Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Kolosserbrief

Der Brief des Paulus an die Kolosser

Kol 1,15-20

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Kol 1,15-20



Übersetzung


Kol 1,15-20 : 15 Er ist Abbild des unsichtbaren Gottes, Erstgeborener der ganzen Schöpfung. 16 Denn in ihm wurde alles erschaffen, in den Himmeln und auf der Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. 17 Und er ist vor allem und alles hat in ihm Bestand. 18 Und er ist das Haupt des Leibes, der Kirche. Er ist [der] Ursprung, Erstgeborene von den Toten, damit er in allem den Vorrang habe; 19 denn die ganze Fülle hatte Gefallen daran, in ihm Wohnung zu nehmen, 20 und durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen - indem er durch das Blut seines Kreuzes Frieden stiftete - durch ihn, sowohl das, was auf Erden, als auch das, was in den Himmeln ist.



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V. 15


Beobachtungen: Nachdem Kol 1,9-14 das Dankgebet als einen von vier Aspekten gottgefälligen Lebens genannt und dann Jesus Christus (und auch Gott) als Grund der Erlösung und Sündenvergebung hervorgehoben hat, liegt es nahe, in einer Art Muster-Dankgebet Jesus Christus und dabei auch Gott zu preisen. Dieser Lobpreis (= Hymnus) dürfte zugleich ein Bekenntnis darstellen. Dabei lassen Inhalt, Form und sprachliche Eigenheiten annehmen, dass der Verfasser des Kol den Lobpreis nicht selbst verfasst, sondern übernommen und möglicherweise abgeändert oder ergänzt hat.


Gott wird als "unsichtbar" bezeichnet. Wenn es in V. 15 heißt, dass Jesus Christus Abbild des unsichtbaren Gottes ist, dann ist ausgesagt, dass Jesus Christus Gott ähnlich ist. Allerdings stellt sich die Frage, ob dies nur für das Wesen oder auch für die Gestalt gilt. Sollte letzteres der Fall sein, wäre Jesus Christus ebenfalls unsichtbar, denn sonst müsste Gott - was unwahrscheinlich ist - in sichtbarer, gar menschlicher Gestalt gedacht sein. Sollte ersteres der Fall sein, könnte mit Blick auf die Menschwerdung Gottes eine Parallele zum Menschen vorliegen. So heißt es in Gen 1,27, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf. In Gen 1,27 ist allerdings nicht ausgesagt, dass der Mensch Gott gleich sei, sondern nur, dass ihm im Sinne eines königlichen Stellvertreters auf Erden gewisse herrschaftliche Befugnisse zukommen. Jesus Christus wäre insofern vom Menschen verschieden. Sollte Jesus Christus ebenso wie Gott unsichtbar gedacht sein, dann wäre weniger an die Schöpfungsgeschichte, sondern vielmehr an die Weisheit als Parallele zu denken. Gemäß dem Buch der Weisheit (7,26) ist die Weisheit Abbild von Gottes Güte.

Nimmt man an, dass ebenso wie in Gen 1,27 auch in Kol 1,15 der Begriff "Bild/Abbild" auf Stellvertretung und herrschaftliches Wirken in der Welt hinweist, dann würde Jesus Christus stellvertretend für Gott handeln und in der Welt - mit der Menschwerdung auch konkret auf Erden - wirken.


Der Begriff "Erstgeborener" enthält die Bestandteile "Erster" und "Geborener". "Erster" kann sowohl im Sinne der zeitlichen Abfolge als auch im Sinne des Ranges verstanden werden. "Geborener" bedeutet, dass Jesus Christus seine Existenz einem anderen Wesen, wohl Gott, seinem Vater, verdankt. Nun kann Jesus Christus vor oder zu Beginn der ganzen Schöpfung geboren sein. Er hätte bei der Erschaffung der Erde und des Himmels also schon existiert (= Präexistenz). Als solch Präexistenter wäre er ebenso wie Gott unsichtbar gedacht. Jesus Christus kann aber auch hinsichtlich des Ranges erstgeboren sein. Er wäre zwar als Mensch auf die Erde gekommen, hätte sich aber in seiner erlösenden Funktion von den anderen Menschen und auch von der gesamten restlichen Schöpfung unterschieden. Damit würde ihm im Rahmen der Schöpfung ein besonderer Rang zukommen. Dieser Mensch gewordene Gott wäre sichtbar gedacht.

Im Hinblick auf das "Erbe" bzw. das "Erbteil", von dem in Kol 1,12 die Rede ist, wäre der besondere Rang von Bedeutung: Der „Erstgeborene“, also der Sohn eines Elternpaares, der als erster geboren wurde, hat nämlich insbesondere im Hinblick auf das Erbrecht eine Vorrangstellung inne. Demnach hätte Jesus Christus sein himmlisches Erbe (vgl. 1,5) - zu denken ist an Auferstehung von den Toten und das ewige Leben - bereits erlangt.

Im Hinblick auf das "Reich des Sohnes seiner Liebe" (= Jesus Christus), von dem in Kol 1,13 die Rede ist, ist bemerkenswert, dass „Erstgeborener“ eine Bezeichnung für den König aus dem davidischen Hause ist. Auf diesem ruht die Heilshoffnung und er gilt als Vorbild und Höchster aller Könige (vgl. Ps 88,28LXX = Ps 89,28; Hebr 1,6; Offb 1,5). Ihm gebührt die wahre Verehrung.


Weiterführende Literatur: E. E. Ellis 2006, 415-428 dient eine Untersuchung des historischen Rahmens und der literarischen Form von Kol 1,12-20 als Grundlage für eine Darstellung derjenigen Aspekte, die seiner Meinung nach für die Predigt zu dieser Perikope besonders relevant sind.


J. H. Roberts 1997, 476-497 arbeitet heraus, dass es sich bei Kol 1,13-20 um eine literarische Einheit, um eine bekennende Aussage handele. Der Glaube der Gemeinde werde in der vollkommen ausreichenden Rettung durch Gott in Christus gegründet. Von dieser Grundlage her würden die Warnungen vor Irrlehren eröffnet.


Zur poetischen Form des Christushymnus Kol 1,15-20 siehe S. M. Baugh 1985, 227-244. Prägend sei das Muster des Chiasmus, wie er sich auch in den atl. und anderen semitischen poetischen Stücken finde. Symmetrische Strophen, wie sie oftmals von Auslegern bei der Suche nach einem dem vorliegenden Christushymnus angeblich zugrunde liegenden Urhymnus gesucht würden, seien beim semitischen Chiasmus nicht erforderlich.


Eine Auslegung des Christushymnus bietet P. Beasley-Murray 1980, 169-183, der zuvor kurz dessen Form bestimmt: Er sei aus zwei grundlegenden Strophen zusammengesetzt, die Christus als Herrn der Schöpfung (V. 15-16) und der Erlösung (V. 18b-20) feiern. Als Bindeglied diene V. 17-18a, der Höhepunkt sei V. 17b: In der Sphäre der Schöpfung und in der Sphäre der Erlösung fänden alle Dinge in Christus ihre Einheit.


Zum Ursprung des Christushymnus und zu seiner Rolle im Kol siehe J. Sánchez Bosch 2009, 23-32. Als Ursprung des Hymnus komme nur eine Denkweise in Frage, in der der höchste Gott und der Schöpfer von Himmel und Erde ein und derselbe sind. So habe die erste Strophe - J. Sánchez Bosch geht davon aus, dass der Hymnus ursprünglich aus zwei Strophen bestanden habe - ein rechtgläubiges Judentum als Ursprung. Jeder Platonismus, in dem der Demiurg keinen ersten Platz einnimmt, sowie die meisten Formen von Gnosis, die auch den Schöpfer der sichtbaren Welt herunter stufen, würden ausgeschlossen. In der zweiten Strophe werde eine Geschichte von Tod und Auferstehung von den Toten postuliert, aber nur eine, die zu dem Abbild Gottes, durch das Himmel und Erde erschaffen wurden, passte. Betrachte man den Kol insgesamt, so ergäben sich zwei Erkenntnisse: Zum einen nehme die Sprache des Briefes nur sehr wenig vom christologischen Hymnus auf, und dies gelte zum anderen noch stärker für die spezifisch theologischen Aussagen des Hymnus. Laut J. Sánchez Bosch habe der Verfasser des Kol den Hymnus nicht verfasst, aber der Inhalt des Hymnus stelle ein wesentliches Stück seiner Argumentation dar. Ihm liege an der Erkenntnis, dass Christus über jedem nur denkbaren Wesen steht, weil sie alle in ihm und durch ihn und auf ihn hin erschaffen wurden und er vor ihnen war und sie in ihm Bestand haben; er ist ihr Ursprung, so dass er in allem den Vorrang habe. Alles das habe schon im Hymnus gestanden und sei für den Verfasser des Briefes Ausschlag gebend gewesen.


Zur Funktion des hymnischen Materials in den Paulusbriefen siehe S. E. Fowl, der auf S. 125-154 auf den Christushymnus Kol 1,10-15 eingeht. Ergebnis: Dem Christushymnus komme die Rolle eines Beispiels zu.


F. S. Malan 1998, 521 geht im Rahmen seiner Abhandlung über Kirchengesang in den paulinischen Briefen auf den Hymnus Kol 1,15-20 ein, speziell auf Grundzüge seiner Theologie und auf seine Stellung im Briefganzen.


Zum Christushymnus als Argumentationsgrundlage des gesamten Kol siehe F. P. Viljoen 2002, 67-89 und A. Copenhaver 2014, 235-255.


J.-N. Aletti 1981 bietet zu Kol 1,10-15 eine Studie zur Komposition des Textes, eine semantische Analyse, eine Skizze der Christologie sowie eine Abhandlung über die Funktion der weisheitlichen Thematik.


Laut L. Bormann 2013, 243-256 zeigten intertextuelle und linguistische Beobachtungen, dass der kolossische Hymnus stark von der biblischen Weisheitstradition beeinflusst ist. Ntl. Christologie selbst habe darin jedoch nicht ihren Ursprung. Vielmehr sei der weisheitliche Rahmen an die frühere christologische Vorstellung von der Erhöhung auf den Thron Gottes angepasst worden. Diese Vorstellung sei bezüglich der Christologie in ntl. Zeit vorherrschend gewesen.


Mit der Struktur des Textes Kol 1,14.15-20a.b befasst sich C. Casale Marcheselli 1982, 497-519. Eine Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse findet sich in C. Casale Marcheselli 1982, 273-291. Demnach seien vier Stadien zu unterscheiden: Das erste Stadium enthalte urchristlich-vorpaulinisches Material, das Jesus Christus als Abbild Gottes, als absoluten Erstgeborenen, in dem alles erschaffen wurde, darstelle. Dies sei die historische Grundlage der Christologie. Das zweite Stadium gehe auf paulinische Redaktion zurück. Zu ihm gehöre die Aussage, dass alles durch ihn und auf ihn hin erschaffen sei. Christus erscheine als Präexistenter und Haupt des Leibes sowie als Versöhner und Friedensstifter. In diesem Stadium seien wir bei der dynamischen Dimension einer soteriologischen, kosmischen und anthropologischen Christologie angelangt. Im dritten Stadium erfolge seitens der paulinischen Redaktion die Einfügung von nichtchristlichem Material. In diesem Stadium werde der Schöpfungsaussage des ersten Stadiums "in den Himmeln und auf der Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten" zugefügt. Das vierte Stadium des Hymnus gehe auf die Hand des Apostels Paulus zurück. Nun werde Gott als unsichtbar qualifiziert, der Leib, dessen Haupt Christus ist, mit der Kirche identifiziert und Christus als Erstgeborener "von den Toten" bezeichnet. Außerdem werde die Friedensstiftung auf "das Blut seines Kreuzes" zurückgeführt.


Laut J. Murphy-O'Connor 1995, 231-241 ließen sich in Kol 1,10-15 zwei vierzeilige Strophen ausmachen: V. 15a-b.16a.f und V. 18b-c.19-20. Der ursprüngliche kolossische Hymnus habe offensichtlich die Mittlerschaft Christi zum Thema gehabt, zunächst bei der Schöpfung und dann bei der Versöhnung. Weil es sich aus Sicht des Paulus dabei nicht um zentrale theologische Aspekte gehandelt habe, habe er dem Hymnus Passagen hinzugefügt. Es sei seine Absicht gewesen, die zur Sprache kommende Geisteswelt auf die richtigen Proportionen zu reduzieren und Christus seine wesentliche Rolle zuzuweisen. Paulus habe die irdische Aktivität Christi stärker betont und die kosmische Spekulation in den Hintergrund treten lassen. Gemäß Paulus sei das Geheimnis kein Geheimnis mehr, sondern durch und in Christus offenbart.


Mit den literarischen Charakteristika des Textes Kol 1,15-20 und der christologischen Lehre befasst sich C. Basevi 1994, 349-362. Dabei bietet er eine formale Analyse des Textes und einen Überblick über rhythmische Aspekte, bevor er zu den Schlussfolgerungen seiner literarischen Studie kommt. Abschließend geht er auf die Oberflächenstruktur des Textes ein.


Laut N. T. Wright 1991, 99-109 könne die Struktur des gesamten Textes 1,15-20 als "poetisch" bezeichnet werden. Als Gedicht gelesen passe er sehr gut zum Hintergrund jüdischer Weisheitstraditionen. Sein christologischer Monotheismus sei typisch paulinisch und dem in Phil 2 nicht unähnlich. Vgl. N. T. Wright 1990, 444-468.


J. F. Balchin 1985, 65-94 geht anhand von stilistischen Merkmalen der Frage nach, ob es sich bei Kol 1,15-20 um einen frühen christlichen Hymnus handelt. Diese These werde seit dem 19. Jh. wiederholt aufgrund der Beobachtung vertreten, dass der Stil dieses Abschnittes ungewöhnlich sei. Zwei Argumentationsstränge führten zu dieser Schlussfolgerung: Erstens seien liturgische Texte durch einen besonderen Stil gekennzeichnet, der als solcher zu erkennen sei. Zweitens unterscheide sich der Stil dieses Abschnittes deutlich von der paulinischen brieflichen Prosa. Paulus habe ihn also nicht selbst erstellt, sondern den Inhalt aus einer bereits existierenden Quelle übernommen. J. F. Balchin setzt sich kritisch mit den beiden Argumentationssträngen und der Schlussfolgerung auseinander, indem er die verschiedenen sprachlichen Besonderheiten der Reihe nach durchgeht. Fazit: Kol 1,15-20 könne zwar von einer bereits vorliegenden Quelle stammen, jedoch sein diese Schlussfolgerung nicht zwingend. Besonderheiten in Stil, Vokabular, Rhythmus und Theologie könnten auch auf Paulus zurückgehen und durch Änderungen der Lebensumstände, flexiblen Umgang mit Sprache und besondere theologische Gewichtungen bewirkt sein.


L. R. Helyer 1983, 167-179 geht der Frage nach, ob es sich bei der "Kreuzestheologie", die sich unzweifelhaft in Kol 1,15-20 finde, um einen paulinischen Eintrag in einen bereits existierenden Hymnus handelt, der die hellenistische Sorge um kosmische Einheit und Versöhnung zum Ausdruck bringt. Ergebnis: Der Hymnus in Gänze sei durch und durch paulinisch und führe vorpaulinische, auf die palästinische Kirche zurückgehende Tradition fort. Im Gedankengut des Paulus habe das Kreuz wahrhaft kosmische Dimensionen. Ob sich in 1,15-20 hellenistische Versöhnungstheologie ohne Verbindung zur paulinischen Kreuzestheologie findet, lasse sich nicht ausmachen.


Während es unter den Exegeten einen gewissen Konsens gebe, dass Kol 1,15-20 ein Beispiel der Sophia-Christologie sei, habe es gemäß J. Fossum 1989, 183-201 auch den Versuch gegeben, den Hymnus als Beispiel der Anthropos-Christologie zu lesen. Dieser Versuch sei gerechtfertigt, weil die Person des Anthropos (Name für den himmlischen Menschen der Gnosis) ebenso wie die Person der Sophia von vorchristlicher jüdischer Tradition herstamme. Ein Vergleich von Kol 1,15-18a mit bestimmten jüdischen und gnostischen Texten lässt auch J. Fossum eine Anthropos-Christologie annehmen.


Z. Geréb 2010, 132-146 hält die Verbindung der Ereignisse der Heilsgeschichte mit denen der Schöpfung für das wesentliche Charakteristikum des Christushymnus'. Er offenbare Christi Gegenwart zu Beginn von Schöpfung und Versöhnung ebenso, wie seine fortdauernde Gegenwart im Universum und in der Kirche durch seine Göttlichkeit.


Auf dem Hintergrund des alttestamentlichen Bilderverbots habe sich laut A. Hölscher 1998, 114-133 die schon frühchristliche einsetzende Auseinandersetzung um das Christus-Bild auf die neutestamentliche Vorstellung vom Christus als dem einzigen Abbild des unsichtbaren Gottes konzentriert. Der Text aus dem Kolosserhymnus habe sich dabei ebenso als Hemmschwelle bildnerischer Gestaltung wie als Rechtfertigungsgrund erwiesen. Die Vorstellung werde dabei nur vor dem religionsgeschichtlichen Hintergrund griechisch-hellenistischer und hellenistisch-jüdischer (jüdische Weisheitsliteratur und Texte von Philo von Alexandrien) Traditionen verständlich. Es gehe nicht um die Schaffung eines Menschen - des irdischen Menschen Christus - "nach dem Bilde Gottes", sondern der präexistente Schöpfungsmittler werde als Bild Gottes bezeichnet. Als authentisches Bild Gottes bilde der Sohn die Wirklichkeit des Abgebildeten restlos ab, also unter Einschluss von Gottes Unsichtbarkeit. Als so verstandenes Bild Gottes gehöre der Sohn nicht zum Bereich des als sichtbar Geschaffenen, sondern stehe auf der Seite Gottes und sei der Welt kategorial übergeordnet.


A. Dettwiler 2015, 37-52 geht der Frage nach, wie der Christushymnus mit seiner Umwelt interagiert und auf welche Resonanz er bei seiner Hörerschaft stößt. A. Dettwiler vermutet, dass der Hymnus von einer Vielzahl Einflüsse geprägt sei: von der weisheitlichen Tradition des AT (auf diese geht A. Dettwiler genauer ein) und ihrer Aufnahme im Judentum Alexandrias, von der biblischen Schöpfungstradition, von kosmologischen und politischen Traditionen der griechisch-römischen Welt und von urchristlichen Traditionen.


L. R. Helyer 1988, 59-67 befasst sich im Lichte arianischer Theologie mit der Bedeutung der Formulierung "Erstgeborener der ganzen Schöpfung" ("prôtotokos pasês ktiseôs"). Arius, ein Presbyter in Alexandria, der um 318 n. Chr. eine führende Persönlichkeit in einem christologischen und trinitarischen Streit war, habe die volle Göttlichkeit Christi und damit auch des heiligen Geistes bestritten. Arius und seine Anhänger hätten sich auf biblische Schriften berufen, darunter insbesondere auch Spr 8,22 und Kol 1,15. L. R. Helyer kommt zu folgendem Ergebnis: "Erstgeborener der ganzen Schöpfung" sage die Präexistenz Christi aus. Christus komme ein Vorrang gegenüber aller Schöpfung zu. Kurz: Er sei Gottes Erbe par excellence.


Mit der Christologie in 1,15-20 und 2,9-15 befasst sich H. W. House 1992, 180-192. Der Artikel gliedert sich in folgende Abschnitte: Der Christushymnus; Christus als Antwort auf alle Sorgen der Kolosser; Vergleich der paulinischen Christologie in Kol mit der johanneischen Darstellung Christi als Schöpfer.


Zu Christus als dem Geheimnis der Welt, dessen dogmatische wie ethische Implikationen im Kol deutlich werden, siehe W. Schenk 1983, 138-155.


J. McCarthy 1994, 27-47 bietet Gedanken zur kosmischen Dimension Christi im Lichte von Kol 1,15-20. Nach einer Analyse des Hymnus entfaltet er eine kosmische Christologie. Danach legt er dar, welche Schlussfolgerungen sich aus dieser kosmischen Christologie für eine Erlösungstheologie sowie für das geistliche Leben und das verantwortungsbewusste Handeln der Kirche ergeben.


C. Stettler 2000 befasst sich zunächst mit der neueren Auslegungsgeschichte und den Rahmenbedingungen für die Auslegung von Kol 1,15-20, bevor er in einem dritten Hauptteil eine Auslegung des Textes bietet. Der "Kolosserhymnus" erweise sich als ein in Form und Inhalt geschlossenes Ganzes.


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V. 16


Beobachtungen: Was bedeutet in V. 16 die Präposition "en"? Gewöhnlich ist sie mit "durch" oder "in" zu übersetzen. Die Bedeutung "durch" scheint zunächst einmal mehr Sinn zu ergeben: "Denn durch ihn wurde alles erschaffen,...". Allerdings findet sich für die Bedeutung "durch" in V. 16 eine andere Präposition: "dia". So heißt es: ... alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen." Selbst wenn man davon ausgeht, dass hier nur deswegen "dia" statt "en" gewählt wurde, um eine mehrfache Wiederholung - in Kol 1 findet sich die Präposition "en" an vielen Stellen - zu vermeiden, ist das Deutungsproblem noch nicht gelöst. Es ist nämlich nicht davon auszugehen, dass zweimal kurz hintereinander dasselbe ausgesagt wird: "Durch ihn wurde alles erschaffen." Daher dürfte den beiden Präpositionen "en" und "dia" in V. 16-17 eine verschiedene Bedeutung zukommen: "En" bedeutet "in" und "dia" bedeutet "durch". Folglich ist der Anfang von V. 16 mit "Denn in ihm wurde alles erschaffen,..." zu übersetzen.

Was bedeutet "in ihm wurde alles erschaffen"? Zunächst einmal weist die Präposition "in" auf einen Raum hin, in dem etwas geschieht. Über diesen räumlichen Aspekt hinausgehend ist aber auch davon auszugehen, dass ein Macht- und Wirkungsbereich ausgesagt ist. Wenn also alles "in ihm" erschaffen wurde, dann wurde alles in seinem Macht- und Wirkungsbereich geschaffen. Und weil Jesu Christi Wirken mit Blick auf Erlösung und Sündenvergebung (vgl. V. 14) ein heilsames Wirken ist, befindet sich "alles" seit der Schöpfung im Heilsbereich Jesu Christi und ist von Erlösung und Sündenvergebung betroffen.


Der Plural „Himmeln“ lässt auf den Himmel als einen Ort schließen, der aus verschiedenen Sphären besteht. Allerdings ist der Plural nicht überzubewerten, weil Paulus den Plural "Himmel" im Wechsel mit dem Singular „Himmel“ benutzt (in besonders enger Abfolge in 2 Kor 5,1-2). Eine dogmatisch ausgefeilte Himmelsvorstellung scheint Paulus nicht zu haben. Auch für den Fall, dass der Kolosserbrief nicht von Paulus selbst, sondern von einem (oder mehreren) seiner Schüler verfasst worden ist, dürfte diese Beobachtung maßgeblich sein.


Die vier Paare "in den Himmeln und auf der Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten" stellen eine Konkretisierung von "alles" dar. Es handelt sich um vier Aspekte, wobei jedes einzelne Paar "alles" bezüglich des spezifischen Aspektes bedeutet: "in den Himmeln und auf der Erde" bedeutet "überall", betrifft also den räumlichen Aspekt; "das Sichtbare und das Unsichtbare" betrifft die Wahrnehmung mit den Augen und bedeutet "alles, gleich ob wir es sehen können oder nicht"; "Throne und Herrschaften" betrifft Herrschaftsformen und vermutlich auch die Herrscher selbst und bedeutet "alle Herrschaftsformen und Herrscher, gleich ob in den Himmeln oder auf der Erde"; und "Mächte und Gewalten" betrifft die Machtbefugnisse, die aus den verschiedenen Herrschaftsformen resultieren, und bedeutet "alle Machtbefugnisse". Ebenso wie bei dem Paar "Throne und Herrschaften" können auch die Machtinhaber an sich gemeint sein.

So unklar die Abgrenzung der Begriffspaare "Throne und Herrschaften" und "Mächte und Gewalten" auch ist, so fällt doch auf, dass den Herrschaftsformen, Herrschaftsinhabern und Machtbefugnissen gleich zwei Wortpaare gewidmet werden. Weist dies darauf hin, dass sich der Kolosserbrief - ähnlich wie die Weisheitsliteratur - in besonderem Maße an diejenigen Personen wendet, die Verantwortung tragen und vielleicht sogar besondere Regierungs- und Machtbefugnisse innehaben?


Die Formulierung "durch ihn und auf ihn hin" macht deutlich, dass alles auf Jesu Christi Wirken zurückgeht und auf sein Wirken ausgerichtet ist. Alles ist von Anfang bis Ende im Lichte von Jesu Christi Heilswirken, also im Lichte von Erlösung und Sündenvergebung zu sehen. Es gab keine Zeit von Himmel und Erde, die nicht in diesem Lichte zu sehen ist, und es wird auch keine solche Zeit mehr geben. V. 16 steht also nicht dem Gedanken entgegen, dass Gott selbst der Schöpfer ist. Hier ist allerdings im Hinblick auf die Schöpfung (und auf das Ende der Zeiten) der Gedanke der Erlösung und Sündenvergebung betont, weshalb das Wirken Jesu Christi im Zentrum steht. Das Wirken Jesu Christi gibt einen ganz bestimmten Aspekt des Wirkens von Gott wieder, nämlich den Aspekt von Erlösung und Sündenvergebung. Möglich ist auch, dass an eine Art Zusammenwirken gedacht ist oder an ein Beisein bei der Schöpfung. So ist im Buch der Weisheit (9,9) davon die Rede, dass das Schöpfungshandeln Gottes im Beisein der Weisheit geschehen ist (vgl. Spr. 3,19). Die Schöpfung ist demnach also mit Weisheit geschehen. Im Gegensatz zu Weish 3,19 wird allerdings in Kol 1,15-20 nicht ausdrücklich von einem Beisein gesprochen. Das spricht dafür, in Kol 1,15-20 von Schöpfungshandeln im eigentlichen Sinne auszugehen.


Es fällt der Wechsel vom Aorist "ektisthê" ("wurde erschaffen") zum Perfekt "ektistai" ("ist erschaffen") auf. Während der Aorist betont, dass in der Vergangenheit etwas geschehen ist und dieses Geschehen abgeschlossen ist, betont das Perfekt, dass etwas für die Gegenwart (und auch Zukunft) von Bedeutung ist. Jesu Christi Schöpfungshandeln erfolgte zwar in der Vergangenheit und ist abgeschlossen, ist aber auch für die Gegenwart (und für die Zukunft) von Bedeutung.


Weiterführende Literatur: Mit Jesus als Gottes Schöpfungsmittler befasst sich C. D. Redmond 2004, 287-303, der auf die Texte 1 Kor 8,6; Kol 1,16; Hebr 1,2.10 und Joh 1,3.10 eingeht. Jesu kosmische Rolle werde als theologische Rechtfertigung gegenüber der Verehrung von Wesen, die von geringerem Rang als Jesus sind, thematisiert.


Unter der thematischen Überschrift "Evolutionismus und Religion" befasst sich M. Gourgues 2011, 217-238 mit der Bedeutung der Formulierung "alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen". Gemäß der Bedeutung des Perfekts im Griechischen sage "ektistai" ("ist erschaffen") nicht nur ein auf die Vergangenheit begrenztes Schöpfungsgeschehen aus, sondern auch seine Fortdauer in der Gegenwart. Das gesamte, durch die Mittlerschaft Christi geschaffene Universum bleibe auf Christus als seinen Bezugspunkt und als seine letzte Erfüllung ausgerichtet.


M. Trainor 2005, 54-69 liest Kol 1,15-20 im Hinblick auf Schlussfolgerungen für das ökologische Bewusstsein. Die kosmologische Christologie lasse ein inniges Verhältnis Gottes zur Schöpfung und all ihren Lebensformen ausmachen, das auch für unser Denken und Handeln von Bedeutung sei.

Zur kosmologischen Ausrichtung des Kolosserhymnus und zu seiner ökotheologischen Dimension siehe M. Öhler 2016, 16-26.


E. Mueller 2011, 15-40 geht der Frage nach, wie sich die verschiedenen Attribute, die Jesus Christus in Kol 1,15-20 zugeschrieben werden, auf das Schöpfungsthema beziehen und wie das Schöpfungsthema die Vorstellung von Jesus Christus als Bewahrer und Retter beeinflusst. Fazit: Schöpfung und Rettung gehören untrennbar zusammen.


Mit der Pneumatologie des Kol und Eph befasst sich V. Balabanski 2010, 173-187. Sie liest den Christushymnus durch die Brille der Stoiker und stellt folgende These auf: Die Kolosser seien mit der stoischen Vorstellung vertraut gewesen, dass der göttliche Geist im gesamten Kosmos wirke; der göttliche Geist bzw. Logos durchdringe alle Dinge und halte alle Dinge zusammen. Der Kol deute diese stoische Kosmologie christologisch. Der göttliche Logos wirke nun in Jesus, in dem auferstandenen Christus, der alle Dinge zusammenhalte. Die Betonung des heiligen Geistes, ohne diesen Geist als denjenigen Christi zu charakterisieren, habe die Kolosser zu kosmischen Spekulationen verführt. Der Kol lehne die stoische Kosmologie der Durchdringung des Kosmos durch den göttlichen Geist/Logos nicht ab, unterstreiche jedoch ihre Verbindung mit Christus. Stoische Vorstellungen fänden sich auch im Eph, in dem der Begriff "pneuma" ("Geist") viel häufiger als im Kol vorkomme, nämlich vierzehnmal statt zweimal. Insbesondere die Vorstellung der "oikeiôsis" ("Zueignung"), die sich auf die Anerkennung und Würdigung einer Sache als zu jemandem zugehörig beziehe, sei ein typisches stoisches ethisches Prinzip. Dieses scheine insbesondere in Eph 2,11-22 stark widerzuhallen. Aber der Schwerpunkt liege nicht mehr auf der Kosmologie, sondern auf der Ethik mit Bezug auf die Kirche.


Um die kosmologischen Sichtweisen, die den Schriften des Paulus und anderer ntl. Autoren zugrunde liegen, in ihrem historischen Kontext verorten zu können, müssten sie laut J. C. Thom 2012, 1-7 mit anderen zeitgenössischen Sichtweisen der Welt, wie sie in philosophischen Schriften der Zeit geäußert werden, verglichen werden. Die ntl. Forschung habe sich bisher auf die populärsten und einflussreichsten philosophischen Traditionen ntl. Zeit konzentriert, nämlich auf den Stoizismus und den Mittelplatonismus, jedoch könnten auch andere philosophische Traditionen wertvolle Einsichten vermitteln. J. C. Thom widmet sich der Schrift De mundo, die traditionell Aristoteles zugeschrieben werde, aber wahrscheinlich aus dem 1. Jh. v. Chr. oder aus dem 1. Jh. n. Chr. stamme. Dieser Text sei ein früher Zeuge der Aufsplittung der demiurgischen Funktion Gottes, die vorgenommen werde, um Gottes Transzendenz zu wahren. Eine ähnliche Aufteilung göttlicher Funktionen sei auch in einigen biblischen Schriften zu finden, z. B. in Joh 1, Kol 1und Hebr 1. Anhand von Kol 1 wird die Vorstellung erörtert.


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V. 17


Beobachtungen: Auch das Verb "synestêken" ist ein Perfekt. Der Infinitiv "synistêmi" bedeutet zunächst einmal "zusammenstellen" oder "zusammenfügen". Alles ist also in Jesus Christus zusammengefügt. Das ist aber nicht nur ein vergangenes Geschehen, sondern hat auch für die Gegenwart (und für die Zukunft) Bedeutung. So kommt nun eine weitere Bedeutung von "synistêmi" in den Blick: Bestand haben. Alles hat in Jesus Christus Bestand, wobei an Ordnung, Stabilität und wohl auch an Produktivität gedacht sein dürfte. In Jesus Christus herrscht kein Chaos., sondern das Prinzip der Weisheit.


Weiterführende Literatur: Eine rhetorische Analyse von Kol 1,15-20 bietet L. C. Reyes 1999, 139-154. Gemäß dieser habe der Verfasser von zahlreichen rhetorischen Kunstgriffen Gebrauch gemacht, was erkennen lasse, dass er Kenntnisse der griechischen Rhetorik besaß.


Im Kol werde gemäß A. de Oliveira 1999, 72-103 hervorgehoben, was sich in den unumstrittenen Paulusbriefen durchgängig auspräge: "die Bindung des Christen an Christus, durch die Christus zum Mittelpunkt des christlichen Lebens wird". Im Kol sei nicht nur der Inhalt, sondern auch die literarische und rhetorische Disposition des Briefes davon bestimmt. Durch die Passagen, die mit einem bis dahin unbekannten Nachdruck von Christus als dem göttlichen Herrscher sprechen, sei die gesamte Argumentation des Briefes so aufgebaut, dass man von einer Christozentrik auch in literarischer und pragmatischer Perspektive sprechen könne. Dies zeige die gebotene, überwiegend synchrone Analyse der literarischen und rhetorischen Struktur des Briefes. Der Analyse schließt sich eine Darstellung der verschiedenen Bereiche der Christozentrik an, die vom Sitz im Leben des Briefes ausgehend speziell das Verhältnis zu den paulinischen Zeugnissen berücksichtigt.


Laut R. Hoppe 2014, 228-233 nehme das Christuslied des Kol das Weltganze als eine Beziehungsgeschichte zwischen Gott und seiner Schöpfung wahr. Christus selbst habe als Schöpfungsmittler und Allversöhner die Funktion, Gottes Zusage zum Erhalt seines Schöpfungswerkes darzustellen. Mit dem Glauben an Gott, der sich im Kreuz Jesu ganz auf die innerweltlichen Spannungen eingelassen habe, solle die Kirche die gottentfremdete Welt durchdringen und dazu beitragen, alle "Weltangst" zu überwinden.


C. J. Collins 2014, 64-87 spürt dem Ursprung der Formulierung "kai ta panta en autô synestêken" ("und alles hat in ihm Bestand") nach. Bemerkenswert sei, dass das Verb "synistêmi" ("zusammenhalten") nicht in den aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzten Passagen der Septuaginta auftaucht, die als Grundlagen für V. 17 genannt werden, nämlich Weish 1,7 und Sir 43,26. Weish 1,7 benutze das Verb "synechô" ("zusammenhalten"; "umfassen") und Sir 43,26 das Verb "synkeimai" ("zusammenliegen"); die zugrundeliegenden hebräischen Begriffe unterschieden sich noch deutlicher. Gibt es also eine Verwendung von Begriffen, die diesen beiden Passagen zeitlich vorausgeht und die Grundlage für das Verständnis der Formulierung Kol 1,17 darstellt? Sollte nicht die hebräische Bibel die Quelle sein, ist dann der Hintergrund in der nichtjüdischen hellenistischen Welt zu suchen, sei es bei den (dem Monotheismus zuneigenden) Philosophen oder in der Volksreligion? C. J. Collins kann keine direkte literarische Abhängigkeit von irgendeinem Text entdecken. Kol 1,15-20 gebe vielmehr eine ganze Anzahl von Themen samt dem zugehörigen Vokabular wieder, die sich in der hellenistischen Philosophie und in der jüdischen Weisheit finden lassen.


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V. 18


Beobachtungen: Wenn Kol 1,18 aussagt, dass Jesus Christus das Haupt des Leibes, der Kirche, ist, dann steht dies im Widerspruch zum zweifellos von Paulus verfassten Ersten Korintherbrief. Dort heißt es (in 12,12-27), dass die Christen die Glieder des Leibes Christi sind. Jesus Christus ist demnach nicht Haupt, sondern Leib. Und Jesus Christus ist nicht das Haupt der Kirche, sondern die Kirche an sich. Wie ist der Widerspruch zwischen Kol 1,18 und 1 Kor 12,12-27 zu erklären? Die einfachste Erklärung ist, dass der Kolosserbrief von einem anderen Verfasser bzw. von anderen Verfassern stammt als der Erste Korintherbrief. Dann wäre der Kolosserbrief nicht von Paulus (und Timotheus) verfasst worden. Nun könnte aber "der Kirche" eine spätere Zufügung sein. Diese könnte von dem Verfasser bzw. den Verfassern des Kol selbst stammen, aber auch von einem späteren Redaktor. In ersterem Fall würde die Schlussfolgerung der einfachsten Erklärung gelten, in letzterem könnte der Verfasser bzw. könnten die Verfasser Paulus (und Timotheus) sein. Deren Theologie gemäß wäre dann Jesus Christus das Haupt des Leibes, und von einer anderen Seite wäre nachträglich - ganz unpaulinisch - der Leib mit der Kirche gleichgesetzt worden. Nur durch diese Zufügung wäre ein offensichtlicher Widerspruch zu 1 Kor 12,12-27 entstanden. Allerdings findet sich keine Textvariante, die die These, dass die Gleichsetzung erst nachträglich geschehen ist, stützt. Außerdem würde sich die Frage stellen, was denn - ohne die Gleichsetzung mit der Kirche - mit dem "Leib" gemeint sein soll. Man kann erwidern, dass dies aus dem ursprünglichen Hymnus oder aus dessen Zusammenhang hervorgegangen sein könnte. Paulus (und Timotheus) hätte(n) den Hymnus übernommen und vielleicht abgewandelt. Ursprünglich könnte der Kosmos als Leib gedacht gewesen sein. Gleich ob es sich bei der Gleichsetzung des Leibes um eine Zufügung zum Hymnus - egal von wem sie vorgenommen wurde - handelt oder nicht, kann der Unterschied zwischen Kol 1,18 und 1 Kor 12,12-27 auch mit zwei verschiedenen Entstehungshintergründen und Aussageabsichten erklärt werden: Während der Kolosserbrief das Verhältnis Jesu Christi zur Welt und zur Kirche thematisiert, geht es im ersten Korintherbrief um ganz konkrete Fragen gemeindlichen Lebens. 1 Kor 12,12-27 will darin deutlich machen, welche Funktion die einzelnen Gemeindeglieder in der Kirche innehaben. Und weil durch die Taufe alle Christen zu einer christlichen Gemeinschaft verbunden sind, lag es für Paulus nahe, die Kirche und Jesus Christus als Leib gleichzusetzen. In Kol 1,18 geht es dagegen um den herausgehobenen Rang Jesu Christi. Herausgehoben kann aber Jesus Christus nicht sein, wenn er die Kirche an sich ist, sondern er muss deren Haupt sein. Da die Adressaten des Ersten Korintherbriefes nicht mit den Kolossern identisch waren, brauchte Paulus sich nicht Sorgen zu machen, dass die Adressaten der beiden Briefe den Widerspruch anprangern würden. Bleibt aber die Frage, ob Paulus nicht auch davon ausging und davon ausgehen musste, dass seine Briefe einem breiteren Leser- bzw. Hörerkreis zugänglich gemacht würden. Auch hat der Kolosserbrief einen durchaus allgemeingültig lehrhaften Charakter. Insofern kann man nicht sagen, dass der Erste Korintherbrief nur für die Korinther und der Kolosserbrief nur für die Kolosser bestimmt war. Insofern ist kaum davon auszugehen, dass Paulus in seinen Briefen bedenkenlos widersprüchliche Aussagen verbreitete.


Der griechische Begriff "archê" kann mit "Anfang" oder mit "Ursprung" übersetzt werden. Da ohne Jesu Christi Schöpfungshandeln alles nicht wäre, ist hier die Übersetzung "Ursprung" passender. Jesus Christus ist auch Ursprung und Grund der Kirche. Darüber hinaus enthält der Begriff "archê" auch den Aspekt des Vorrangs.


Die Formulierung "Erstgeborener von den Toten" rückt nun die Auferstehung ins Zentrum: Jesus Christus war zugleich der erste, der von den Toten auferstanden ("geboren") ist, und derjenige, der als erster das erhoffte Erbteil erlangt hat. Genau genommen hat er als Erbe nicht ein Erbteil erlangt, sondern das Erbe als solches. Dieses hätte er aber nicht den Menschen, konkret den Christen, vorenthalten, sondern er hätte diesen erst ermöglicht, selbst ein Erbteil zu erlangen. Jesus Christus ist also Ursprung der Welt, der Kirche und des Erbes zugleich.


V. 18 stellt den Vorrang in den Vordergrund. Dieser wird nun ausdrücklich genannt, nachdem er zuvor in verschiedenen Begriffen und Formulierungen indirekt und mit vielen Facetten indirekt ausgedrückt worden ist. Dieser Vorrang bezieht sich nicht nur auf bestimmte Bereiche, sondern auf "alles".


Weiterführende Literatur: Gemäß N. Frank 2009, 364-365 zeige sich eine signifikante Umwidmung paulinischer Sprachlichkeit durch den Kol in erster Linie anhand der Hierarchisierung des Leibmotives durch Christus als Haupt des Leibes (statt wie bei Paulus als Leib). Typisch für den Kol sei außerdem die global-kosmologische Perspektive.


T. E. Pollard 1981, 572-575 stellt zunächst fest, dass der Christushymnus Kol 1,15-20 in einen Rahmen eingefügt sei, der von der Tatsache der Erlösung ausgehe. Dann nimmt er die These auf, dass es sich bei 1,15-20 um eine ausgefeilte Auslegung von Gen 1,1 (Bereschit = im Anfang) im rabbinischen Stil handele. Der "Anfang" werde gemäß dieser mit der Weisheit gleichgesetzt, wie sie in Spr 8,22 erscheine, und Christus werde sowohl als "Anfang" als auch als Weisheit gedeutet. T. E. Pollard spürt den verschiedenen Gedanken in Kol 1,12-20 nach und kommt zu dem Ergebnis, dass in Kol Christus an die Stelle der Weisheit (und der mit dieser seitens des Rabbiners Raschi gleichgesetzten Tora), des "Bildes Gottes" und Israels trete. Christus sei als neuer Adam der Beginn von Gottes neuer Menschheit und der Erstgeborene des neuen Israel. Diese neue Menschheit, dieses neue Israel sei die Kirche, die den Leib des Hauptes, Christi, darstelle.


Mit dem "Leib" im Kol befasst sich J. D. G. Dunn 1994, 163-181. Folgende fünf Bedeutungen kämen dem "Leib" zu: a) der Leib, die Kirche (1,18.24; 2,19; 3,15; S. 164-167); b) der fleischliche Leib (1,22; 2,11.23; S. 167-173); c) der kosmische Leib (1,18 ursprüngliche Fassung; 2,9; S. 173-177); d) der eschatologische Leib (2,17; S. 177-178); e) der Leib Christi (S. 178-181). Die ersten vier Bedeutungen seien im Zusammenhang zu sehen, überlappten sich und ergäben zusammen eine Theologie des Leibes Christi.


Auf das Konzept der Kirche als „Leib Christi“ als Schlüsselelement der paulinischen Theologie geht auch J. L. Breed 1985, 9-32 ein, wobei die biblischen Schlüsseltexte (S. 24-26: Kol 1,17-27) und die Schlüsselbegriffe im Mittelpunkt stehen.


J. A. Dunne 2011, 3-18 vertritt die Ansicht, dass den königlichen Motiven im Vergleich zu den weisheitlichen Motiven im Hinblick auf den Hintergrund des Textes Kol 1,15-20 zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt werde. Obwohl sich diese beiden Hintergründe konzeptionell nicht ausschlössen - Könige benötigten für ein gutes Regiment Weisheit -, sei das "hymnische" Material vom Verfasser des Kol wahrscheinlich als Ausdruck des Vorrangs Christi verstanden worden, des Vorrangs gegenüber irdischen (Kaiser) und jenseitigen Mächten ("Mächte und Gewalten").


H. O. Maier 2005, 323-349 spürt Vokabular, Motiven und theologischen Themen im Kol nach, die der Sprache des römischen Kaiserkults entspringen. So entspreche der Christus, das Haupt des Leibes, der Kirche, dem Kaiser, dem Haupt des Leibes, des Reiches. Im Gegensatz zum römischen Kaiser sei bei Christus nicht militärische Herrschaft über besiegte (= "befriedete") Feinde maßgeblich, sondern den gesamten Kosmos versöhnende Selbsthingabe im Kreuzestod, die aus Feinden Freunde mache.


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V. 19


Beobachtungen: Es stellt sich die Frage, wer oder was das Subjekt von "eudokêsen" ("er/sie hielt es für gut", "er/sie hatte Gefallen daran") ist. Man könnte an Gott denken, der zuletzt in V. 15 erwähnt wurde, also viele Verse vorher. Aus 1 Kor 1,21 und einer Textvariante von Gal 1,15, wo sich jeweils das Verb "eudokein" mit einem Subjekt findet, geht hervor, dass das Subjekt im Nominativ steht. In Kol 1,19 ist demnach "pan to plêrôma" ("die ganze Fülle") Subjekt. Die Übersetzung muss daher "die ganze Fülle hatte Gefallen daran" lauten. Es mag die ganze Fülle Gottes sein, aber das wird nicht ausdrücklich gesagt.


V. 19 beginnt "hoti en autô...", was mit "denn in ihm ..." zu übersetzen ist. Folgt man also streng der Abfolge der Worte, so lautet die Übersetzung von V. 19: "denn in ihm gefiel es der ganzen Fülle Wohnung zu nehmen". Diese genaue Übersetzung hat jedoch den Nachteil, dass sie dem Missverständnis Vorschub leistet, "in ihm" beziehe sich auf "gefiel es ihm" und sage aus, dass es der Fülle (gemäß 2,9 der Gottheit) in ihm (= Jesus Christus) gefallen habe, Wohnung zu nehmen. Tatsächlich ist aber ausgesagt, dass es der Fülle gefiel, in ihm Wohnung zu nehmen. "In ihm" bezieht sich also auf "Wohnung nehmen". Dieser Sachverhalt wird durch die Übersetzung "denn die ganze Fülle hatte Gefallen daran, in ihm Wohnung zu nehmen" verdeutlicht, weil "in ihm" mit den Worten, auf die es sich bezieht, verbunden wird.


"Katoikêsai" ist ein Infinitiv Aorist, der ein punktuelles Geschehen bezeichnet, das abgeschlossen ist. Insofern ist die Übersetzung "Wohnung zu nehmen / sich niederzulassen" der Übersetzung "zu wohnen" vorzuziehen. Das Wohnen würde eher einen länger währenden Zustand darstellen, das auf das Wohnungnehmen folgt (vgl. Beobachtungen zu Kol 2,9).


Unklar ist, was mit der "Fülle" ("plêrôma") gemeint ist. Aus Kol 2,9 geht zwar hervor, dass die Fülle der Gottheit gemeint ist, jedoch scheint die Gottheit in 1,19 nicht im Zentrum der Aussage zu stehen. Im Zentrum steht die Fülle, und zwar in einem solchen Maße, dass der Verfasser des Kol darauf verzichtet, die Gottheit zu nennen. Und das, obwohl gar nicht klar ist, um was für eine Fülle es sich handelt. Das mag darauf hinweisen, dass den Adressaten der Begriff geläufig war. So könnte die von den Valentinianern (= Schülern des Gnostikers Valentinus) vertretene Vorstellung einer "Fülle" von 30 Äonen, bei denen es sich um durch Ausströmung aus der einen höchsten Gottheit entstandene Wesenheiten handelt, den geistigen Hintergrund der Verwendung des Begriffs "Fülle" bilden. Der Verfasser des Kol hätte dem Begriff einen neue Bedeutung gegeben und ihn in seinem Sinne verwendet. Ganz unabhängig von diesem religionsgeschichtlichen Hintergrund kommt dem Begriff "Fülle", der im NT an vielen Stellen Verwendung findet, eine eigene theologische Bedeutung zu: So drückt er den vollen Inhalt, das volle Maß, die Gesamtheit, die Vollendung, die Menge oder das Füllen aus. Und im Hinblick auf die Gottheit dürfte die Fülle dessen Gesamtheit, also Gottes Wort, Weisheit, Herrlichkeit, Macht und Geist und alle anderen Aspekte enthalten. Der Verfasser betont die Gesamtheit noch, indem er von der "ganzen Fülle" spricht.


Es wird nicht gesagt, wann das Wohnungnehmen stattgefunden hat: Ist dies vor der Schöpfung geschehen? Oder im Rahmen der Schöpfung? Oder mit der Geburt Jesu auf Erden, der Menschwerdung? Oder mit der Taufe Jesu? Oder mit der Kreuzigung Jesu? Oder mit dessen Auferstehung von den Toten? Weil der Zeitpunkt unklar bleibt, kommt ihm möglicherweise keine besondere Bedeutung zu. Wichtig ist nur, dass es bereits stattgefunden hat.

Ebenfalls ist unklar, was mit dem Wohnungnehmen gemeint ist. Zunächst einmal umgibt die Wohnung ihre Bewohner. Das bedeutet, dass die Wesenheiten oder die Fülle (der Gottheit) von Jesus Christus umgeben werden. Auch das AT und die zwischentestamentliche jüdische Literatur ist vom Gedanken geprägt, dass Gott bzw. seine Herrlichkeit oder sein Geist sich an oder in einem bestimmten Ort niederlässt, insbesondere in einem Tempel. Diesem Ort kommt dann eine besondere Heiligkeit zu, die auch Jesus Christus zukäme. Dass die ganze Fülle in Jesus Christus Wohnung genommen hat, kann auch auf eine Art Zusammenwirken hinweisen oder deutlich machen, wie das Wirken Jesu geprägt ist oder in was für einem Licht es zu sehen ist. So kann man in Bezug auf das Heilsgeschehen, insbesondere auch im Hinblick auf Erlösung und Sündenvergebung sagen, dass Jesus Christus - salopp gesprochen - aus dem Vollen schöpfen kann, und zwar ohne jede Einschränkung. Man kann auch sagen, dass das Heilsgeschehen, insbesondere die Erlösung und Sündenvergebung, im Lichte von Gottes Wort, Weisheit, Herrlichkeit, Macht und Geist zu verstehen sind.


Weiterführende Literatur: Mit dem Widerhall von Spr 8,22-31 in Kol 1,15-20 befasst sich C. A. Beetham 2008 auf S. 113-141 und mit dem Widerhall von Ps 68,16 (67,17LXX) in Kol 1,19 auf S. 143-156. Paulus habe das Buch der Sprüche ebenso gekannt wie den Psalter. Hier sei insbesondere auf das Zitat von Ps 68,18 in Eph 4,8 zu verweisen, wobei umstritten sei, ob Paulus wirklich der Verfasser des Epheserbriefes ist. Es gebe im Hinblick auf beide atl. Texte Übereinstimmungen in Wortschatz und Gedankengut. Paulus habe die Figur der Weisheit mit dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus, einer historischen Persönlichkeit, in Verbindung gebracht und in diesem Rahmen Ps 67,17LXX in Kol 1,19 aufgegriffen. Dies habe eine bemerkenswerte Entwicklung im Deutungshorizont des 1. Jh.s und einen Kontrast zu den Deutungen seitens des zeitgenössischen Judentums dargestellt. Im Judentum sei die Weisheit nämlich mit den biblischen Schriften, mit der Tora, identifiziert worden.


E. de Bhaldraithe 2010, 67-70 sieht zahlreiche Übereinstimmungen zwischen dem Prolog des Johannesevangeliums (1,1-18) und dem Christushymnus Kol 1,15-20: So finde sich in beiden Texten eine klare Unterscheidung zwischen dem Abschnitt über die Schöpfung und dem Bericht über die Erlösung. Die erste Hälfte der beiden Texte sei von der Philosophie der Kausalität geprägt, die zweite Hälfte sei eher theologischer Art und handle von der Erlösung. Das Schlüsselkonzept sei "Fülle" ("plêrôma"): Im Kol sei sie eine Eigenschaft Christi, im Prolog des Joh werde sie von den Menschen geteilt. In beiden Texten scheine die Auferstehung der entscheidende christologische Moment zu sein.


Zur Eschatologie im Kol siehe H. Lona 1984, 83-240, der sich auf S. 120-147.234-235 mit der "Fülle" befasst. Der Gedanke der Erwählung und Einwohnung der "Fülle" in Christus nehme die atl. Vorstellung der Erwählung Zions und der Wohnung Gottes auf dem Berg bzw. im Tempel auf und verbinde sie mit dem philonischen Gedanken, wonach der Logos der Ort Gottes ist, der mit allen göttlichen Kräften erfüllt ist. Weder Kol 1,19 noch 2,9 übernähmen die Terminologie der Gegner, obwohl es sich dabei um verwandte Vorstellungen handele. Die Wiederaufnahme von 1,19 in 2,9 werde verständlich, wenn man die kosmologisch-christologische Bedeutung des Hymnus für die Bekämpfung der kolossischen Häresie beachtet. Gerade der Vorrang Christi in der Schöpfung sei von den Irrlehrern praktisch in Frage gestellt worden.


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V. 20


Beobachtungen: Versöhnung setzt ihre Notwendigkeit voraus. Und wenn alles versöhnt wird bzw. werden soll, dann ist alles versöhnungsbedürftig. Wenn aber alles in und durch Jesus Christus geschaffen worden ist, dann sollte man meinen, dass alles gut erschaffen worden ist (vgl. Gen 1). Liegt die Notwendigkeit der Versöhnung im Sündenfall des Menschen (vgl. Gen 3) begründet? Dann sollte man meinen, dass es der Mensch ist, der der Versöhnung bedarf, nicht aber gleich der gesamte Kosmos. Wie auch immer: Es herrscht Unfriede, so dass die "ganze Fülle" durch Jesus Christus Frieden stiften muss. Die Initiative zur Friedensstiftung geht von der "ganzen Fülle" bzw. Jesus Christus aus, nicht vom Menschen, einem anderen Lebewesen, irgendeiner Herrschaft oder dem Kosmos.


"Eis auton" bedeutet wörtlich "auf ihn hin". In Verbindung mit dem Verb "apokatallaxai" ("versöhnen") lautet die wörtliche Übersetzung also "auf ihn hin zu versöhnen", wobei auch die Übersetzung "mit sich zu versöhnen" möglich ist. Letztere Übersetzung entspricht dem deutschen Sprachgebrauch eher, allerdings birgt sie das Problem, dass sie nicht deutlich macht, wer "sich" ist, also mit wem die Versöhnung erfolgt. Da die Versöhnung durch die ganze Fülle (der Gottheit) erfolgt, wäre anzunehmen, dass die ganze Fülle (der Gottheit) mit sich selbst versöhnt. Das ist aber nicht der Fall: es heißt nicht "eis hauton" ("auf sich hin"), sondern "eis auton" ("auf ihn hin"). Diejenige, die versöhnt, ist nicht identisch mit demjenigen, mit dem versöhnt wird. Versöhnen tut die ganze Fülle (der Gottheit), versöhnt wird mit dem, durch den - im Sinne eines Instrumentes - versöhnt wird. Mit Blick auf V. 16 dürfte aber mit "auf ihn hin" noch mehr als "mit ihm" bedeuten. Es dürfte auch bedeuten, dass die Versöhnung auf Jesus Christus hin geschieht, Jesus Christus also nicht nur Ursprung, sondern auch Bestimmung ist.


Es bleibt offen, wer "alles" ist. "Alles" ist streng genommen allumfassend und eine solche allumfassende Bedeutung hat "alles" auch in V. 16: "in den Himmeln und auf der Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten". Diese allumfassende Bedeutung verbietet es, "alles" nur auf Menschen, irdische Lebewesen und/oder himmlische Lebewesen zu beziehen. Es dürfte eine kosmische Versöhnung im Blick sein, und zwar eine kosmische Versöhnung durch Jesus Christus und mit Jesus Christus (oder: auf Jesus Christus hin). Diese kosmische Versöhnung geschieht durch das Wirken der ganzen Fülle (der Gottheit).

Kann man aus Kol 1,20 eine "Allversöhnung" schließen, also auf eine Versöhnung aller Menschen und anderen Lebewesen sowie des gesamten Kosmos, ganz unabhängig vom Glauben an Jesus Christus? "Zu versöhnen" stellt zunächst einmal das Ziel dar, wobei offen bleibt, ob dieses wirklich erreicht wird. Wenn "alles" versöhnt werden soll, dann ist ausnahmslos alles eingeschlossen. Fraglich ist, ob diese Allversöhnung an den Glauben an Jesus Christus und an das mit diesem verbundene Heilsgeschehen geknüpft ist. Dafür spricht die große Bedeutung, die im Kol Jesus Christus und dem mit ihm verbundenen Heilsgeschehen beigemessen wird. Dass sich der Glaube verbreitet, ist dem Verfasser ebenso wichtig wie das Gott gemäße Leben der Christen. Beides ist in Kol 1 bereits zur Sprache gekommen. Dagegen spricht jedoch, dass nur der Mensch zum christlichen Glauben kommen kann, nicht jedoch das Tier oder die Pflanze oder irgendwelche leblose Materie. Aber ist das nicht zu rational gedacht? So finden sich in der Bibel durchaus Passagen, die vom Jubel und Gesang der Berge und Weiden, des Himmels und der Erde angesichts des Heil bewirkenden Gottes sprechen (vgl. Ps 65,13-14; 96,10-13). Dieser Jubel setzt Erkenntnis des Gottes und seines Wirkens voraus. Warum sollte dann Erkenntnis Jesu Christi und seines Wirkens nicht möglich sein?


Die Formulierung "durch das Blut seines Kreuzes" ist nicht wörtlich in dem Sinne zu verstehen, dass Jesus sein Kreuz, an dem er gestorben ist, gehört hat und aus diesem Blut getropft ist. Es ist vielmehr gemeint, dass Jesus durch das Blut, das er bei seinem Tod am Kreuz vergoss, Frieden gestiftet hat. Diesem Blut kommt also hinsichtlich Erlösung und Sündenvergebung eine zentrale Bedeutung zu.


Die Wiederholung des "durch ihn" nach dem Einschub irritiert, was zu einer Textvariante geführt hat, die die beiden Wörter auslässt. Diese Auslassung kann unabsichtlich geschehen und darauf zurückzuführen sein, dass die den Text abschreibende Person das wiederholte "durch ihn" übersehen hat. Sie kann auch absichtlich geschehen sein, weil die Wiederholung der beiden Wörter gänzlich unpassend erschien. Allerdings ist auch möglich, dass die Wiederholung der beiden Wörter ein Versehen und die Textfassung ohne sie ursprünglich ist.


Weiterführende Literatur: Kol 1,15-20 sei gemäß U. Luz 2008, 13-17 ein vorpaulinischer hymnischer Text, aus zwei Strophen und einer Zwischenstrophe bestehend, vermutlich ein von der Gemeinde gemeinsam gesprochener Lobpreis Christi. Er preise Christus als "Bild", d. h. als Manifestation des unsichtbaren Gottes und als großen kosmischen Friedensstifter. Die Vergottung Jesu, die wir aus den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen kennen, sei hier schon wenige Jahrzehnte nach Jesu Tod vorweggenommen. Der Glaube an seine Auferstehung erweise sich als "Anfang" dieses analogielos schnellen und umfassenden Vergottungsprozesses Jesu.


R. Hoppe 1994 versucht anhand eingehender traditions- und religionsgeschichtlicher Analysen aufzuweisen, dass gerade in der Zentralfrage des Paulus, nämlich in der Deutung des Kreuzes Jesu, der Autor des Kol gegenüber den Briefen des Paulus neue Wege geht, die es nicht mehr erlauben, von Kontinuität in der Paulus-Tradition zu sprechen. Die Ausrichtung auf den in der Zukunft sich durchsetzenden Heilsplan Gottes im paulinischen Sinne sei durch den ontologischen des ekklesialen Idealismus aufgehoben. Die Deutung des Kreuzes als Triumph sei in Kol 1,12-23 ebenso wie in 2,11-15 maßgebliche Grundlage für den präsentischen ekklesialen Heilsgedanken. Diese Kreuzesinterpretation kenne der Verfasser schon aus seiner Tradition, habe sie aber für die Situation seiner Adressatengemeinde weiter ausgebaut und zugespitzt. Hier lägen dann die wesentlichen Grundlagen für ein theologisches Konzept, das vorpaulinische Denktraditionen aufnehme und in nachpaulinischer Zeit neu zur Geltung bringe.


Eine exegetisch-theologische und rezeptionsgeschichtliche Studie zu den Versöhnungsaussagen des NT bietet H.-J. Findeis 1983, der sich im die S. 344-445 umfassenden Abschnitt „Die Versöhnung des Kosmos und die Versöhnung durch den Kreuzestod (Kolosserbrief)“ mit Kol 1,15-20 befasst.


Mit der Heilslehre im Kol befasst sich H. W. House 1994, 325-338. Der Artikel gliedert sich in folgende Abschnitte: Das Erbe der Gläubigen; Christi Erlösung seines Volkes; Versöhnung; Beharrlichkeit.


Mit dem Verb „katallassô“ („versöhnen“) in der antiken griechischen Literatur mit Bezug zu den paulinischen Briefen befasst sich S. E. Porter 1994, der auf S. 163-189 auf Kol 1,20.22; Eph 2,16 eingeht. Im Hinblick auf die anderen Vorkommen des Verbs in den paulinischen Briefen gebe es sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Einerseits werde wiederholt das Werk Christi als Versöhnung stiftend erwähnt und in Kol 1,20 gebe es zumindest einen indirekten Hinweis auf Gott als Mittler der Versöhnung. Andererseits liege jedoch in Eph 2,16 - insbesondere im Hinblick auf Gott - auf der Feindschaft weniger Betonung. In Kol 1,20.22 werde weniger direkt ausgesagt, dass Gott das Ziel der Versöhnung sei. Schließlich sei bezüglich der beiden Texte bemerkenswert, dass im Unterschied zu den anderen paulinischen Passagen in erster Linie Jesus Christus und nicht Gott als Mittler der Versöhnung erscheine.


G. L. Shultz 2010, 442-459 gibt zunächst einen knappen Überblick über die seitens der Forschung vorgebrachten Deutungen der Versöhnung und vertritt dann anhand von 2 Kor 5,18-21 und Kol 1,19-20 die These, dass zwar die Versöhnung universal sei, nicht aber die Rettung. Nur wer an Christus glaubt, erfahre die Versöhnung, die auf ein rettendes Verhältnis mit Gott hinauslaufe. Ungläubige würden keine Rettung erfahren, sondern stattdessen den Zeitpunkt erwarten, in dem sie der überwältigenden Kenntnis von Gottes Willen und Wegen unterworfen werden. Sie würden die Ewigkeit in einem Zustand der Reue verbringen, im Bewusstsein von Gottes gerechter Herrschaft über seine Schöpfung. Allerdings seien sie für immer nicht bereit, von ihren Sünden umzukehren und ein durch Christus geprägtes Verhältnis zu Gott zu suchen. Die Schöpfung selbst werde ebenfalls versöhnt, da sie von allen Auswirkungen der Sünde befreit und wieder in einen Zustand versetzt werde, in der sie voll und ganz die Herrlichkeit ihres Schöpfers widerspiegeln kann.


R. A. Peterson 2010, 37-46 nennt zunächst die bisher vorgebrachten Deutungen, wer oder was in V. 20 mit der Formulierung "alles" gemeint sein könnte: a) Christus allein; b) Menschen allein; c) Engel allein; d) Menschen und Engel; e) Menschen, Engel und die gesamte Schöpfung. Er unterzieht die vorgebrachten Deutungen einer Prüfung und kommt selbst zu dem Ergebnis, dass sich "alles" auf gerettete Menschen, bezwungene Dämonen und den erneuerten Himmel und die erneuerte Erde beziehe.


Zur Bedeutung von "aima" ("Blut") und "sôma" ("Leib") Jesu Christi in Kol 1,20.22 siehe T. Knöppler 2001, 174-177. Das Blut sei Sühnemittel und weise auf die sühnende Wirkung des Todes Jesu hin. Die Rede vom Leib Jesu lasse ebenfalls an die atl. Sühnopfer denken, schließe aber auch einen Bezug zur Herrenmahlstradition nicht aus.


Zu Gott als Friedensstifter und den (möglichen) Folgen siehe K. Wengst 2003, 14-20. Zu Kor 1,20: Gott selbst schaffe hier durch das als Einheit verstandene Geschehen von Tod und Auferstehung Jesu Christi, durch diese endzeitliche Neuschöpfung, mit der die Gabe des heiligen Geistes verbunden sei, universale Versöhnung und stifte Frieden zwischen Himmel und Erde.

Mit Blick auf die Formulierung "indem er durch das Blut seines Kreuzes Frieden stiftete" in V. 20 befasst sich P. Rogers 1982, 195-203 mit den drei Wahrheiten, die uns Paulus über diesen Frieden wissen lasse: a) Er sei Gottes Geschenk der Versöhnung, das denen, die einst von Gott getrennt waren, gegeben sei; b) er sei durch Jesus, den geliebten Sohn, gegeben, c) und zwar durch seinen Akt des Opfers. P. Rogers betrachtet diese drei Wahrheiten im Kontext des Kol und geht auf sie dann genauer ein.


J.-Y. Thériault 1991, 302-304.310-312 liest den Christushymnus im Lichte der Vorstellung, dass der Christ ein "neuer Mensch" sei (vgl. Kol 3,10; Eph 2,15; 4,24).


Zum vielfältigen Gebrauch der Partizipien im exordium 1,3-23 siehe L. Giuliano 2012, 153-172. Das lange Abschnitte umfassende Satzgefüge scheine wohl durchdacht zu sein und werde von den Partizipien, die den Gedankengang vorantrieben, zusammengehalten.



Literaturübersicht


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