7, der Thronverheißung an David, finden sich die Begriffe "Königsherrschaft/-reich", "Vater", "Sohn" und "lieben". So mag in Kol 1,13 die Vorstellung von Jesus Christus als messianischem König und legitimem Spross Davids anklingen.
Die Formulierung "Reich des Sohnes seiner Liebe" stellt eine für den Kolosserbrief charakteristische Häufung von Genitivverbindungen dar. Eine solche findet sich auch in Kol 1,5.27; 2,2.12.
Ist statt der Übersetzung "Reich des Sohnes seiner Liebe" auch die Übersetzung "Reich seines geliebten Sohnes" möglich? Der Bedeutungsunterschied ist unerheblich und man kann davon ausgehen, dass die Formulierung "Reich des Sohnes seiner Liebe" eine aus hebräischem Sprachgebrauch ins Griechische übernommene Wendung ist (Hebraismus). Andererseits stellt die wörtliche Übersetzung "Reich des Sohnes seiner Liebe" deutlicher das zentrale Wort "Liebe" heraus. Die Liebe ist für das Verhältnis zwischen Gott Vater und seinem Sohn Jesus Christus prägend, ebenso wie das Verhältnis der Kolosser zu ihren Glaubensgenossen von Liebe geprägt ist und sein soll (Kol 1,4.8). Und schließlich ist auch möglich, dass "seiner Liebe" den Ursprung angibt. Dann hätte Jesus Christus, der Sohn, in der Liebe Gottes, seines Vaters, seinen Ursprung.
Weiterführende Literatur: J. H. Roberts 1997, 476-497 arbeitet heraus, dass es sich bei Kol 1,13-20 um eine literarische Einheit, um eine bekennende Aussage handele. Der Glaube der Gemeinde werde in der vollkommen ausreichenden Rettung durch Gott in Christus gegründet. Von dieser Grundlage her würden die Warnungen vor Irrlehren eröffnet.
Mit dem Widerhall der Exoduserzählung in Kol 1,12-14 befasst sich C. A. Beetham 2008 auf S. 81-95 und mit dem Widerhall von 2 Sam 7 in Kol 1,13 auf S. 97-112. Paulus sei die Exoduserzählung ebenso bekannt gewesen wie 2 Sam 7 (speziell V. 14, den er in 2 Kor 6,18 zitiere; vgl. Röm 1,3). Sowohl hinsichtlich der Exoduserzählung als auch hinsichtlich 2 Sam 7 gebe es in Kol 1,12-14 bzw. Kol 1,13 Übereinstimmungen hinsichtlich des Wortschatzes. Paulus habe im Auszug aus Ägypten ein Paradigma im Hinblick auf die Darstellung der noch größeren, von Gott durch Christus bewirkten Befreiung der Kolosser aus der Sklaverei der Sünde gesehen. Mit Christus erfüllten sich sowohl die Verheißungen der Exoduserzählung als auch die Verheißungen von 2 Sam 7.
Zum Christushymnus als Argumentationsgrundlage des gesamten Kol siehe F. P. Viljoen 2002, 67-89. Dem Hymnus 1,15-20 gehe die Bekenntnisformel 1,13-14 voraus. Beziehe sich das Bekenntnis stets auf den erhöhten und lebendigen Herrn in seiner gegenwärtigen Stellung und Funktion, rede die Glaubensformel primär in der Vergangenheit: Sie blicke zurück auf das was geschehen ist. 1,13-14 handele davon, was Gott Vater durch seinen Sohn Jesus Christus für Heil bewirkt hat.
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Beobachtungen: "In ihm / Durch ihn" ("en hô") kann man auf Gott Vater beziehen, der der Handelnde ist, aber auch auf den Sohn seiner Liebe. Weil der Sohn seiner Liebe, Jesus Christus, unmittelbar zuvor genannt wurde und das Instrument des Wirkens ist, das zu Erlösung und Sündenvergebung führt, ist ein Bezug auf ihn naheliegender. Tatsächlich setzt der Anfang von V. 15 einen Bezug auf Jesus Christus voraus: "Er ist Abbild des unsichtbaren Gottes...". Jesus Christus ist aber nicht nur das Instrument des Wirkens, sondern auch der Machtbereich, in dem das Wirken geschieht. Insofern kann "en hô" an dieser Stelle auch mit "in ihm" übersetzt werden.
Die Sündenvergebung ist mit einem konkreten Ereignis verbunden, der „apolytrôsis“. Dieser Begriff bezeichnet in weltlichen Texten den Loskauf aus der Gefangenschaft. Einen speziellen Fall des Loskaufs kennt das antike israelitische Familienrecht: Wenn ein Israelit sich aufgrund der nicht mehr rückzahlbaren Schulden an einen Fremden selbst verkauft hat, soll ihn sein nächster Verwandter mit dem eigenen Vermögen loskaufen (vgl. insbesondere Lev 25,47-55). Im religiösen Sinn bedeutet der Begriff „Erlösung“, wobei diese nicht unbedingt in Zusammenhang mit einem „Lösegeld“ zu sehen ist. Allerdings kann man die Hingabe des Lebens Jesu Christi durchaus als ein „Lösegeld“ verstehen, das die Menschen aus der Macht der Sünde befreit. Aufgrund dieser Befreiung sind die Menschen nicht mehr dem Zorn Gottes und dem ewigen Tod verfallen. Deutet man den Loskauf auf dem Hintergrund des israelitischen Familienrechts, so erscheint Gott bzw. Jesus Christus als nächster Verwandter.
Weiterführende Literatur: Laut T. J. Sappington 1991, 150-223 sei ein wesentlicher Aspekt der Antwort des Paulus auf die kolossische Irrlehre, dass er das erlösende Heilsgeschehen, das den Christen "in Christus" zukomme, betont. Dabei schreibe er auf dem Hintergrund der endzeitlichen Gerichtsszene, wie sie in mehreren jüdischen Apokalypsen geschildert werde. Verurteilung von Gläubigen aufgrund der Satzungen und Gebote der Irrlehrer sei unwirksam, weil der Grund der Anklage beim Jüngsten Gericht beseitigt worden ist. Folglich bräuchten sich die Gläubigen nicht vor den anklagenden spirituellen Mächten zu fürchten. Ihre zukünftige Erfahrung der Segnungen des Himmels werde allein dadurch gesichert, dass sie "in Christus" sind. So gründe die Polemik 2,6-13 auf der festen soteriologischen Grundlage, wie sie in 2,9-15 ausgearbeitet wurde - eine soteriologische Grundlage, wie sie sich kurz in 1,12-14 finde und dann in 2,13-15 detaillierter dargelegt werde. Und diese Polemik antworte - bei Verwendung der Bilderwelt jüdischer Apokalyptik - auf Begriffe und Gedanken, wie sie bei den kolossischen Irrlehrern gebräuchlich gewesen seien.
T. E. Pollard 1981, 572-575 stellt zunächst fest, dass der Christushymnus Kol 1,15-20 in einen Rahmen eingefügt sei, der von der Tatsache der Erlösung ausgehe. Dann nimmt er die These auf, dass es sich bei 1,15-20 um eine ausgefeilte Auslegung von Gen 1,1 (Bereschit = im Anfang) im rabbinischen Stil handele. Der "Anfang" werde gemäß dieser mit der Weisheit gleichgesetzt, wie sie in Spr 8,22 erscheine, und Christus werde sowohl als "Anfang" als auch als Weisheit gedeutet. T. E. Pollard spürt den verschiedenen Gedanken in Kol 1,12-20 nach und kommt zu dem Ergebnis, dass in Kol Christus an die Stelle der Weisheit (und der mit dieser seitens des Rabbiners Raschi gleichgesetzten Tora), des "Bildes Gottes" und Israels trete. Christus sei als neuer Adam der Beginn von Gottes neuer Menschheit und der Erstgeborene des neuen Israel. Diese neue Menschheit, dieses neue Israel sei die Kirche, die den Leib des Hauptes, Christi, darstelle.
Von den in seinem Aufsatz analysierten Abschnitten Kol 1,12-14.21-23; 2,8-15; 3,1-4.24-25 ergebe sich laut T. Witulski 2005, 211-242 im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Gegenwart und Zukunft innerhalb der eschatologischen Konzeption des Kol Folgendes: Der Verfasser des Kol hebe den von seinem Lehrer Paulus in dessen dialektischer Konzeption von Eschatologie propagierten eschatologischen Vorbehalt hinsichtlich der endgültigen Verwirklichung des Heils grundsätzlich auf, um auf dieser Basis dann aber einen neuen, zeitlich-ethischen Vorbehalt zu setzen: Die Christen in Kolossä würden zunächst als bereits in der Gegenwart in und mit Christus Auferweckte beschrieben. Ihre Auferweckung und, damit verbunden, das eschatologische Heilsgut ihres Lebens seien allerdings in der Gegenwart noch in Gott verborgen und ihrer Verfügungsgewalt noch entzogen. Sichtbar auferweckt, sichtbar des Lebens teilhaftig würden sie erst mit der Wiederkunft Christi. Bis zu diesem Zeitpunkt seien sie aufgefordert, ihren Heilsstand zu bewahren und mit ihrem Handeln dem ihnen zunächst nur durch den Glauben / durch die Treue zugeeigneten Leben gerecht zu werden.
Literaturübersicht
[ Hier geht es zur Übersicht der Zeitschriftenabkürzungen ]
Beetham, Christopher A.; Echoes of Scripture in the Letter of Paul to the Colossians (BIS 96), Leiden 2008
Benoit, Pierre; Hagioi en Colossiens 1.12: hommes ou anges?, in: M. D. Hooker, S. G. Wilson, Paul and Paulinism, FS C. K. Barrett, London 1982, 83-101
Ellis, E. Earle; Colossians 1:12-20: Christus Creator, Christus Salvator, in: D. L. Bock, B. M. Fanning [eds.], Interpreting the New Testament Text: Introduction to the Art and Science of Exegesis, Wheaton, Illinois 2006, 415-428
Giuliano, Leonardo; Il participio nell'exordium di Col 1,3-23: valore sintattico e funzione retorica, LA 62 (2012), 153-172
Hoppe, Rudolf; Der Triumph des Kreuzes: Studien zum Verhältnis des Kolosserbriefes zur paulinischen Kreuzestheologie (SBS 28), Stuttgart 1994
House, H. Wayne; The Doctrine of Salvation in Colossians, BS 151/603 (1994), 325-338
Kiernikowski, Zbigniew; Identità e dinamismo della vita cristiana secondo Col 1,3-11, RivBib 33,1-2 (1985), 63-79.191-228
Pollard, T. E.; Colossians 1,12-20: A Reconsideration, NTS 27/4 (1981), 572-575
Roberts, John Henry; Die belydenisuitspraak Kolossense 1:13-20: Eenheid struktuur en funksie, HTS 53/3 (1997), 476-497
Roberts, John Henry.; Die sintaktiese binding van meta charas in Kolossense 1:11: 'n Strukturele motivering, HTS 57/1-2 (2001), 187-209
Sappington, Thomas J.; Revelation and Redemption at Colossae (JSNT.SS 53), Sheffield 1991
Shogren, Gary S.; Presently Entering the Kingdom of Christ: The Background and Purpose of Col 1:12-14, JETS 31/2 (1988), 173-180
Sokupa, Mxolisi Michael; Holy Persons and Holiness in Colossians, JAAS 11/2 (2008), 145-158
Viljoen, Francois P.; Die strategiese funksie van die Christus-himne in Kolossense 1:13-20, IDS 36/1 (2002), 67-89
Witulski, Thomas; Gegenwart und Zukunft in den eschatologischen Konzeptionen des Kolosser- und Epheserbriefes, ZNW 96/1-2 (2005), 211-242