Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Kolosserbrief

Der Brief des Paulus an die Kolosser

Kol 4,7-9

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Kol 4,7-9



Übersetzung


Kol 4,7-9 : 7 Alles, was mich betrifft, wird euch Tychikus, der geliebte Bruder und treue Diener und Mitsklave im Herrn, mitteilen. 8 Ihn habe ich eben deshalb zu euch gesandt, damit ihr erfahrt, wie es um uns steht, und damit er eure Herzen tröste, 9 mit Onesimus, dem treuen und geliebten Bruder, der von euch ist; sie werden euch alles mitteilen, was hier [vor sich geht].



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V. 7


Beobachtungen: "Bruder" dürfte hier nicht im Sinne von "leiblicher Bruder" zu verstehen sein, sondern im Sinne von "Glaubensbruder". Der Verfasser des Kol und Tychikus sind also beide Christen und somit durch das Band des Glaubens "verwandtschaftlich" verbunden. In diesem geistlichen Sinne dürfte auch "geliebter" zu verstehen sein. Tychikus ist nicht nur ein Glaubensbruder, sondern auch ein Mitarbeiter des Paulus bzw. Verfassers des Kol, womit die beiden in besonderem Maße verbunden sind. Die Liebe wird als ein wesentliches Merkmal christlichen Umgangs - insbesondere des Umgangs der Christen untereinander! - verstanden. Romantische, erotische oder sexuelle Liebe kommt nicht in den Blick.


In V. 7 ist "pistos" ("treu/zuverlässig/gläubig") wohl nicht auf den Glauben, sondern auf die missionarische Tätigkeit des Tychikus zu beziehen. Das heißt, dass Tychikus ein treuer - d. h. zuverlässiger - Diener ist. Aber wessen Diener ist er? Am nächsten liegt es, "im Herrn" nicht nur auf "Mitsklave", sondern auch auf "Diener" zu beziehen. Tychikus wäre dann ein "Diener im Herrn" oder ein "Diener des Herrn", wobei der "Herr" sowohl Gott als auch Christus sein kann. Als "Diener im Herrn" oder "Diener des Herrn" ist er natürlich auch gläubig.


Tychikus wird als "Mitsklave im Herrn" bezeichnet, d. h. er ist nicht alleine ein Sklave, sondern er ist es mit anderen zusammen. Als weitere Sklaven kommen Paulus, Timotheus (als Mitverfasser des Kolosserbriefes; vgl. 1,1), Epaphras (vgl. 1,7) und/oder die anderen Christen in Kolossä oder sogar alle Christen infrage. Der "Herr" des Tychikus ist Gott oder Christus.

Der Titel „Herr“ gibt ein Herrschaftsverhältnis an: Der „Herr“ herrscht über seine Diener/Sklaven, die ihm bedingungslos zu dienen haben. Im Römischen Reich galt der Sklave als Sache. Der „Herr“ konnte also am Sklaven Willkür walten lassen. Allerdings erscheint Jesus Christus (oder: Gott) nicht als ein willkürlicher „Herr“, sondern vielmehr als einer, der seinen Sklaven für ihren Dienst Heil zukommen lässt. Der Sklave/Diener Jesu Christi (oder: Gottes) gehört also zu den sozial privilegierten Sklaven/Dienern. Der Aspekt der Gegenseitigkeit, wie er für das römische Klientelverhältnis typisch ist, spielt eine entscheidende Rolle: Der „Herr“ übt über seine Untergebenen (= Klienten) Macht aus, ist zugleich aber deren Schutzherr. Die Untergebenen wiederum sind dem „Herrn“ dafür zum Dienst verpflichtet. Die Christen befinden sich demnach also in der machtvollen Heilssphäre Jesu Christi ("im Herrn / in Christus"), dem sie untergeben sind und dienen.


Tychikus wird zwar zusätzlich zu Kol 4,7 an mehreren Stellen im NT genannt. So wird in Apg 20,4 Tychikus als einer der Begleiter des Paulus bei seiner Rückreise von Griechenland über Makedonien erwähnt, wobei er gemäß 20,5 aus einem nicht genannten Grund nach Troas vorausgereist sein dürfte. Der Verfasser der Apg liefert zu Tychikus die Information, dass er aus der römischen Provinz Asien (= Asia) stammte. Die Verbindung mit der Provinz Asien begründet wohl auch die Nennung des Tychikus im Epheserbrief (6,21) und im Kolosserbrief (4,7). Da Tychikus aus der Provinz Asien stammte und sowohl Ephesus als auch Kolossä in der Provinz Asien lagen, scheint Tychikus ein geeigneter Berichterstatter gewesen zu sein. Eine Identifikation des in Apg 20,4 genannten Tychikus mit dem in Eph 6,21 und Kol 4,7 genannten liegt nahe. Da die Apg aber von einem anderen Verfasser stammen dürfte als der Epheser- und der Kolosserbrief, können die verschiedenen Aussagen für die Konstruktion eines historisch korrekten Tychikusbildes nicht ohne weiteres kombiniert werden. Vorsicht ist insbesondere auch deshalb angebracht, weil die paulinische Verfasserschaft bezüglich der Apg ausgeschlossen und bezüglich des Epheser- und Kolosserbriefes zumindest fraglich ist. Wenn die Informationen über Tychikus aber nicht von Paulus selbst stammen, sondern von Dritten, stellen sich aber die Fragen, welches die Quellen der Informationen waren und ob sie historisch zuverlässig waren. Diese Fragen stellen sich insbesondere auch bezüglich der Aussagen des Zweiten Timotheusbriefes und des Titusbriefes, die beide erst einige Jahrzehnte nach den in der Apg geschilderten Ereignissen verfasst worden sein dürften und – trotz der vorgeblichen Verfasserschaft - weder vom Verfasser der Apg noch von Paulus selbst stammen. Gemäß 2 Tim 4,12 hat Paulus den Tychikus nach Ephesus gesandt und gemäß Tit 3,12 werde Paulus den Tychikus zu Titus senden. Auch diese beiden Textstellen scheinen den in Apg 20,4 genannten Tychikus im Blick zu haben, ohne dass die verschiedenen Aussagen ohne weiteres zu einem historisch korrekten Tychikusbild kombiniert werden können.


Weiterführende Literatur: Zu epigraphischen und papyrologischen Belegen fiktiver Verwandtschaftsbeziehungen in kleinen Gruppen oder Vereinigungen im griechischsprachigen östlichen Mittelmeerraum siehe P. A. Harland 2005, 491-513.


Zum Bild von der Gemeinschaft der Gläubigen als einer "Hausgemeinschaft" ("oikos") mit Gott als pater familias an der Spitze siehe B. Heininger 2009, 57-64, der insbesondere auf die Hausverwaltung Gottes (oikonomia tou theou) und die Begriffe "Mitsklave" ("syndoulos") und "Diener" ("diakonos") im NT eingeht.


Zur Bedeutung von "Sklave Christi" im NT siehe ausführlich M. J. Harris 1999, 139-156. Auf S. 177-179 geht er auf die enge Beziehung zwischen den beiden Begriffen "doulos" ("Sklave") und "diakonos" ("Diener") ein. Alle Sklaven seien Diener, aber nicht alle Diener Sklaven. "Diakonos" sei also der weiter gefasste Begriff. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den beiden Begriffen sei, dass der Diener seinen Dienst im Rahmen eines ausgehandelten Vertrages versehe, wogegen sowohl die Arbeit als auch die Person des Sklaven jemand anderem gehöre. Der Begriff "Diakonos" weise also auf einen höheren Status hin.


G. Röhser 2009, 129-150 sieht den Schluss 4,7-17 als Schlüssel für die Antwort auf die Frage nach den Entstehungsverhältnissen des Kol an. Eine genaue Analyse der Epistolaria (= alle Angaben bezüglich der Umstände, die den Brief als solchen notwendig und sinnvoll machen) ergebe deutliche Hinweise auf eine nachpaulinische Verfasserschaft dieses Schreibens. Insbesondere die Angaben über Paulusmitarbeiter in ihren Beziehungen ließen eine beginnende Hierarchisierung erkennen, die es in den authentischen Paulusbriefen so noch nicht gebe. Die Situation ohne und nach Paulus bringe es mit sich, dass dessen Rolle und das Verhältnis der zurückbleibenden Mitarbeiter sowohl zu ihm als auch zu den zurückbleibenden paulinischen Gemeinden intensiv reflektiert und geklärt werden muss. Dies geschehe in den Epistolaria des Kol in einer differenzierten und sorgfältigen Weise.


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V. 8


Beobachtungen: Die Verbform "epempsa" ist ein Aorist und insofern mit "ich habe gesandt" zu übersetzen. Es handelt sich also um eine Vergangenheitsform. Die Sendung des Tychikus ist also bereits erfolgt. Aber ist sie bereits vor der Abfassung des Briefes erfolgt? Oder schreibt der Verfasser des Kol aus Sicht der Adressaten und will sagen, dass Tychikus gesandt ist, wenn sie den Brief erhalten? Im ersteren Fall kann Tychikus nicht der Überbringer des Briefes sein, sondern wäre vorausgereist. In letzterem Fall könnte er durchaus der Überbringer des Briefes sein. Soll Letzteres betont werden, kann die Übersetzung "ich sende" gewählt werden.


Wer ist mit "uns" gemeint? Geht man davon aus, dass Paulus und Timotheus gemeinsam den Brief geschrieben haben (vgl. 1,1), dann dürften Paulus bzw. der Verfasser des Kol und Timotheus gemeint sein. Timotheus würde als Paulus bzw. dem Verfasser des Kol gleichrangiger Missionar erscheinen. Über die beiden hinaus könnten auch noch weitere Christen, speziell Missionare, gemeint sein. Man kann den Plural "wir" aber auch als ein literarisches Stilmittel ansehen. Dann wäre wohl nur Paulus gemeint.


Eine Variante, die u. a. von dem alten und wichtigen Papyrus 46 geboten wird, liest "... damit er erfährt, wie es um euch steht" statt "... damit ihr erfahrt, wie es um uns steht". Nicht die Adressaten sollen demnach erfahren, wie es um den Verfasser des Kol und evtl. weitere Christen steht, sondern Tychikus (und damit wohl auch der Verfasser des Kol) soll erfahren, wie es um die Adressaten des Briefes steht. Die Variante lässt sich mit Hör- oder Schreibfehlern erklären. So kann versehentlich "hymôn" ("euch") statt "hêmôn" ("uns") geschrieben oder gehört worden sein. Außerdem kann "gnôte" als "gnô te" gelesen oder gehört worden sein, womit aus einem Wort zwei Wörter gemacht worden sind. Weil auf das "te" das ähnliche "ta" folgt, lag es nahe, das "te" auszulassen. Begünstigt wurden die Fehler vermutlich dadurch, dass V. 8 von Schreibern als Wiederholung der Aussage V. 7 aufgefasst worden ist. Die (scheinbare) Wiederholung lässt auch durchaus möglich erscheinen, dass die Änderungen nicht Schreib- oder Hörfehler sind, sondern absichtlich erfolgt sind. Allerdings ist die betonende Wiederholung der Aussage V. 7 und deren Weiterführung wohl im Lichte von 2,1 zu verstehen, wo es heißt: "Ich will euch nämlich wissen lassen, welch schweren Kampf ich für euch und für die in Laodizea und für alle führe, die mich nicht persönlich kennen gelernt haben.". Der "schwere Kampf" ist also gegenwärtig wohl die Gefangenschaft des Verfassers des Kol. Über das Ergehen des Verfassers des Kol in der Gefangenschaft gilt es also die Adressaten des Kol zu informieren, denn auch diesen kommt der "schwere Kampf" schließlich zugute. Auf dem Ergehen des Verfassers des Kol dürfte hier der Fokus liegen, nicht auf dem Ergehen der Adressaten.


Das Herz erscheint als Ort der sorgenvollen Gedanken und Gefühle, als Ort der Innerlichkeit. Wenn Tychikus die Aufgabe hat, die "Herzen zu trösten" - das Verb "parakaleô" kann auch "ermahnen" bedeuten, aber um Ermahnung geht es hier sicher nicht -, dann hat er sicherlich positive Nachrichten zu überbringen. "Trost" ist sicherlich nicht so zu verstehen, dass die Adressaten aufgrund eines schrecklichen Zwischenfalls des herzlichen Beileids bedürfen oder getröstet werden müssen, sondern im Sinne einer Beruhigung oder Ermutigung. Der Verfasser des Kol ist zwar noch gebunden, also wohl in Gefangenschaft (vgl. Kol 4,3), jedoch lebt er noch und kann auch noch freigelassen werden. Die Adressaten brauchen also nicht zu befürchten, dass die Gemeinde und möglicherweise die ganze christliche Gemeinschaft durch einen bevorstehenden Tod des Verfassers des Kol geschwächt wird und angesichts der Konflikte mit Nichtchristen und Irrlehrern in schwierige Zeiten gerät. Die genaueren Umstände stehen nicht im Brief, sondern soll Tychikus den Kolossern mündlich mitteilen.


Dem Verfasser des Kol scheint sehr an einem engen Austausch von Informationen über das beiderseitige Ergehen interessiert zu sein. Die Adressaten sollen wissen, wie es um den Verfasser des Kol (und vielleicht auch Timotheus und weitere Christen bzw. Missionare) steht. Der Verfasser des Kol dagegen nimmt am Ergehen der Adressaten und an ihrem Gemütszustand Anteil. Dieses Interesse ist jedoch nicht einfach nur profan-menschlicher Art, wie man am Ergehen von Bekannten und Verwandten Anteil nimmt, sondern es ist geistlich geprägt. Es geht letztendlich um religiöses Heil, das durch Verbreitung und Sicherung des (rechten) Glaubens sicherzustellen und zu fördern ist. Die gläubigen Menschen in dem Macht- und Heilsbereich Christi sind als "Geschwister" miteinander im geistlichen Sinne verwandt und damit auch in besonderem Maße einander verbunden.


Wenn die Kolosser vor dem Bericht des Tychikus und Onesimus über das Ergehen des Verfassers des Kol nichts gewusst haben, dann ist daraus zu schließen, dass zwischen Kolossä und dem Aufenthaltsort des Verfassers des Kol keine ganz kleine Entfernung besteht. Aber der Ort der Gefangenschaft des Verfassers des Kol ist unbekannt und die Spekulationen werden noch dadurch vergrößert, dass die Gefangenschaft eine Fiktion sein könnte. Dass Tychikus und Onesimus gleichermaßen aus der Provinz Asien (Asia) stammen - Kolossä liegt in eben dieser Provinz - lässt auf einen Abfassungsort in der Provinz Asien (Asia) schließen. Am ehesten ist an Ephesus, einen der (konfliktreichen) Hauptwirkungsorte des Paulus, zu denken. Es kommen zwar auch Rom und Cäsarea infrage, zwei Städte, die wie keine andere für Gefangenschaft des Paulus stehen, jedoch liegen diese doch sehr weit von Kolossä entfernt. Aber wenn zweifelhaft ist, dass Paulus der Verfasser des Kol ist, dann kommen über diese Städte hinaus in Südosteuropa und Vorderasien auch andere infrage. Wenn der Verfasser des Kol ein "Paulusschüler" ist, dann ist erstens unbekannt, wo dieser im Gefängnis war, und zweitens die Gefangenschaft des "Paulusschülers" selbst nicht sicher. Eine (fiktive) Gefangenschaft kann nämlich nur aus dem Bestreben heraus zur Sprache gebracht worden sein, den Brief möglichst paulinisch erscheinen zu lassen und möglichst authentisch das Thema der Gefahr bzw. Gefangenschaft in die theologischen Aussagen des Briefes einfließen lassen zu können.


Weiterführende Literatur: Der nachapostolischen Situation entsprechend verwendeten gemäß F. Schnider, W. Stenger 1987, 103 sowohl der Kolosser- als auch der Epheserbrief die schon von Paulus selbst modifizierte Form der apostolischen Parusie (in kontextueller Verbindung mit der Briefschlussparänese), nämlich die Ankündigung des Besuchs eines apostolischen Gesandten (Kol 4,7-8; Eph 6,21-22; vgl. 1 Kor 16,10-11; 2 Kor 12,18-19; Phil 2,19-24) und die Rücksendung eines Gemeindevertreters (Kol 4,9; vgl. Phil 2,25-30). Im Unterschied zu Paulus freilich, der seine Schüler zu den Gemeinden sende, um selbst über deren Zustand unterrichtet zu werden (1 Kor 16,11; Phil 2,19; 1 Thess 3,5), werde im Kol und Eph Tychikus zur Gemeinde gesandt, "damit ihr erfahrt, wie es um uns steht" (Eph 6,22; Kol 4,8).


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V. 9


Beobachtungen: Auch Onesimus wird als "Bruder" bezeichnet, wobei - wie schon bei Tychikus - "Glaubensbruder" gemeint sein dürfte. Er wird als "treu und (im geistlichen Sinne) geliebt" charakterisiert. Dabei bleibt offen, worauf sich die Treue genau bezieht. Zu denken ist wie bei Tychikus an den "Dienst", vermutlich dem "Herrn" gegenüber. Allerdings lässt die Verbindung mit "geliebt" auch an eine besondere Beziehung zu Paulus denken, dass er diesem treu zur Seite steht, insbesondere auch in einer Gefahrensituation wie der Gefangenschaft.

Die sehr positiven Charakterisierungen des Tychikus und Onesimus sollen wahrscheinlich dazu beitragen, dass die beiden von den Christen in Kolossä wohlwollend aufgenommen werden und ihnen Gehör und Glauben geschenkt wird.


Der Name Onesimus ist von oninêmi („nützlich sein“) abgeleitet und bedeutet „der Nützliche“. Es handelt sich um einen typischen, in Ägypten, Griechenland und Rom häufig belegten Sklavennamen.Im Zusammenhang Kol 4,7-9 passt der Name gut, denn Onesimus kann sich insofern nützlich machen, als er zusammen mit Tychikus den Christen in Kolossä über das Ergehen des Verfassers des Kol berichten soll. Onesimus ist einer von den Kolossern, was wohl auf seine Herkunft aus Kolossä, vielleicht seine dortige Geburt, verweist. Dass Philemon identisch mit dem Sklaven aus dem Philemonbrief ist, ist möglich, aber nicht sicher. Der Onesimus des Philemonbriefes (dort in 10 erwähnt) ist ein von seinem Herrn, Philemon, entlaufener Sklave, der zu Paulus gekommen und bei diesem (im Gefängnis?) wohl zum christlichen Glauben gekommen ist, schließlich jedoch von Paulus wieder zu seinem Herrn geschickt wird. Die Verbindung des Namens Onesimus mit Paulus und der Gefangenschaft lässt in diesen Punkten eine deutliche Übereinstimmung zwischen dem Kolosserbrief und dem Philemonbrief erkennen. Da der Philemonbrief gemeinhin für echt paulinisch gehalten wird, könnte man daraus schließen, dass auch der Kolosserbrief aus der Feder des Paulus stammt. Diese Schlussfolgerung ist allerdings nicht ohne weiteres möglich, weil die Übereinstimmung auch als literarischer Kniff des Verfassers des Kol gedeutet werden kann. Ebenso wie Paulus trotz seiner Nennung in der Absenderangabe des Kolosserbriefes nicht unbedingt der Verfasser des Kol sein muss, sondern sein Name möglicherweise nur die theologische Richtigkeit des Kolosserbriefes verbürgen soll, können auch Onesimus und die Gefangenschaft rein fiktive Elemente des Briefes sein, die dessen Glaubwürdigkeit unterstreichen sollen. Das, was wir heute als Fälschung empfinden, war in der Antike durchaus gängige und als legitim angesehene Praxis. Nimmt man an, dass der Onesimus des Philemonbriefes mit dem des Kolosserbriefes identisch ist, stellt sich die Frage, welchen Status Onesimus bei seiner Entsendung innehat. Dass er als entlaufener Sklave von Paulus zum Gesandten bestimmt wird, ist nicht gerade wahrscheinlich. Paulus wird sich sicherlich klar darüber gewesen sein, dass nicht er der irdische Herr des Sklaven Onesimus ist, sondern Philemon. Woher sollte er also die Befugnis haben, Onesimus auf eine gefährliche Reise zu schicken? Ohne die Zustimmung des Philemon wird er das nicht gemacht haben. Und die Zustimmung könnte Philemon am ehesten gegeben haben, nachdem Paulus den Onesimus mit den Worten des Philemonbriefes zu Philemon zurückgeschickt hat. Da Onesimus bei Paulus zwischenzeitlich Christ geworden war, könnte Philemon - durch die Worte des Paulus bewegt - ihn (zeitweise) für Aufgaben im Rahmen der Mission des Paulus freigegeben haben.


Weiterführende Literatur: Laut V. Balabanski 2015, 131-150 werde oft angenommen, dass Philemon, Apphia und Philemons Hauskirche in Kolossä zu verorten seien. Dabei wundere man sich darüber, dass im Kol kein Gruß an Philemon zu finden ist. Diese Annahme und Verwunderung basiere jedoch auf der irrigen Annahme, dass der Kolosserbrief und der Philemonbrief für die zeitgleiche Versendung abgefasst worden seien. Die fehlerhafte Logik sei wie folgt: Bezüglich Archippus werde angenommen, dass er (gemäß Phlm 1-2) am gleichen Ort wie Philemon sei. In Verbindung mit der Annahme, dass sich Archippus in oder nahe Kolossä aufhalte (vgl. Kol 4,17), komme man zu dem Ergebnis, dass Philemon und seine Hauskirche in Kolossä zu verorten seien. Diese Schlussfolgerung sei zwar möglich, aber keinesfalls zwingend, weil der Kol und der Phlm zwei verschiedene Briefe mit zwei verschiedenen Szenarien und zwei verschiedenen Entstehungszeiten bzw. Versandzeiten seien. Ähnlich kurzschlüssig gehe man bezüglich Onesimus vor: Onesimus werde zu seinem Herrn Philemon zurückgesandt (vgl. Phlm 12). Und Onesimus werde (gemäß Kol 4,9) zusammen mit Tychikus als dessen Begleiter nach Kolossä geschickt. Daraus werde geschlossen, dass Philemon in Kolossä wohnhaft sei. Das sei ebenfalls möglich, aber ebenfalls aus den genannten Gründen keine zwingende Schlussfolgerung. Der Kol sei weder an Philemon noch an Apphia noch an Philemons Hauskirche gerichtet. V. Balabanski geht davon aus, dass der Phlm in der frühen Phase seiner Gefangenschaft in Rom verfasst worden sei, vielleicht 60 n Chr. Philemon, Apphia und Philemons Hauskirche seien in Italien zu verorten, vielleicht sogar in Rom. Der Kol dagegen sei von Timotheus verfasst worden, und zwar ein oder zwei Jahre nach dem Phlm, und richte sich an die Kolosser.



Literaturübersicht


Balabanski, Vicky; Where is Philemon? The Case for a Logical Fallacy in the Correlation of the Data in Philemon and Colossians 1.1-2; 4,7-18, JSNT 38/2 (2015), 131-150

Harland, Philip A.; Familial Dimensions of Group Identity: 'Brothers' (ADELPHOI) in Associations of the Greek East, JBL 124 (2005), 491-513

Harris, Murray J.; Slave of Christ: A New Testament Metaphor for Total Devotion to Christ (NSBT 8), Downers Grove, Illinois 1999

Heininger, Bernhard; Soziale und politische Metaphorik im Kolosserbrief, in: P. Müller [Hrsg.], Kolosser-Studien (BThSt 103), Neukirchen-Vluyn 2009, 55-82

Röhser, Günter; Der Schluss als Schlüssel. Zu den Epistolaria des Kolosserbriefes, in: P. Müller [Hrsg.], Kolosser-Studien (BThSt 103), Neukirchen-Vluyn 2009, 129-150

Schnider, Franz; Stenger, Werner; Studien zum neutestamentlichen Briefformular (NTTS 11), 1987


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