Kol 2,16-19
Übersetzung
Kol 2,16-19 : 16 Darum soll euch niemand verurteilen wegen Speise und (wegen) Trank oder wegen eines bestimmten Festes, sei es Neumond oder Sabbat(e). 17 Das [alles] ist [nur] ein Schatten des Kommenden; der Leib aber ist (des) Christi eigen. 18 Niemand soll euch den Siegespreis absprechen, der sich in Demut und Engelverehrung gefällt, [in dem,] was er bei einer Weihe geschaut hat, grundlos aufgeblasen von seiner fleischlichen Gesinnung, 19 und sich nicht an das Haupt hält, von dem her der ganze Leib, durch die Gelenke und Bänder gestützt und zusammengehalten, das Wachstum (des) Gottes wächst.
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Beobachtungen: In Kol 2,8-15 hat Paulus deutlich gemacht, dass Paulus das Haupt aller Macht und Gewalt ist. Ihm sind demnach alle anderen Mächte und Gewalten unterworfen und untergeordnet. In V. 16-19 konkretisiert Paulus diese allgemeine Aussage auf dem Hintergrund der Bedrohung der Rechtgläubigkeit der Christen in Kolossä und auch in Laodizea und Hierapolis durch Irrlehrer. Diese Irrlehrer halten sich aber laut dem Verfasser des Kol nicht alleine an Christus und erhoffen von ihm das Heil, sondern sie stellen Forderungen auf, die von Christus abbringen, als gäbe es andere Quellen des Heils. Speise, Trank, Feste und Feiertage erscheinen als Mächte, die mit Christus konkurrieren. Der Verfasser des Kol schärft daher in V. 16-19 ein, dass die Christen Christus angehören und sich in dessen Macht- und Heilsbereich befinden. Speise, Trank, Feste und Feiertage sind dagegen keine Mächte, die für das Heil relevant sind.
Die Mächte und Gewalten, von denen in V. 8-15 die Rede war, sind also nicht auf irdische Machthaber oder machtvolle überirdische Wesen zu begrenzen. Macht und Gewalt ist vielmehr alles, was auf den Menschen Macht ausübt und von dem er sich das Heil erhofft.
"Wegen Speise und Trank" dürfte im Sinne von "wegen der Übertretung eines Speisegebotes und der Übertretung eines Trank betreffenden Gebotes" zu verstehen sein. Der Verfasser des Kol ist also der Ansicht, dass die Übertretung eines Speise oder Trank betreffenden Gebotes kein Anlass zur Verurteilung sein darf. Das Halten von Speise oder Trank betreffenden Gebotes ist seiner Meinung nach keine Quelle des Heils. Bei den Geboten, die im Blick sind, kann es sich um die jüdischen Speisegebote und die wenigen jüdischen Trank betreffenden Gebote handeln. Dann würde es sich um judenchristliche Irrlehrer handeln, die das Halten dieser jüdischen Gebote fordern. Aber das Judentum kommt nicht ausdrücklich zur Sprache, so dass auch heidnische Bestimmungen gemeint sein können, die Speise oder Trank betreffen. Anatolien war ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen und Glaubensrichtungen. Wir müssen also damit rechnen, dass sich der Verfasser des Kol gegen Elemente verschiedener Glaubensrichtungen wendet, die das rechtgläubige Christentum bedrohen.
Handelt es sich bei dem "Neumond" und dem "Sabbat" um Feste? Oder handelt es sich bei "bestimmtem Fest", "Neumond" und "Sabbat(e)" um drei Glieder einer Aufzählung? Dann wären "Neumond" und "Sabbat" nicht als "bestimmtes Fest" anzusehen. Das dreimalige "ê", das sich sowohl vor "en merei heortês" ("wegen eines bestimmten Festes"), "neomênias" ("eines Neumondes") und vor "sabbatôn" ("eines Sabbates/einer Woche") findet, gibt keine eindeutige Antwort, denn es kann sowohl mit "oder ... oder ... oder" als auch mit "oder..., sei es ... oder ..." übersetzt werden. Folglich kann die Übersetzung "... oder wegen eines bestimmten Festes oder Neumondes oder Sabbates" oder "... oder wegen eines bestimmten Festes, sei es Neumond oder Sabbat" lauten. Ebenfalls kann "neomênias" im Sinne von "monatlich" und "sabbatôn" im Sinne von "wöchentlich" gedeutet werden. Dann wäre zu übersetzen: "... oder wegen eines bestimmten monatlichen oder wöchentlichen Festes".
Der jüdische Kalender ist ein Kalender, der sich am Mond orientiert. Daher kommt dem Neumond besondere Bedeutung zu und er wird mit festlichen Riten begangen. Allerdings kann der Neumond auch bei den Heiden eine große Rolle gespielt haben, wurde der Mond doch in Zentralanatolien vergöttlicht (vgl. die Verehrung des Men Askaênos in Antiochia in Pisidien).
"Sabbatôn" ist ein Plural und genau genommen mit "Sabbate" zu übersetzen. Auch die Bedeutung "Woche" kommt infrage. Der Sabbat ist bei den Juden der streng eingehaltene wöchentliche Ruhetag, bei der dem Ruhen Gottes nach seinem Schöpfungswerk gedacht wird.
Weil sowohl der "Neumond" als auch der "Sabbate (oder: die Sabbate)" bzw. die "Woche" nicht sicher auf das Judentum zu beziehen sind, kann man auch nicht sicher, sagen, dass es sich bei den Irrlehrern um Judenchristen handelte. Dem Verfasser des Kol dürfte vielmehr an einer grundsätzlichen Aussage gelegen sein: Weder von der kultisch korrekten Begehung eines bestimmten Festtages noch eines Ruhetages geht Heil aus. Quelle des Heils ist einzig und allein Christus.
Die Reihenfolge "Fest, Neumond, Sabbat" entspricht genau der Septuaginta, und zwar Hos 2,13LXX und Ez 45,17LXX. Eine andere Reihenfolge findet sich in der Septuaginta in 1 Chr 23,31LXX; 2 Chr 2,3LXX und 31,3LXX und außerdem im Dialog Justins des Märtyrers mit dem Juden Trypho (Just Dial) 8,4.
Die Warnung in 2,16 ist die dritte einer Serie von fünf die Lehren von Irrlehrern betreffenden Warnungen (die anderen vier Warnungen finden sich in 2,4.8.18.20-21).
Weiterführende Literatur: P. Müller 2009, 365-394 versucht, die Argumentation des Kapitels 2,6-23 in der Perspektive des Verfassers nachzuzeichnen und sie nutzbar zu machen für das Verständnis der Gegner. Der Verfasser stelle den Adressaten die Bedeutung Christi mit verschiedenen Akzenten vor Augen: In 1,15-20 auf Christus selbst, in 2,9-15 auf die Beziehung zwischen Christus und den Glaubenden und in 2,16-23 in kritischer Wendung auf die Gegner bezogen. Die Konsequenz aus den drei Abschnitten laute: In Christus ist alles für das Heil Notwendige geschehen; wer das Heil durch weitere Maßnahmen zu sichern versucht, stellt damit faktisch das Heil in Christus in Frage. Nach der Auffassung des Kol hätten die Gegner durchaus einen Christusbezug, den sie aber durch verschiedene Maßnahmen und Vorschriften ergänzten und damit vermutlich abzusichern versuchten.
Zur Irrlehre der Kolosser, Methode der Widerspiegelung (reflexio/antanaklasis: vom Gesprächspartner bzw. Gegner verwendete Begriffe werden aufgenommen und in leicht veränderter Bedeutung verwendet) und Redaktionsgeschichte in Kol 2,6-23 siehe P. Garuti 2002, 303-326.
J. D. G. Dunn 1995, 153-181 gibt zunächst einen Überblick über die neueren Thesen, wer denn die Irrlehrer des Kol sein mögen. In den 1960er Jahren sei großenteils die Meinung vertreten worden, wir hätten es mit einer Form jüdisch-gnostischem Synkretismus zu tun. Es sei in dieser Zeit die Annahme populär gewesen, dass der Kol die gnostische Soteriologie/Christologie der Häretiker durch eine radikalere gnostische Soteriologie/Christologie kontere. Mit den von F. O. Francis vorgebrachten Gegenargumenten habe sich jedoch das Pendel zurück zur Annahme bewegt, dass die Lehre der Häretiker spezifisch jüdisch sei. Im Detail bestehe unter den Exegeten jedoch weiter Uneinigkeit. J. D. G. Dunn vertritt selbst die These, dass es sich bei der kolossischen Philosophie um eine Art jüdischer Mystik handele.
R. A. Argall 1987, 6-20 setzt sich kritisch mit der 1974 von F. O. Francis und A. J. Bandstra vorgebrachten These auseinander, dass es sich bei den Irrlehrern in Kolossä um jüdische Apokalyptiker gehandelt habe, die sich einer strengen Askese unterzogen hätten, um einen mystischen Anteil an der himmlischen Liturgie der Engel zu erlangen. A. J. Bandstra habe die These insofern weitergeführt, als er aus den jüdisch-apokalyptischen Texten eine Polemik gegen jegliche göttliche Hypostase (Weisheit, Logos oder Geist) herausliest, der eine mittelnde Funktion bei dem Schöpfungs- und Erlösungswerk Gottes beigemessen worden sei. R. A. Argall stellt die These und die Deutung der Polemik infrage. Ergebnis: Die Irrlehre in Kolossä habe eher in der Welt der hellenistischen Mysterienreligionen ihren Ursprung als in der jüdischen Apokalyptik.
R. E. DeMaris 1994 geht der Frage nach, welche Religion oder Weltanschauung der kolossischen "Philosophie" zugrunde liegt. Ergebnis: Weder lasse sich die "Philosophie" einfach als jüdisch oder heidnisch charakterisieren, noch könne von Synkretismus gesprochen werden, ohne die spezifische Zusammenstellung der einzelnen Elemente der "Philosophie" erklären zu können. Vielmehr sei von einer Philosophie auszugehen, die Heiden mit einer Neigung zur Philosophie erst zur jüdischen und dann zur christlichen Gemeinschaft zog, indem sie Gedankengut und Praktiken bot, die mit den beiden Glaubensgemeinschaften in Einklang zu bringen waren. Wesentlich für die kolossische Philosophie seien das Streben nach göttlicher Erkenntnis oder Weisheit durch die Ordnung der kosmischen Elemente (2,8.20), eine körperliche Enthaltsamkeit, die den untersuchenden Geist des Menschen freisetzt (2,18.23), sowie Mittler zwischen Himmel und Erde (Engel oder Dämonen; 2,18). Diese Punkte seien für den Mittelplatonismus der ntl. Zeit charakteristisch. Zugleich lasse der Kalender (2,16) sowie die Betonung der Demut (2,18.23) jüdische und christliche Einflüsse erkennen.
Als eine Antwort auf die kynische Philosophie liest T. W. Martin 1996 den theologischen und ethischen Inhalt des Kol. Die Verbote bezüglich vergänglicher Konsumwaren und die Ansicht, dass sich Demut in der Schonungslosigkeit gegenüber dem Leib statt in der Achtung anderen Menschen gegenüber zeige, seien in der griechisch-römischen Welt nur den Kynikern eigen gewesen. Diese beiden Charakteristika seien ausreichend, um die Gegner des Paulus als Kyniker identifizieren zu können.
Laut R. Yates 1986, 49-68 werde oftmals die Irrlehre des Kol als markantes Beispiel für "Gnostizismus" angesehen, wie er im NT verschiedentlich von den kanonischen Autoren zurückgewiesen werde. R. Yates merkt kritisch an, dass der Gnostizismus nicht vor dem 2. und 3. Jh. eine systematische Ausarbeitung erfahren habe. Tatsächlich sei die im Kol angesprochene Irrlehre ein unklareres und weiter gefassten Phänomen als der Gnostizismus.
W. C. Vergeer 1994, 1-23 geht dem sozio-historischen und philosophischen Hintergrund der kolossischen Irrlehre nach. Ergebnis: Bei der Irrlehre habe es sich wohl um den Versuch einiger Gemeindeglieder gehandelt, als philosophische Schule soziale Identität zu finden. Die Irrlehre gründe vermutlich auf der Kosmologie des Empedokles; der wahrscheinlichste philosophische Kontext sei die eklektische Philosophie des Stoikers Posidonius von Apamea. Von kosmologischen, anthropologischen und theologischen Parallelen ausgehend überträgt W. Vergeer 1995, 413-442 die Strategie und Botschaft des Kol auf den heutigen Kontext der New Age - Bewegung, die Ähnlichkeiten mit der Irrlehre aufweise.
Bei der Durchsicht verschiedener Thesen, um wen es sich bei den Irrlehrern des Kol gehandelt haben könnte, kommt M. Sokupa 2012, 72-89 zu dem Schluss, dass durchgehend jüdische Elemente dominierten, selbst bei den Gelehrten, die die Meinung vertreten, dass die Irrlehrer synkretistisch oder kynisch geprägt gewesen seien. Diese Elemente wiesen - als Gesamtheit gesehen - stark auf einen jüdischen Hintergrund hin. Dementsprechend passten alle in Kol 2,16 erwähnten Kalenderelemente zur jüdischen Tradition, zur in V. 17 folgenden Argumentation und zum rituellen Kontext des gesamten Briefes. Die Warnungen in 2,4.8.16.18 könnten verschiedene Gruppen repräsentieren und legten nahe, dass die in 2,18-23 implizit erwähnten Irrlehrer eine apokalyptisch-jüdische Gruppierung sind. Diese Gruppierung könnte der Qumrangemeinschaft angehören oder dieser zumindest ähneln.
L. Hartman 1995, 25-39 stellt zunächst Hinweise zusammen, die im Kol auf einen Minderheitenstatus der "Philosophen" schließen lassen. Dann versucht er deren Ideologie zu beschreiben und geht auf das Verhältnis dieser "mächtigen Minderheit" zur Mehrheit ein, bevor er sich mit den Einstellungen der Mehrheit der Minderheit gegenüber befasst.
J. Sumney 1993, 366-388 geht es weniger darum, eine ganz eigene These vorzustellen, wer denn die kolossischen Irrlehrer seien, als eine möglichst belastbare Methode zu bieten, anhand derer sich eine fundierte These entwickeln lässt. Die vorgeschlagene Methode konzentriere sich auf den Primärtext als solchen und begrenze strikt den Beitrag von Parallelen außerhalb des Kol. J. Sumney mache zwei Arten Bewertungen von Aussagen des Briefes: Die erste schätze ab, wie sicher wir sein können, dass sich eine Aussage tatsächlich auf die Irrlehrer bezieht; die zweite frage, wie zuverlässig eine Aussage ist. Zur Anwendung der beiden Bewertungsarten sei es notwendig, zwischen ausdrücklichen Aussagen über Irrlehrer, Anspielungen auf sie und Aussagen, die sich möglicherweise an die Irrlehrer richten, zu unterscheiden. Auch seien verschiedene Typen des Kontextes zu unterscheiden. Anhand dieser Methode kommt J. Sumney zu dem Ergebnis, dass die Christen in Kolossä von asketischen Visionären durcheinander gebracht worden seien. Diese asketischen Visionäre hätten sich für ihre Visionen des Mittels der Askese bedient. Sie hätten nicht die Engel verehrt, jedoch bei ihrer visionären Meditation am Kult der Engel teilgenommen. Paulus lehne nicht die Askese der Visionäre an sich ab, sondern beklage sich, dass sich auch Andere an die asketischen Vorschriften halten müssen und bei Nichteinhaltung verurteilt werden.
Zur Eschatologie im Kol siehe H. Lona 1984, 83-240, der sich auf S. 192-232 mit der kolossischen Häresie befasst. Die kolossische Irrlehre vertrete einen religiösen Rigorismus, der sich in einigen Vorschriften niederschlage. Religionsgeschichtlich lasse sich der jüdische Einfluss feststellen, ohne dass die Häretiker mit den Judaisierenden von Galatien gleichzusetzen wären. Es handele sich um jüdisches Erbe, das in Kleinasien weit verbreitet gewesen sei, auch in heidnischen Kreisen. Der Drang zum Rigorismus, der durch eine "Philosophie" untermauert gewesen sei, erkläre sich durch die Tendenz der heidnischen Religion in Phrygien und Umgebung. Die Kolosser seien eine überwiegend heidnische Gemeinde (vgl. 2,13).
T. W. Martin 1996, 105-119 meint, dass die Listen in Gal 4,10 und Kol 2,16 nicht – wie oft angenommen – Parallelen hinsichtlich Inhalt und Funktion seien. Aus der vermeintlichen Parallelität würden (von J. B. Lightfoot in seinem Kommentar) falsche Schlüsse gezogen: Der Inhalt der Liste Gal 4,10 stelle eine Liste jüdischer kalendarischer Zeiten dar, weil auch Kol 2,16 als eine derartige Liste anzusehen sei. Und: Die Liste in Kol 2,16 habe die Funktion, die nichtchristlichen Praktiken der Gegner zu beschreiben, weil die Liste in Gal 4,10 eindeutig ein nichtchristliches Zeitschema sei, das zurückzuweisen sei. T. W. Martin dagegen vertritt die Ansicht, dass der Inhalt der Liste in Kol 2,16 eindeutig jüdisch sei, wogegen die Liste in Gal 4,10 entweder jüdisch oder heidnisch sein könne. Hinsichtlich der Funktion beschreibe die Liste in Gal 4,10 einen Kalender, der von Paulus eindeutig abgelehnt werde, wogegen die Liste in Kol 2,16 einen Kalender darstelle, der nicht so einfach von den paulinischen Gemeinden getrennt werden könne. H. R. Cole 2001, 273-282 knüpft kritisch an die These von T. W. Martin 1996, 105-119 an, dass Kol 2,16 die Kolosser deswegen kritisiere, weil sie den jüdischen Kalender weiterhin befolgten, nicht deswegen, weil sie ihn nicht mehr befolgten. Und dass Gal 4,10 die Galater deswegen kritisiere, weil sie sich den heidnischen Kalender zu eigen gemacht hätten, nicht weil sie den jüdischen Kalender angenommen hätten. Die traditionelle Annahme, dass in beiden Texten die fortgesetzte Beachtung des jüdischen Kalenders kritisiert werde, sei also nicht haltbar. H. R. Cole ist der Meinung, dass die in Kol 2,16 erwähnten Praktiken vom Verfasser des Kol negativ beurteilt würden. Es handele sich nicht um die Praktiken der kolossischen Christen, sondern um die Praktiken der Irrlehrer. Und in Gal 4,10 würde die fortgesetzte Befolgung des jüdischen Kalenders seitens der galatischen Christen als geistiges Äquivalent zum abgelegten Heidentum angesehen. Trotz dieses Befundes sollten beide Verse nicht im Sinne einer vollständigen Ablehnung des gesamten jüdischen Kalenders verstanden werden.
T. C. G. Thornton 1989, 97-100 deutet Kol 2,16 wie folgt: Sowohl die Juden als auch die Heiden seien dem Mond und der Sonne dienstbar gewesen. Juden seien von beiden Gestirnen im Hinblick auf die Festlegung der kalendarischen Daten abhängig gewesen, viele Heiden hätten sie als göttliche Wesen verehrt. Mit dem Kommen Christi hätten für Juden und Heiden jedoch Sonne und Mond an Bedeutung verloren, weil der jüdische Kalender nicht mehr die frühere Rolle spielt und die Heiden sich von ihren Göttern losgesagt haben. Wenn sich nun aber Heidenchristen der Beobachtung des Neumonds und der Befolgung des jüdischen Kalenders hingeben, dann gäben sie sich einer Sache hin, die ihrem früheren Heidentum gleicht. Der Mond und die Sonne gehörten zu den „Elementen der Welt“, von denen die Christen befreit sind.
Mit der Bedeutung des Begriff "sabbatôn" ("Sabbat[e]") in Kol 2,16 setzt sich P. Giem 1981, 195-210 auseinander. Die Bedeutung sei unter den Exegeten umstritten: Die einen sähen darin ein grundsätzliches Verbot des Sabbathaltens, einschließlich desjenigen am ersten Tag. Andere sagten, dass es keine Verbindung zwischen dem Wort "sabbatôn" in diesem Vers und dem Sabbat am siebten Tag gebe, sich das Wort also auf die zeremoniellen Sabbate beziehe. Andere wiederum glaubten, dass sich das Wort nur auf bestimmte Aspekte des Sabbats beziehe und nicht die Aufgabe des Sabbats an sich gefordert werde. Wieder andere verträten die Ansicht, dass es um einen Sabbat gehe, der mit hoher Wertschätzung der "Elemente der Welt" (V. 8.20) verbunden ist. Die größte Gruppe der Exegeten schließlich sehe einen Bezug zum Sabbat am siebten Tag, ohne zu konkretisieren, ob darüber hinaus jeglicher Sabbat abgelehnt wird. P. Giem bietet eine andere Erklärung: Es seien die Opfer des Sabbats am siebten Tag im Blick, wie sie im AT von Num 28,9-10 vorgeschrieben würden. Diese wiesen auf Christus hin und seien nach dessen Tod für die Christen nicht mehr maßgeblich.
Zu den Fragen, bezüglich welcher Dinge und aus welchen Gründen kein Mensch einen Christen zu richten hat, siehe E. Reynolds 2009, 211-227. Der Aufsatz geht auf die Aussageabsicht des Paulus in Kol, den engeren Zusammenhang von 2,16-17, den Inhalt von 2,16 (Feste, Neumonde, Sabbate), den folgenden Zusammenhang und auf die Schlussfolgerungen für Theologie und Praxis ein. Ergebnis: Niemand dürfe einen Christen nach äußerlichen Vorschriften urteilen.
Mit dem christlichen Leben gemäß dem Kol befasst sich H. W. House 1994, 440-454. Zu 2,11-23: Weil die Gläubigen in Christus, der ihnen die Sünden vergeben hat, seien, sollten sie einen heiligen Lebenswandel führen. Sie sollten sich von allen Regeln freimachen, die auf irdischen Prinzipien beruhen, wie sie von den Irrlehrern zugrunde gelegt würden.
Zur Zeitlosigkeit der zentralen theologischen Aussagen von Kol 2,6-19 siehe H. D. Hayes 1995, 285-288.
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Beobachtungen: Wenn eine Lichtquelle in Richtung eines Gegenstandes oder einer Person Licht aussendet und die Lichtstrahlen den Gegenstand oder die Person nicht durchdringen können, dann entsteht hinter dem Gegenstand oder hinter der Person ein Schatten. Dieser Schatten hat - je nach Position der Lichtquelle mehr oder weniger verzerrt - die Form des Gegenstandes oder der Person. Der Schatten lässt zwar den Gegenstand oder die Person erahnen, ist aber nicht mit dem Gegenstand oder der Person identisch und ist auch nicht greifbar. Wenn Speise, Trank, und bestimmte Fest- und Feiertage wie Neumond oder Sabbat Schatten des Kommenden sind, dann lassen sie dieses zwar erahnen, sind jedoch nicht mit ihm identisch. Außerdem ist ein Schatten dunkel, weil er sich da befindet, wo die Lichtstrahlen nicht hinkommen. Wenn das Kommende also mit Licht verbunden ist, dann fehlt dem Schatten dieses Licht. Licht und Heil gehen in der biblischen Bildsprache miteinander einher. Das bedeutet, dass das Befolgen von Geboten, die sich auf Speise, Trank, und bestimmte Fest- und Feiertage wie Neumond oder Sabbat beziehen, zwar nicht unbedingt schlecht ist, aber keinerlei Relevanz für das Heil des Menschen hat.
Es bleibt offen, was das Kommende - genau genommen ein Plural: die kommenden Dinge - ist. Es lässt sich streng genommen nur sagen, dass es noch nicht da ist. Das Kommende gehört - im Gegensatz zu Speise und Trank und Fest- und Feiertagen - nicht dem Irdischen an, sondern dem Jenseits. Das Irdische dürfte vergänglich sein, das Jenseits unvergänglich.
Es stellt sich die Frage, ob es der Leib ist, der Schatten wirft und das Kommende ist. Wenn der Leib die Kirche ist (vgl. 1,18.24), dann lassen die Speise und Trank und Fest- und Feiertage betreffenden Gebote die Kirche nur erahnen. Die Kirche wäre dann das Kommende, wobei die jetzige Kirche nur vorläufig wäre und erst im kommenden Jenseits wahre Kirche würde. Wahrscheinlicher als diese Deutung ist jedoch eine andere: Vermutlich schärft die Aussage "der Leib aber ist (des) Christi eigen" ein, dass die Gemeinschaft der Christen, also die Kirche, der auch die Adressaten angehören, Christus eigen ist. Sie hat sich mit der Taufe zu ihm bekannt und ist in seinen Macht- und Heilsbereich eingetreten und empfängt das Heil von ihm. Das drückt das Bild von der Kirche als Leib, dessen Haupt Christus ist, aus. In V. 19 geht der Verfasser des Kol auf dieses Bild genauer ein. Bei dieser Deutung wäre das "Kommende" nicht mit der zukünftigen, wahren Kirche gleichzusetzen, sondern es bliebe offen, was genau das "Kommende" ist.
Weiterführende Literatur: Im Kol werde gemäß A. de Oliveira 1999, 72-103 hervorgehoben, was sich in den unumstrittenen Paulusbriefen durchgängig auspräge: "die Bindung des Christen an Christus, durch die Christus zum Mittelpunkt des christlichen Lebens wird". Im Kol sei nicht nur der Inhalt, sondern auch die literarische und rhetorische Disposition des Briefes davon bestimmt. Durch die Passagen, die mit einem bis dahin unbekannten Nachdruck von Christus als dem göttlichen Herrscher sprechen, sei die gesamte Argumentation des Briefes so aufgebaut, dass man von einer Christozentrik auch in literarischer und pragmatischer Perspektive sprechen könne. Dies zeige die gebotene, überwiegend synchrone Analyse der literarischen und rhetorischen Struktur des Briefes. Der Analyse schließt sich eine Darstellung der verschiedenen Bereiche der Christozentrik an, die vom Sitz im Leben des Briefes ausgehend speziell das Verhältnis zu den paulinischen Zeugnissen berücksichtigt.
Gemäß W. C. Vergeer 1994, 379-393 werde in Kol 2,17 die Beziehung zwischen den Regeln und Bestimmungen einer häretischen "Philosophie" ("philosophia") und dem christlichen Leben mit den Begriffen "Schatten" ("skia") und Realität ("sôma") beschrieben. Der Gebrauch der Schatten-Realität-Metapher geschehe nicht unbedacht, sondern leite sich von einer damals bekannten Strategie der Kontextualisierung her - einer Strategie, die darauf abgezielt habe, die Beziehung zwischen Schein und Realität zum Ausdruck zu bringen. Es werde davon ausgegangen, dass diese Strategie ihren Ursprung im Höhlengleichnis des Platon habe. W. C. Vergeer vergleicht anhand des verwendeten Vokabulars, der Konzepte und Strategie Platons Höhlengleichnis mit dem Kol. Er kommt zu dem Schluss, dass die vorliegende Strategie der Kontextualisierung eine geeignete Herangehensweise in der heutigen multikontextuellen Realität verspreche.
Mit dem "Leib" im Kol befasst sich J. D. G. Dunn 1994, 163-181. Folgende fünf Bedeutungen kämen dem "Leib" zu: a) der Leib, die Kirche (1,18.24; 2,19; 3,15; S. 164-167); b) der fleischliche Leib (1,22; 2,11.23; S. 167-173); c) der kosmische Leib (1,18 ursprüngliche Fassung; 2,9; S. 173-177); d) der eschatologische Leib (2,17; S. 177-178); e) der Leib Christi (S. 178-181). Die ersten vier Bedeutungen seien im Zusammenhang zu sehen, überlappten sich und ergäben zusammen eine Theologie des Leibes Christi.
T. W. Martin 1995, 249-255 kommt bei einer Analyse der Grammatik und Syntax des Satzes "to de sôma tou Christou" ("der Leib aber ist [des] Christi") zum Ergebnis, dass die in V. 16 erwähnten Praktiken diejenigen der kolossischen Christen und nicht diejenigen der Irrlehrer seien. Das Essen und Trinken in Verbindung mit der christlichen Eucharistie lasse bereits die zukünftigen Realitäten erahnen (= "Schatten"). Auch wenn es bezüglich der Beachtung des Neumondes weniger sicher sei, so könne doch angenommen werden, dass die frühen Christen sowohl die Feste als auch die Sabbate einhielten. Habe es sich bei den in V. 16 erwähnten Praktiken um diejenigen von Christen gehandelt, dann sei ebenfalls anzunehmen, dass es sich bei der Demut und Engelverehrung in V. 18 ebenfalls um Praktiken der Christen handelt.
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Beobachtungen: Die Warnung in 2,18 ist die vierte einer Serie von fünf die Lehren von Irrlehrern betreffenden Warnungen (die anderen vier Warnungen finden sich in 2,4.8.16.20-21).
Das Verb "katabrabeuein" ("den Siegespreis absprechen") findet sich im NT nur hier. Das Verb bezieht sich auf ein "brabeion", also auf einen "Siegespreis". Diesen Begriff aus der Welt des Sports und speziell des Wettrennens benutzt Paulus in 1 Kor 9,24 und Phil 3,14 für den Lohn, den ein Mensch für seinen rechten christlichen Glauben und Dienst für Christus zu erwarten hat. Auch der Verfasser des Kol macht sich dieses Bild vom Sieg bei einem Wettrennen zu eigen. In 2,18 geht es nun darum, dass Menschen, die schnell laufen oder schnell gelaufen sind, d. h. ein Leben im rechten Glauben führen oder geführt haben, der Siegespreis abgesprochen wird. Die Irrlehrer behaupten also, dass das christliche Leben, das die Adressaten des Kol bisher geführt haben, nicht das rechte sei. Stattdessen kommen sie mit eigenen Lehren und Forderungen und behaupten, diese seien für das rechte Leben eines Gläubigen notwendig. Dabei bleibt offen, ob sie sich selbst als rechtgläubige Christen ansehen, oder ob sie auf das Christentum nicht so viel Wert legen und stattdessen eine andere Religion predigen. Diese kann sich aus Elementen verschiedener Religionen, darunter auch des Christentums, zusammensetzen. Sicher können wir nur sagen, dass der Verfasser des Kol seine Konkurrenten als Irrlehrer ansieht, die einen vom rechten christlichen Glauben abbringen.
Die "Demut" ("tapeinophrosynê") ist eigentlich eine gute Charaktereigenschaft. In Phil 2,3 ermahnt Paulus die Christen in Philippi denn auch, sich in Demut gegenseitig zu achten. In 2,18 geht es jedoch um eine falsche Demut. Es geht nicht um Demut Christus oder den christlichen Glaubensgenossen gegenüber, sondern es geht um eine eng mit der Verehrung von Engeln verbundene Demut. Die Verehrung von Engeln sieht der Verfasser des Kol als nicht mit dem rechten christlichen Glauben vereinbar an. Angesichts der Tatsache, dass sich Demut schlecht mit der Aufgeblasenheit, dem Gefühl der Überlegenheit gegenüber anderen Menschen, verträgt, kommt hier eine gewisse Ironie in den Blick. Allerdings ist unklar, ob der Wortwahl des Verfassers des Kol tatsächlich ironische Aussageabsicht zugrunde liegt.
Der Genitiv "Verehrung der Engel" kann zunächst einmal so verstanden werden, dass die Engel verehren. Wen oder was sie verehren, bliebe bei dieser Deutung offen, aber am ehesten wäre an Gott zu denken. Es würde sich dann um einen Gottesdienst der Engel handeln. Allerdings werden in V. 18 keine Aussagen über die Engel, sondern nur über die Irrlehrer gemacht. Zwar ist nicht unmöglich, dass diese einen Gottesdienst durchführen, der ein Abbild des Gottesdienstes der Engel ist und vielleicht die Anwesenheit von Engeln annimmt oder erfleht, jedoch ist eine andere Deutung wahrscheinlicher: Die Irrlehrer verehren Engel.
Das Verb "ethelô / thelô" bedeutet "wollen", "mögen" oder "freiwillig etwas tun". Das Partizip "thelôn" bedeutet also "wollend", "mögend" oder "freiwillig". Das Partizip bezieht sich vermutlich auf die Demut und Engelverehrung, d. h. die Irrlehrer, vor denen gewarnt wird, wollen Demut und Engelverehrung. Nun macht V. 18 aber nicht nur Aussagen darüber, was die Irrlehrer wünschen, sondern gibt auch das (angebliche) Wesen der Irrlehrer wieder. Das bedeutet, dass ihnen selbst Demut und Engelverehrung gefällt und sie freiwillig demütig sind und die Engel verehren. Dabei macht V. 18 aber keine neutralen oder gar positive Aussagen über die Irrlehrer, sondern negative. Schließlich tun und wünschen, ja fordern sie etwas, was von Christus wegführt. Berücksichtigt man die (angebliche) Aufgeblasenheit der Irrlehrer, von der ebenfalls in V. 18 die Rede ist, dann legt sich hier für das Verb "ethelô / thelô" die Übersetzung "sich gefallen" und für das Partizip "thelôn" die Übersetzung "sich gefallend" nahe. Die unmittelbar auf das Partizip folgende Präposition "en" gibt an, worin sich die Irrlehrer laut dem Verfasser des Kol gefallen: Sie gefallen sich in Demut und Engelverehrung.
Bei der Verbform "heoraken", die mit "er hat gesehen" zu übersetzen ist, handelt es sich um ein Perfekt. Dieses zeigt an, dass das Sehen zwar in der Vergangenheit erfolgt ist, dessen Folgen aber für die Gegenwart von besonderer Bedeutung sind. Allerdings bleibt offen, was die Irrlehrer gesehen haben. Es wird nur ausgesagt, dass sie dies "embateuôn" getan haben.
Das Verb "embateuô"" bedeutet "hineingehen", "betreten", "einen Besitz antreten" oder "innehaben". Die Formulierung "ha heoraken embateuôn" ist somit wörtlich mit "was er hineingehend / betretend / einen Besitz antretend / innehabend" zu übersetzen. Doch was haben die Irrlehrer betreten? Oder: Was für einen Besitz haben sie angetreten? Oder: Was haben sie innegehabt? Man kann an ein Gebäude denken, in das sie hineingegangen sind bzw. das sie betreten haben. Dort hätten sie etwas gesehen, was für die Gegenwart besondere Bedeutung hat. Weil das Gebäude nicht weiter bestimmt wird, ist am ehesten an einen Tempel zu denken. Der Tempel ist ein religiöser Ort, der Wohnsitz eines Gottes bzw. von Göttern. Hier kann sich am ehesten etwas ereignen. Das Ereignis ist das Sehen. Dabei geht es wohl nicht nur einfach um das Sehen mit den Augen, also um das Sehen eines Raumes oder einer Götterstatue, denn dann würde sich die Frage stellen, was dieses Sehen für eine besondere Bedeutung für die Gegenwart haben sollte. Es ist davon auszugehen, dass das Sehen die Sehenden verändert hat und diese Veränderung das gegenwärtige Leben derjenigen, die gesehen haben, verändert haben. Eine solche Veränderung dürfte am ehesten bei einer geistigen Schau, bei einer Vision, geschehen sein. Hervorragendes Beispiel für eine solche Veränderung durch eine Vision ist Paulus selbst, der Jesus Christus geschaut hat und so vom Christenverfolger zum berühmtesten Missionar geworden ist. Auch die Irrlehrer haben vermutlich eine Vision gehabt, wobei sie diese beim Betreten eines Tempels gehabt haben könnten. Aber wieso sollten die Irrlehrer beim Betreten eines Tempels plötzlich eine Vision gehabt haben? Hat der Tempel eine dermaßen starke religiöse Ausstrahlung auf die Irrlehrer ausgeübt? Oder war es gar nicht der Tempel selbst, der zur Vision geführt hat? Ist das Eintreten bzw. Betreten vielleicht bei einem rituellen Ereignis geschehen? Es könnte sich um eine Vision bei einer gemeinsamen religiösen Versammlung gehandelt haben, wobei diese in einem Tempel oder anderem Gebäude stattgefunden haben kann, aber nicht muss. Diese Versammlung könnte selbst eine ganz bestimmte Funktion gehabt haben, nämlich Anwesende - die Irrlehrer - in einen bestimmten Stand zu versetzen. Es könnte sich um eine Einweihung in bestimmte religiöse Geheimnisse, wie sie den Mysterienreligionen eigen waren, gehandelt haben. Die Irrlehrer wären also in eine Welt der religiösen Geheimnisse eingetreten und wären über diese aufgeklärt worden. Sie hätten damit diese religiösen Geheimnisse gleichsam in Besitz genommen. Diese Einweihung könnte mit einem speziellen Ritus, einer Weihe, nach außen hin deutlich gemacht worden sein. Die Geweihten hätten demnach Kenntnisse über anderen Menschen verborgene religiöse Geheimnisse inne, was ein besonderes Selbstbewusstsein und auch Sendungsbewusstsein anderen Menschen gegenüber mit sich bringen könnte. Die anderen Menschen wären in dem vom Verfasser des Kol angesprochenen Fall die Adressaten des Kol.
Das Adverb "eikê" kann "aufs Geratewohl", "grundlos" oder - insbesondere im NT - "vergebens" bedeuten. In Kol 2,18 liegt wohl die Bedeutung "grundlos" vor. Dabei steht gewöhnlich das Bezugswort hinter "eikê", nicht davor. Folglich dürfte sich "eikê" auf "physioumenos"("aufgeblasen") beziehen, also die Aufgeblasenheit grundlos sein, nicht aber das Schauen bei der Weihe oder die Weihe an sich.
Die Formulierung "hypo tou noos tês sarkos autou" ist wörtlich mit "von der Gesinnung seines Fleisches" zu übersetzen. Dabei hat nicht das Fleisch der Irrlehrer eine Gesinnung, sondern es sind die Irrlehrer, die (angeblich) eine Gesinnung des Fleisches, d. h. eine fleischliche Gesinnung haben.
Was ist nun unter dieser "fleischlichen Gesinnung" zu verstehen? Die Genitivverbindung "Gesinnung seines Fleisches" dürfte eine sprachliche Eigenheit des Verfassers des Kol sein. In den paulinischen Briefen hat der Begriff "sarx" ("Fleisch") verschiedentlich eine negative Bedeutung und wird mit Vergänglichkeit und leiblichen Begierden in Verbindung gebracht (vgl. 1 Kor 15,50; Röm 13,14 u. a.). Auch in Kol 2,18 liegt eine negative Bedeutung vor. Dabei wird aber nicht gesagt, was denn genau unter einer "fleischlichen Gesinnung" zu verstehen ist. Es wird nur deutlich, dass es eine Gesinnung ist, die sich nicht an Christus hält, sondern von diesem wegführt. Wohin sie führt, hatte allerdings schon Kol 2,8 den Adressaten vor Augen geführt: Sie führt zu Philosophie und leerem Trug, die auf Überlieferung der Menschen, auf den Elementen der Welt beruhen, nicht aber auf Christus. In diesem Lichte gelesen, könnte "fleischlich" die Menschlichkeit, die Vergänglichkeit und die Nichtigkeit der Gesinnung meinen. Eine zentrale Bedeutung dürfte den "Elementen" zukommen, die dem Irdischen zugeordnet und ebenfalls vergänglich sind. Darüber sind sie auch nichtig, weil sie für die Menschen, speziell auch für die Christen, keine Quelle des Heils sind. Ob der Begriff "Fleisch" in Kol 2,18 auch körperliche Gelüste beinhaltet, muss offen bleiben. Das dürfte dann der Fall sein, wenn der Verfasser des Kol die "fleischliche Gesinnung" mit Heidentum in Verbindung bringt, denn dieses ist in seinen Augen mit allen Schlechtigkeiten verbunden (vgl. Beobachtungen zu 2,13).
Weiterführende Literatur: Zur Wettkampfmetaphorik siehe B. Heininger 2009, 65-73.
Mit der Bedeutung des Verbs "katabrabeuein" in V. 18 befasst sich K. L. Yinger 2003, 138-145. Folgende Deutungen - teils verschiedene miteinander vermengt - seien bisher von den Auslegern vorgebracht worden: a) einen Preis rauben/wegnehmen; b) einen Preis ungerechtfertigt erlangen; c) disqualifizieren; d) verurteilen; e) schädigen/schlecht behandeln/schikanieren. Die Deutungen a und b setzten Wettkampfmetaphorik voraus, die Deutung c könne sich auf den Wettkampf beziehen, müsse es aber nicht, und die Deutung d nehme einen forensischen Hintergrund an. In neuester Zeit werde mehr oder weniger Wettkampfmetaphorik angenommen. Laut K. L. Yinger meine "katabrabeuein" in Texten ohne Bezug zu Kol 2,18 immer "schädigen" oder "schikanieren". In forensischen Texten sei damit gemeint, dass einer die Verurteilung des anderen sucht, in nichtforensischen Texten gehe es um die Machtergreifung über oder gegen jemanden. Bei den christlichen Auslegern von Kol 2,18 lasse sich ein ausgeprägtes Bewusstsein für eine dem Verb zugrunde liegende Wettkampfmetaphorik feststellen, ohne dass andere Bedeutungen außer acht gelassen werden. Die Betonung der Wettkampfmetaphorik gründe jedoch auf der Etymologie des Verbs, die bei der Ergründung der Bedeutung des Verbs zwar hilfreich sein könne, aber nicht notwendigerweise den Sinn im vorliegenden Vers wiedergebe. Der Kontext des V. 18 lasse die Bedeutungen "schädigen", "schikanieren", "Nutzen ziehen aus / ausnutzen" oder auch "anklagen" annehmen. Dieser Befund bezüglich der Bedeutung des Verbs "katabrabeuein" lasse darauf hoffen, dass sich in Zukunft der Blick verstärkt auf die genannten Bedeutungen abseits der Wettkampfmetaphorik verlagert.
J. Kok 2010, 1-7 legt dar, dass die Mehrheit der Exegeten davon ausgehe, dass die Irrlehrer die Verehrung von Engeln propagierten. Dies sei durchaus möglich, wenn man die Formulierung "thrêskeia tôn angelôn" als genitivus obiectivus (= die Engel sind nicht Subjekt der Verehrung, verehren also nicht selbst, sondern sind Objekt, werden also verehrt) versteht. J. Kok geht darauf ein, welche Rolle Engel in bestimmten Kreisen der frühen Kirche spielten. So seien sie beispielsweise als Mittler der Offenbarung angesehen worden.
H. W. Attridge 1994, 481-498 geht davon aus, dass der Kol wohl nicht auf einen Mangel an Christuszentrierung bei den Gegnern anspiele. Die Gegner seien durchaus christuszentriert, wobei sie Christus jedoch als Obersten der Welt der Engel, zu denen die Taufe Zugang erlaube, ansähen. Die Betonung der Aussagen des Verfassers des Kol liege auf der Notwendigkeit der Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung.
Laut E.-M. Becker 2015, 178-184 biete der Kol eine äußerst differenzierte Sicht auf den paulinischen Begriff der Demut. In Kol 3 werde der paulinische Begriff in einen Katalog von insgesamt fünf Tugenden integriert, neben denen rechte christliche Demut zu stehen komme. In Kol 2 hingegen setze sich der Verfasser kritisch mit dem möglichen Missbrauch der Demut im Blick auf die Befolgung kultischer Forderungen auseinander. Damit greife der Verfasser den frühchristlichen Diskurs über die Ambivalenzen der Demut auf, der schon in Röm 12,16 angeklungen sei.
C. E. Arnold 1996 legt in seiner ausführlichen Studie dar, dass die Lehre der Gegner des Paulus tief im lokalen phrygisch-lydischen Volksglauben verankert sei.
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Beobachtungen: Betrachtet man das Bild vom Körper, wie es sich in V. 19 findet, so ist festzustellen, dass es wenig mit den biologischen Tatsachen zu tun hat: Natürlich gibt es die erwähnten Gelenke und Bänder, aber sie gehen nicht vom Kopf aus und dienen erst recht nicht der Versorgung des Leibes. Vielmehr verbinden Gelenke zwei Knochen miteinander und sorgen für Stabilität und Beweglichkeit. Die Sehnen und Bänder, die V. 19 nicht zu unterscheiden scheint, dienen an unseren Gelenken dazu, den Körper zu halten und zu bewegen. Zusammen mit den Knochen, Muskeln und Gelenken bilden sie den Stütz- und Bewegungsapparat des Menschen.
Die Diskrepanz zu den biologischen Tatsachen kann man mit Unkenntnis des Autors des Kol erklären oder auch damit, dass es ihm nicht um eine Beschreibung biologischer Sachverhalte ging, sondern um eine bildliche Darstellung theologischer Sachverhalte.
Die zentrale theologische Aussage ist, dass der Leib - vermutlich ist die Kirche und vielleicht auch der gesamte Kosmos gemeint - nicht ohne das Haupt - vermutlich ist Jesus Christus gemeint - zu denken ist. Die entscheidende Bedeutung Jesu Christi im Hinblick auf Schöpfung, Sein, Versöhnung und Bestimmung von Kirche und Kosmos geht aus dem Christushymnus 1,15-20 hervor. Die "Gelenke und Bänder" sind vermutlich ein aus der Biologie übernommenes und zum "Haupt" und "Leib" passendes Bild für den Erhalt von Kirche und Kosmos. Dabei wird nicht genauer bestimmt, was - theologisch gesehen - genau die "Gelenke und Bänder" sind. Möglicherweise verbildlichen sie nur die Stabilität und Ordnung, wie sie der Kirche und dem Kosmos von Jesus Christus her eigen ist. Von dem Haupt Jesus Christus her wird der Leib auch versorgt, womit sein Wachstum ermöglicht wird.
Fraglich ist, wie das Partizip "epichorêgoumenon" zu übersetzen ist. Die Grundbedeutung des Verbs "epichorêgeô" ist "darbieten/reichen/gewähren" und im Passiv "Nahrung empfangen". Zu denken ist also an Versorgung, evtl. konkret die Versorgung des Leibes mit Nahrung, wie sie für sein Wachstum die Voraussetzung ist. Als Übersetzung des Partizips "epichorêgoumenon" legt sich also "(mit Nahrung) versorgt werdend" nahe. Gegen diese Bedeutung und Übersetzung spricht jedoch, dass die Erwähnung der Versorgung nach der Erwähnung des Zusammenhalts und somit unmittelbar vor dem Wachstum zu erwarten wäre. Außerdem erfolgt die Versorgung des Körpers mit Blut und Nährstoffen nicht durch die Gelenke und Bänder, sondern durch die Speiseröhre, Organe und Adern. Dies legt nahe, dass in Kol 1,19 eine andere Bedeutung des Verbs "epichorêgeô" vorliegt. Nur welche? Im Bewusstsein, dass das Substantiv "epichorêgia" "Beistand" und "Unterstützung" bedeutet, kann in diesem Vers für das Verb "epichorêgeô" die Bedeutung "(unter)stützen" erschlossen werden, womit das Partizip "epichorêgoumenon" mit "gestützt werdend" zu übersetzen wäre. Allerdings wäre eine solche Übersetzung ungewöhnlich. Fazit: Eine eindeutige Entscheidung ist nicht möglich. Vielleicht ist sie auch nicht sinnvoll, weil die Doppeldeutigkeit seitens des Verfassers des Kol beabsichtigt sein könnte.
Wenn die für das Wachstum erforderliche Versorgung des Leibes mit "Nahrung" bzw. "Nährstoffen" von dem Haupt Jesus Christus her geschieht, dann legt sich nahe, an die heilbringende Bedeutung von Christi Kreuzestod zur Vergebung der Sünden zu denken. Dieser ist die Grundlage von christlichem Glauben und Handeln und damit der beiden Grundfesten der Kirche. Wo christlicher Glaube und christliches Handeln gedeihen, da gedeiht auch die Kirche.
"Wachstum (des) Gottes" ist sicherlich nicht so verstehen, dass Gott selbst wächst. Das, was wächst, ist der Leib, also die Kirche. Der Genitiv "Gottes" dürfte auf den Urheber oder die Quelle des Wachstums, nämlich Gott, hinweisen. Er kann auch darauf hinweisen, dass das Wachstum gemäß Gottes Willen und Plan geschieht.
Weiterführende Literatur: Mit der besonderen Bedeutung der Partizipien in der argumentatio Kol 1,24-4,1 befasst sich unter syntaktischen und rhetorischen Gesichtspunkten L. Giuliano 2013, 293-317. Ihnen komme bei der Fortentwicklung des Gedankengangs eine entscheidende Rolle zu. Im ersten Abschnitt 1,24-2,5 konzentriere sich das wiederholte Auftreten der Partizipien insbesondere auf die Person des Apostels Paulus. Im zweiten Abschnitt 2,6-23 verschiebe sich der Schwerpunkt hin zu Christus und den Gläubigen.
Auf das Konzept der Kirche als „Leib Christi“ als Schlüsselelement der paulinischen Theologie geht J. L. Breed 1985, 9-32 ein, wobei die biblischen Schlüsseltexte (S. 26: Kol 2,16-23) und die Schlüsselbegriffe im Mittelpunkt stehen.
Gemäß N. Frank 2009, 364 zeige sich eine signifikante Umwidmung paulinischer Sprachlichkeit durch den Kol in erster Linie anhand der Hierarchisierung des Leibmotives durch Christus als Haupt des Leibes (statt wie bei Paulus als Leib).
Literaturübersicht
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