Eph 3,14-19
Übersetzung
Eph 3,14- 19 :14 Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater, 15 von dem jede Vaterschaft in den Himmeln und auf Erden ihren Namen hat, 16 dass er euch gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, an Kraft stark zu werden durch seinen Geist am inneren Menschen 17 und (den) Christus durch den Glauben in euren Herzen Wohnung nehmen zu lassen, in Liebe verwurzelt und gegründet, 18 dass ihr befähigt werdet, mit allen Heiligen zu erfassen, was die Breite, Länge, Höhe und Tiefe ist, 19 und zu erkennen die das Erkennen übertreffende Liebe (des) Christi, dass ihr erfüllt werdet zur ganzen Fülle (des) Gottes.
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Beobachtungen: V. 14 greift (wie V. 13) den unvollendet gebliebenen V. 1 auf und führt ihn weiter. Er leitet einen Kettensatz ein, der bis V. 19 reicht und das Fürbittgebet für die Adressaten darstellt. Das Fürbittgebet ist in drei Abschnitte gegliedert, die jeweils mittels der Konjunktion "hina" ("dass/damit"; V. 16.18.19) eingeleitet werden und wohl drei Fürbitten darstellen: Bitte um Wachstum des Glaubens, Bitte um Wachstum der Erkenntnis und Bitte um vollkommene Erfüllung. Die Fürbitten enthalten wiederum verschiedene Aspekte. Auf das Fürbittgebet V. 14-19 folgt eine Doxologie, die die V. 20-21 umfasst.
Das Beugen der Knie erfolgt zum Gebet. Es ist wohl als ein auf die Knie Fallen zu verstehen und ist eine Geste der Demut und Verehrung. Die Demut geht mit einer räumlichen Erniedrigung einher: Die verehrende und bittende Person begibt sich nach unten, der Verehrte und Gebetene ist oben, erhaben.
Es fällt auf, dass sich die Gebete des Eph durchgehend an Gott als den Vater wenden (vgl. 1,3.17; 3,14; 5,20). Dabei wird der Vatertitel schrittweise erweitert, in 3,14-15 um ein weites Verständnis der Vaterschaft Gottes. In 3,14 ist unklar, ob Gott als Vater Jesu Christi gesehen wird oder als Vater der Christen. Beide Bedeutungen klingen an. Dass Gott ein Vater ist, spielte im Abschnitt 2,19-22 eine große Rolle, wo Gott als Hausvater erschien und die Christen als zur Hausgemeinschaft gehörig. Allerdings ist in 3,14 nicht ausdrücklich von "unserem Vater" oder von "eurem Vater" die Rede. Insofern scheint eine gewisse Offenheit beabsichtigt.
Eine Variante beseitigt die Offenheit durch den erklärenden Zusatz "unseres Herrn Jesus Christus". Gemäß dieser Variante handelt es sich also um den "Vater unseres Herrn Jesus Christus". Ursprünglich ist diese Variante aber wohl nicht, denn sie ist schwächer bezeugt als der von Nestle-Aland, 27. Aufl. gebotene Text und kann als Anpassung an 1,3 angesehen werden. Außerdem entzieht der Zusatz dem Wortspiel "patera" ("Vater"; V. 14) - "patria" ("Vaterschaft"; V. 15) die Aufmerksamkeit und erzeugt eine Diskrepanz zwischen der engen Deutung des "Vaters" und der äußerst weiten der "Vaterschaft".
Weiterführende Literatur: J. Heriban 1986, 143-160 versucht die Bezeichnung bzw. Anrede "Vater" in ihrer theologischen Tiefe zu erfassen. Gemeinhin werde Gott als "guter Papa" angesehen, von dem wir erwarten, dass er allzu leicht über unsere Verfehlungen hinwegsieht und sie uns vergibt. J. Heriban gibt einen Überblick darüber, was gemeint ist, wenn in der Antike, im AT und im NT vom "Vater" die Rede ist. Aus Eph 3,14-15 gehe hervor, dass Paulus, der Verfasser des Eph, nicht einfach das göttliche "Geheimnis" mit dem Verstand darlege, sondern sich im Gebet vom heiligen Geist und der Gnade Gottes das "Geheimnis" eingeben lasse. Dabei sei die kniende Gebetshaltung nicht für die Juden typisch gewesen, sondern für die Heiden. Die Juden hätten im Stehen gebetet (vgl. Lk 18,11.13). Mit der knienden Gebetshaltung habe Paulus die Einheit der Juden und Heiden und der ganzen Welt in Christus vor Augen geführt. Gott Vater habe sich in Christus offenbart. Die Vaterschaft sei jedoch nicht auf das Verhältnis zwischen Gott Vater und Christus, den Sohn Gottes, begrenzt, sondern allumfassend. An erster Stelle kämen die himmlischen Familien, die Engel, in den Blick, an zweiter Stelle die irdischen Familien, die Juden und Heiden. Alle diese Vaterschaften wiesen nicht nur auf die Herkunft hin, sondern "seinen Namen haben" mache auch eine Aussage zu Existenz, Identität und Funktion. Es werde also eine enge Beziehung des über alles herrschenden, sich in Christus offenbarenden Gott zu den "Familien" deutlich, die Grundlage der Einheit der christlichen Gemeinschaft sei.
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Beobachtungen: Der Begriff "patria" bedeutet "Abstammung", "Volk", "Stamm", "Geschlecht" oder "Familie". Er bezeichnet auch die zwölf Stämme der Israeliten zusammengenommen als "Stammfamilie". Hier ist mit Blick auf das Wortspiel die Übersetzung "Vaterschaft" passend. Der Begriff "Vaterschaft" beinhaltet hier wohl zwei Aspekte: Zum einen denjenigen der Abstammung, zum anderen den der Verwandtschaft der Abkömmlinge untereinander. Die Abstammung ist sicherlich nicht im wörtlichen Sinne zu verstehen, wonach Gott selbst gezeugt hätte, sondern im übertragenen Sinne. Der übertragende Sinn geht wohl aus 3,9 hervor, wonach Gott der Schöpfer des Alls (= von allem)" ist. Gott ist demnach der Vater von allem. "Jede Vaterschaft" ist dementsprechend auch gänzlich vage formuliert und es bleibt offen, auf wen oder was sich denn die Vaterschaft überhaupt bezieht. Folglich bleibt auch offen, wer oder was dieser Familie mit Gott als Vater überhaupt angehört. Diese Offenheit scheint vom Verfasser des Eph beabsichtigt zu sein, denn die Betonung liegt nicht auf den Abkömmlingen - seien es Menschen, nichtmenschliche Lebewesen, Dinge oder himmlische Wesen -, sondern auf der "Vaterschaft" und auf dem "Namen".
Es geht nicht darum, dass jede "Vaterschaft" einen Namen hat, sondern dass jede "Vaterschaft" von Gott ihren Namen hat. Es geht also nicht um den Namen an sich, sondern um eine Beziehung zwischen dem Benennenden und dem Benannten. Dabei beschränkt sich die Beziehung nicht darauf, dass Gott einen Namen gegeben hat und damit eine Unterscheidung möglich ist, wie in einer Klasse der Lehrer die verschiedenen Schüler mittels des ihnen von ihren Eltern gegebenen Namen unterscheidet. Der Aspekt der Unterscheidung scheint eine untergeordnete Rolle zu spielen und höchstens mit Blick auf das Vorhandensein verschiedener "Vaterschaften"/Familien, wie sie Menschen (oder auch Völker), Tiere, Pflanzen, böse Mächte und Engel (oder auch verschiedene Kategorien himmlischer Wesen) darstellen können, von Belang zu sein. In erster Linie scheint mit dem Namen eine Charakterisierung verbunden zu sein. So wie die "Vaterschaft" wohl an die Schöpfung denken lässt, ist mit dem Namen das Wesen ausgesagt. Es geht um Schöpfung Gottes und um von Gott Geschaffenes. Das von Gott Geschaffene ist wohl zugleich auch das Gott Untergebene. Es geht also vermutlich auch um Macht, speziell auch Wirkmacht. Und mit Macht, speziell Wirkmacht, ist auf der anderen Seite Untergebenheit und Abhängigkeit verbunden. Unabhängigkeit und Abhängigkeit sind aber nicht im Sinne eines despotischer Gewalt unterworfenen Sklaven zu verstehen, sondern im Sinne eines heilvoll geschützten und versorgten Dieners.
Die allgemeine Formulierung "jede Vaterschaft in den Himmeln und auf Erden" ist nicht dazu angetan, auf wen und was sich - seien es Menschen, nichtmenschliche Lebewesen, Dinge oder himmlische Wesen - denn die "Vaterschaft" und der Name bezieht. Die Formulierung ist wahrscheinlich im Sinne von "wo auch immer" oder "überall" zu verstehen. Es gibt also keine "Vaterschaft", die nicht von Gott ihren Namen hat. Die "Vaterschaft" reicht also über diejenigen, die Gott als ihren Vater anerkennen und sich zu Christus bekennen, hinaus. Der Blick ist universal.
Weiterführende Literatur: Gemäß W. H. Harris III 1991, 79-80 sei davon auszugehen, dass „Himmel“ („ouranos“) in Eph 3,15 (ähnlich wie in 1,10) den obersten Teil des geschaffenen Universums meine.
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Beobachtungen: Der Begriff "doxa" kann mit "Ehre", "Ruhm", "Glanz" oder "Herrlichkeit" übersetzt werden. Gott wird also mit Ehre, Ruhm, Glanz und Herrlichkeit verbunden.
"Reichtum seiner Herrlichkeit" - gemeint ist Gottes Herrlichkeit - dürfte aussagen, dass die Herrlichkeit nicht mickrig, sondern enorm ist. Die Herrlichkeit wird sozusagen unterstrichen, damit sie auch wirklich niemand unterschätzt. 3,16 geht davon aus, dass Gott nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit an Menschen - konkret: an den Adressaten - handeln kann. Die Handlungen an den Menschen bzw. Adressaten werden im Folgenden sogleich genannt.
"An Kraft stark werden" erscheint wie eine unnötige Doppelung: Wer stark wird, gewinnt gewöhnlich an Kraft. Insofern hätte es gereicht, wenn der Verfasser des Eph "stark werden" geschrieben hätte. Dass er dennoch die Kraft erwähnt, weist darauf hin, dass er dieser eine ganz besondere Bedeutung beimisst.
Die Zunahme der Kraft ist keine menschliche Leistung. Das lässt die passive Infinitivform erkennen.
Der Verfasser des Eph bringt die Stärkung mit dem „inneren Menschen“ in Verbindung. Sie erfolgt durch Gottes Geist, der also eine Wirkkraft darstellt. "Eis" bezeichnet die Wirkungsrichtung: Die Stärkung erfolgt in den "inneren Menschen" hinein oder am "inneren Menschen" (auch die Bedeutung "im 'inneren Menschen'" ist im nachklassischen Griechisch möglich). Es ist also ein inneres Geschehen im Blick, kein äußerliches, rein leibliches. Es geht also nicht um Stärkung des Leibes für handwerkliche Arbeit oder für kriegerischen Kampf. Das innere Geschehen mag dem äußerlichen, leiblichen, mit der Sünde verbundenen Geschehen entgegenstehen (vgl. Röm 7,22-23). Allerdings kommt dieses fleischlich-sündige Geschehen, das gemäß Paulus den "äußeren Menschen" betrifft, in Eph 3,14-21 nicht in den Blick.
Weiterführende Literatur: Im Rahmen seiner Ausführungen zur Macht/Kraft Gottes im Eph geht P. J. Gräbe 2000, 220-222 auf 3,16 ein. Der heilige Geist erneuere und stärke im "inneren Menschen", dem Zentrum des Menschen.
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Beobachtungen: „Christus“ ist nicht ein Name im Sinne eines Vor- oder Nachnamens, sondern ein Heilstitel. „Christus“ bedeutet „Gesalbter“ (griechisch: „christos“). Im AT werden Könige, Priester, Propheten und auch kultische Gegenstände gesalbt. Durch die Salbung mit dem Salböl werden sie der rein profanen Welt enthoben und in den Dienst Gottes gestellt, womit sie in die Sphäre des Heils treten. Wenn Jesus als „Christus“ bezeichnet wird, dann wird er als Heilsbringer (Messias, hebr.: māschiaḥ) verstanden. Jesus Christus ist gemäß Paulus insbesondere deshalb Heilsbringer, weil er für die Menschen gestorben und von den Toten auferstanden ist. Er bewirkt Sündenvergebung und ewiges Leben.
"Katoikêsai" ist ein Infinitiv Aorist, der ein punktuelles Geschehen bezeichnet, das abgeschlossen ist. Insofern ist die Übersetzung "Wohnung zu nehmen / sich niederzulassen" der Übersetzung "zu wohnen" vorzuziehen. Das Wohnen würde eher einen länger währenden Zustand darstellen, das auf das Wohnungnehmen folgt (vgl. Beobachtungen zu Kol 2,9). In Eph 3,17 nimmt nicht Gott selbst Wohnung, sondern er lässt Christus Wohnung nehmen.
Der Verfasser des Eph geht davon aus, dass der Glaube (an Christus) die Voraussetzung dafür ist, dass Gott Christus in den Herzen von Menschen Wohnung nehmen lässt. Die Einwohnung Christi geschieht also nur in Christen. Dabei scheint das Herz das Organ zu sein, das den "inneren Menschen" (vgl. V. 16) repräsentiert.
"Christus ... Wohnung nehmen zu lassen" dürfte der zweite Teil der ersten Fürbitte sein, "an Kraft stark zu werden ..." der erste. Ebenfalls möglich, aber unwahrscheinlicher ist, dass "Christus ... Wohnung nehmen zu lassen" als Folge oder Ziel des "an Kraft stark zu werden ..." gedacht ist, im Sinne von "... an Kraft stark zu werden ..., dass Christus Wohnung nehme ...".
Bei den beiden Verbformen "errizômenoi" ("verwurzelt") und "tethemeliômenoi" ("gegründet") handelt es sich um Partizipien in der Zeitform Perfekt. Das Perfekt zeigt zum einen an, dass das Geschehen vergangen ist, zum anderen, dass es eine besondere Bedeutung für die Gegenwart hat. Dieses vergangene Geschehen mit besonderer Bedeutung für die Gegenwart betrifft - darauf weist der Plural hin - eine Mehrzahl Personen, nämlich die Adressaten. Die Partizipien sind in einer Fürbitte wohl kaum als Imperative zu übersetzen ("verwurzelt!" bzw. "begründet!"). Ebenso unwahrscheinlich ist die Übersetzung als Aussage: "ihr seid in Liebe verwurzelt und begründet". Vielmehr dürfte die Verwurzelung und Gründung in Liebe die entscheidende Grundlage für Innerlichkeit und Einwohnung Christi sein. Weil die Adressaten nicht selbst ihr Heil bewirken, sondern ihr Heil von Gottes Wirken abhängt, dürfte eine Bitte um Verwurzelung und Gründung der Adressaten in Liebe mitklingen. Außerdem stellt die Verwurzelung und Gründung in Liebe die Voraussetzung für das in V. 18 Gesagte dar.
Die beiden Partizipien "errizômenoi" ("verwurzelt") und "tethemeliômenoi" ("gegründet") lassen zwei Bilder aufkommen, nämlich die Verwurzelung und die Gründung. Die Verwurzelung ist ein Bild aus der Pflanzenwelt, die Gründung ein Bild aus dem Bauwesen. Das Partizip "tethemeliômenoi", das durchaus auch im Sinne einer Verankerung oder Verwurzelung verstanden werden kann, bekommt hier durch seine Stellung neben dem die Pflanzenwelt abdeckenden Partizip "errizômenoi" seine ganz spezifisch bautechnische Färbung. Außerdem bezeichnet das Substantiv "themelios/themelion" in 2,20 das aus Aposteln und Propheten bestehende Fundament des Kirchenbaues. Und so wie der Kirchenbau mit den Aposteln und Propheten als Fundament die Wohnung Gottes darstellt (vgl. 2,22), stellt das Innere des Menschen mit der Liebe als Fundament die Wohnung Christi dar.
Wessen Liebe ist gemeint? Und wem gilt sie? Es kann die Liebe der Adressaten untereinander (und vielleicht auch allen Christen und sogar allen Menschen gegenüber) gemeint sein, auch die Liebe der Adressaten Gott oder Christus gegenüber. Ebenfalls kann die Liebe Gottes (oder Christi) den Adressaten gegenüber gemeint sein. Vermutlich sind alle Aspekte im Blick: Gott (bzw. Christus) liebt die Adressaten, was sein Heilshandeln erklärt. Als Antwort auf die ihnen entgegengebrachte Liebe mögen - so die Fürbitte - auch die Adressaten Gott (bzw. Christus) lieben und auch sich untereinander (und wohl auch die anderen Menschen, zuvörderst Christen, aber vielleicht auch Nichtchristen). Und weil die Adressaten sich nicht selbst in Liebe verwurzeln und gründen können, bittet Paulus bzw. der Verfasser des Eph Gott darum, dass er sie in Liebe verwurzeln und gründen möge.
Weiterführende Literatur: S. Mattam 1980, 125-150 stellt anhand einer Exegese verschiedener paulinischer Texte die Einzigartigkeit des Gedankens der Einwohnung Christi, der persönlichen und dynamischen Einheit mit Christus, wie er in Eph 3,17 geäußert werde, heraus.
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Beobachtungen: Die Konjunktion "hina" kann mit "damit" übersetzt werden oder mit "dass". Sie kann also eine Folge aus dem Vorhergehenden anzeigen oder eine Fürbitte. Die dreifache Verwendung des "hina" (V. 16.18.19) lässt eher an eine Fürbitte denken. V. 18 stellt also vermutlich die zweite Fürbitte eines aus drei Fürbitten bestehenden Fürbittgebets dar.
Breite, Länge und Höhe sind die Begriffe, die einen dreidimensionalen Gegenstand oder Raum beschreiben. V. 18 nennt darüber hinaus auch die Tiefe, womit eine vierte Dimension hinzugefügt wird. Damit scheint das ganze Ausmaß von etwas beschrieben zu werden. Interessanterweise ist das Ausmaß aber nicht unendlich, denn sonst ließen sich Breite, Länge, Höhe und Tiefe nicht erfassen. Der eine Artikel für alle vier Begriffe weist darauf hin, dass die vier Dimensionen als eine Einheit angesehen werden, die das Ausmaß von einer Sache beschreiben. Doch von welcher? Zunächst einmal ist festzustellen, dass die vier Dimensionen einen Raum ergeben. Vermutlich ist er als ein Heilsraum gedacht. Der Heilsraum wird gewöhnlich mittels der Präposition "en" ("in") erkenhtlich gemacht, wobei die Formulierung "in Christus" am häufigsten vorkommt.. Einen materiellen Heilsraum stellt der Tempel dar, auch die Stadt Jerusalem, und dementsprechend findet sich im AT (vgl. Sach 2,5-9; Ez 40,3-42,20; Jer 31,39) und im NT (Offb 11,1; 21,15-17) das Motiv der Vermessung des Tempels bzw. der Stadt. Tempel und Stadt sind dreidimensional, der in Eph 3,18 beschriebene Heilsraum dagegen ist vierdimensional. Christus wird in V. 19 mit der Liebe verbunden. Die Liebe ist aber nicht ausschließlich mit Christus, sondern auch mit Gott und den Adressaten verbunden. Die vier Dimensionen mögen das Ausmaß der Liebe beschreiben, an erster Stelle die Liebe Christi, dann aber auch die Liebe Gottes und die Liebe der Adressaten. Nicht die Liebe der Adressaten, sondern nur die Liebe Christi und wohl auch die Liebe Gottes übertrifft die Erkenntnis. Aber auch andere mit dem Heilsraum Christi (bzw. Gottes) verbundene Aspekte können im Blick sein: Gnade, Herrlichkeit, Macht, Wirkkraft und Weisheit. Dabei mag der Heilsraum als neuer Tempel oder neue Stadt Jerusalem gedacht sein.
Weiterführende Literatur: R. Lemmer 1998, 459-495 befasst sich mit der Leib Christi – Metapher im Eph und geht knapp auf folgende Texte ein: 1,20-23; 2,16-22; 3,3-6; 3,9-12; 3,14-21; 4,3-6; 4,12-16; 5,23-30.
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Beobachtungen: Auf den ersten Blick erscheint es paradox, dass die Adressaten die das Erkennen übertreffende Liebe Christi erkennen sollen. Wie soll etwas erkannt werden, das das Erkennen übertrifft? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass das Erkennen nicht das Ausmaß der Liebe Christi betrifft, sondern die Unbegreiflichkeit des Ausmaßes. Das Ausmaß der Liebe Christi kann nicht erkannt werden, die Unbegreiflichkeit des Ausmaßes dagegen schon.
Die Konjunktion "hina" kann mit "damit" übersetzt werden oder mit "dass". Sie kann also eine Folge aus dem Vorhergehenden anzeigen oder eine Fürbitte. Die dreifache Verwendung des "hina" (V. 16.18.19) lässt eher an eine Fürbitte denken. V. 19 stellt also vermutlich die dritte Fürbitte eines aus drei Fürbitten bestehenden Fürbittgebets dar.
In 1,23 war schon unter verschiedenen Aspekten die Fülle zur Sprache gekommen, wobei einer dieser Aspekte war, dass die Kirche und die ganze Welt voll und ganz von Christus erfüllt werden. In 3,19 geht es nun darum, dass die Adressaten zur ganzen Fülle Gottes erfüllt werden mögen, und zwar von Gott (passivum divinum). Die Präposition "eis" dürfte eine Bewegungsrichtung, ein Ziel angeben. Demnach sollen die Adressaten nicht nur zur Fülle Gottes erfüllt werden, sondern zur ganzen Fülle Gottes. Es geht also um die vollständige Erfüllung, wobei wohl an Reifung im Glauben und christlichen Handeln gedacht ist (vgl. 4,13).
Die "Fülle Gottes" ist eine Formulierung, die verschiedene Aspekte enthält: die Fülle der Herrlichkeit Gottes, die Fülle der Liebe Gottes, die Fülle des Lebens und die Vollkommenheit Gottes. Möglicherweise ist daran gedacht, dass die Adressaten auf ihrem Glaubensweg zu dem werden sollen, zu dem sie bestimmt sind: Zu Menschen, die die Herrlichkeit, die Liebe, die Lebendigkeit und die Vollkommenheit Gottes in Gänze verinnerlicht haben und so mit ihrer ganzen Existenz verkörpern.
Eine Variante bietet "hina plêrôthê pan to plêrôma tou theou" ("dass die ganze Fülle [des] Gottes erfüllt werde") statt "hina plêrôthête eis pan to plêrôma tou theou" ("dass ihr erfüllt werdet zur ganzen Fülle (des) Gottes"). Sie geht also davon aus, dass die ganze Fülle Gottes erfüllt werden solle, nicht davon, dass die Adressaten erfüllt werden sollen. Eine von der Minuskel 1881 gebotene Variante ersetzt "theou" ("Gottes") durch "Christou" ("Christi"), vermutlich mit Blick auf 4,13. Die Varianten weisen darauf hin, dass die Bedeutung des ursprünglichen Textes schon in der Antike Fragen aufwarf.
Weiterführende Literatur: H. Hübner 1998, 176-184 legt mit Blick auf Eph 3,14-19 dar, dass Verstehen auf keinen Fall das bloß intellektuelle Erfassen einer existenzirrelevanten Mitteilung sei. Verstehen sei das für die Existenz bedeutsame Ereignis. Und sei Existenz geradezu mit Verstehen identisch, so lasse sich das Ganze auf die zugespitzte Formel bringen: Menschliche Existenz sei je und je verstehendes Ereignis. Der Mensch ereigne sich je neu als je neu Verstehender. Der Mensch werde verstehend ein je anderer, ein je neuer Mensch. Das noëtische Ereignis sei das je neue ontische Ereignis. In seinem Verstehen ändere und verändere sich der Mensch.
R. L. Foster 2007, 85-96 sieht Eph 2,19-22 mit seinen Aussagen zur Gemeinde als Tempel bzw. Wohnung Gottes als entscheidenden Zusammenhang von 3,14-19 an. V. 19 stelle den Höhepunkt des Gebets 3,14-19 dar und müsse im Zusammenhang mit 2,19-22 verstanden werden. Die Verbindung von Tempel und Fülle Gottes führe uns zu den jüdischen Schriften hin, in denen davon die Rede sei, dass die Herrlichkeit Gottes dessen Wohnung erfülle, sei es das Tabernakel, der Salomonische Tempel oder der Tempel der neuen Weltzeit. Diese Sichtweise werde durch mehrere Aussagen des Gebets bekräftigt, einschließlich des Gedankens, dass Christus in den Herzen der Gläubigen wohne, dass die Gläubigen in der Liebe - nämlich in der Breite, Länge, Höhe und Tiefe der Liebe Christi, womit auf die Dimensionen des Altars Bezug genommen werde - gegründet seien. Schließlich spreche auch die Tatsache, dass der Verfasser des Eph annehme, dass Gott in der Gemeinde Ehre zuteil werde, für diese Sichtweise.
Literaturübersicht
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Foster, Robert L.; "A Temple in the Lord Filled to the Fullness of God": Context and Intertextuality (Eph. 3:19), NT 49/1 (2007), 85-96
Gräbe, Petrus J.; The Power of God in Paul’s Letters (WUNT II/123), Tübingen 2000
Harris III, W. Hall; "The Heavenlies" Reconsidered: Uranos and Epuranos in Ephesians, BS 148/589 (1991), 72-89
Heriban, Jozef; Da Dio ogni paternità prende nome (Ef 3,14-15), PSV 14 (1986), 143-160
Hübner, Hans; Erkenntnis Gottes und Wirklichkeit Gottes. Theologisch-hermeneutische Gedanken zu Eph 3,14-19, in: J. Kerkovský u. a. [ed.], EPITOAUTO, Prag 1998, 176-184
Lemmer, Richard; Hê oikonomia tou mystêriou tou apokekrymmenou en tô Theô Understanding "Body of Christ" in the Letter to the Ephesians, Neotest. 32/2 (1998), 459-495
Mattam, S.; Eph 3,17: A Study of the Indwelling of Christ in St. Paul, BiBh 6/1 (1980), 125-150