Gal 2,11-14
Übersetzung
Gal 2,11-14:11 Als jedoch Kephas nach Antiochia kam, stellte ich mich ihm persönlich entgegen, weil er sich schuldig gemacht hatte. 12 Bevor nämlich einige [Leute] von Jakobus eintrafen, pflegte er mit den Heiden[christen] zu essen. Als sie aber eingetroffen waren, verstellte er sich und sonderte sich ab, weil er sich vor denen aus der Beschneidung fürchtete. 13 Und mit ihm heuchelten auch die übrigen Juden[christen], sodass sogar Barnabas sich von ihrer Heuchelei mitreißen ließ. 14 Als ich jedoch sah, dass sie nicht geradewegs der Wahrheit des Evangeliums folgten, sagte ich zu Kephas vor allen: „Wenn du, der du ein Judenchrist bist, nach heidnischer und nicht nach jüdischer Weise lebst, wie kannst du dann die Heiden[christen] zur jüdischen Lebensweise zwingen?“
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Beobachtungen: In 2,1-10 war von der Unterredung des Apostels Paulus mit der Jerusalemer Gemeinde und speziell auch mit den „Angesehenen“ im Hinblick auf die Frage, ob an der Heidenmission etwas auszusetzen ist, die Rede. Laut Paulus wurde die Heidenmission uneingeschränkt gebilligt und ihm auch nichts auferlegt. Er solle nur (mittels einer Geldsammlung) der Armen (in Jerusalem) gedenken. Aus der Billigung der Heidenmission folgen praktische Probleme im Hinblick auf die Gemeinschaft von Juden- und Heidenchristen. Exemplarisch werden diese Probleme an einem Zwischenfall deutlich, der sich in Antiochia ereignet und an dem Personen beteiligt sind, die bei der Unterredung in Jerusalem aktiv beteiligt waren.
Der Ort des Ereignisses ist Antiochia, die nach Rom und Alexandria mit etwa 500000 Einwohnern drittgrößte Stadt des Römischen Reiches und seit 64 v. Chr. Hauptstadt der römischen Provinz Syria. Dorthin sind also Paulus und Barnabas und vermutlich auch Titus nach der Unterredung in Jerusalem gegangen - vorausgesetzt, sie sind nicht zwischenzeitlich schon einmal umgezogen. Wahrscheinlich ist Antiochia auch die Stadt, von der die Drei nach Jerusalem aufgebrochen waren (vgl. die Beobachtungen zu Gal 2,1).
Wann es zu dem Zwischenfall kam, schreibt Paulus nicht. Der Zeitpunkt spielt wohl ebenso wenig eine Rolle wie der Grund für den Besuch des Kephas - gemeint ist Petrus (zum Namen siehe die Beobachtungen zu Gal 1,18) - und der Leute des Jakobus. Auch dieser wird nicht genannt.
Weil Kephas sich schuldig gemacht hat, tritt Paulus ihm gegenüber. Er tut dies persönlich, von Angesicht zu Angesicht, wettert also nicht hinter Kephas’ Rücken.
Weiterführende Literatur: R. Meynet 1996, 51-64 untersucht die Gliederung und die literarische Gattung von 1,6-2,21. In 1,6-10, dem exordium (gemäß Betz), lege Paulus den Sachverhalt dar, der ihn zur Abfassung des Briefes bewegt hat; 1,11-17 thematisiere die Berufung des Paulus; 1,18-24 sei ein Übergangsabschnitt hin zu 2,1-10, wo erzählt werde, wie die Berufung von den anderen Aposteln anerkannt wurde. R. Meynet sieht eine Entsprechung von 1,6-10 und 2,11-21: In ersterem Abschnitt werfe Paulus den Galatern, in letzterem Abschnitt Petrus/Kephas Untreue gegenüber dem Evangelium vor.
E. Dubuis 1988, 163-173 meint, dass in Gal 1-2 die Erzählung vorherrschend und die Erklärung untergeordnet sei; in Gal 3-4 dagegen sei die Erklärung vorherrschend und die Erzählung untergeordnet.
D. F. Tolmie 2000, 353-370 versucht sich 2,11-21 mittels einer rhetorischen Analyse zu nähern, die sich von dem gewohnten Ansatz unterscheide. Würden meist antike rhetorische Kategorien auf den Galaterbrief übertragen, so versuche D. F. Tolmie die paulinische rhetorische Strategie in Begriffen des „grounded theoretical approach“ zu analysieren.
V. Jegher-Bucher 1990, 305-321 befasst sich kritisch mit der Behauptung von J. D. Hester 1984, 223-233, dass Gal 2,11-14 eine Parekbasis, d. h. eine Art Exkurs sei, die darin bestehe, dass der Redner statt der eigentlichen materia eine andere materia behandelt. Der zweite Punkt, mit dem sich V. Jegher-Bucher kritisch befasst, ist der Versuch von J. D. Hester 1986, 386-408 zu zeigen, wie der Exkurs Gal 2,11-14 in der Form einer Chrie gestaltet ist. Eine Chrie sei eine lehrreiche, kurze Anekdote, die eine Sentenzweisheit als Realität des praktischen Lebens erweist. Sie habe überdies im Elementarunterricht neben den Fabeln die gezielte, pädagogische Funktion gehabt, Beispielhaftes, Lehrreiches den Kindern vor Augen zu führen. V. Jegher-Bucher wendet sich zwar gegen die These, dass es sich bei 2,11-14 um einen Exkurs handele, doch hält sie es für möglich, den Abschnitt als chrienartig zu betrachten. Anders als J. D. Hester sieht sie jedoch das Ende der Chrie nicht in V. 14 sondern in V. 16. Die V. 15-16, die Paulus als Antwort des Petrus und der Mitbetroffenen formuliere, stellten ihren Höhepunkt dar; denn nur so entspreche sie den für dieses Genus von allen antiken Theoretikern erhobenen Anforderungen. Werde sie so abgegrenzt, dann werde auch die ganze Erzählung in sich stimmig, doch beileibe nicht langweilig: In wachsender Dynamik führe sie uns über verschiedene Stationen zum dramatischen Höhepunkt, der Konfrontation den beiden Apostel, deren irritierende, packende Spannung in der innigen Feierlichkeit des Christusbekenntnisses aufgefangen werde.
R. G. Hall 1991, 308-320 befasst sich kritisch mit der These von J. Knox 1987, 19, dass die von Paulus gegebenen historischen Informationen vertrauenswürdiger als diejenigen der Apostelgeschichte seien und die Apostelgeschichte die autobiographischen Informationen ergänzen, aber niemals ersetzen könne. R. G. Hall wendet ein, dass Paulus im Rahmen der antiken rhetorischen Praktiken alle Freiheit im Umgang mit Fakten zu historischen Begebenheiten gehabt habe. Deshalb sei Paulus nicht unbedingt vertrauenswürdiger als die Apostelgeschichte.
G. Lüdemann 1980, 58-110 bietet eine Exegese von Gal 1,6 - 2,14 als tragender Pfeiler für eine Pauluschronologie. Er kommt zu dem Schluss, dass sich der Zwischenfall von Antiochien vermutlich vor dem Konvent ereignet habe. Es sei zu überlegen, ob nicht überhaupt der Zwischenfall unmittelbarer Anlass für Paulus, Barnabas, Petrus und „die von Jakobus“ war, sich nach Jerusalem zu begeben. T. Holtz 1986, 346-347 hält dagegen die Begründung für eine solche Pauluschronologie für nicht überzeugend. Seiner Meinung nach habe sich der antiochenische Zwischenfall einige Wochen – höchstens Monate – nach dem „Apostelkonzil“ ereignet.
T. Wiarda 2004, 231-252 befasst sich mit der Handlung und der Selbst-Charakterisierung des Paulus in 1,13-2,21.
Eine Analyse des antiochenischen Zwischenfalls aus religions- und organisationssoziologischer Sicht bietet B. Holmberg 1990, 71-92.
P. S. Cameron 1989, 135-145 zitiert 2,11-14 betreffend zunächst die Übersetzung der RSV, weil sie gewöhnlich die wörtlichste sei. Dann arbeitet er die verschiedenen Übersetzungsprobleme der Passage heraus und vergleicht die Lösungen, die die sieben modernen Bibelübersetzungen GNB, NJB, NEB, NIV, Moffatt, Knox und Phillips bieten. Schließlich gibt er eine eigene Übersetzung.
H. A. Brehm 1994/95, 11-16 legt dar, dass Paulus‘ Verhältnis zu den „Säulen“ Jerusalems zweideutig sei. Einerseits betone er die göttliche, nicht menschliche Herkunft seines Evangeliums und die Begrenztheit der Kontakte zu den „Säulen“, andererseits bezeuge er den Willen sich zu fügen, indem er den „Säulen“ das Evangelium vorlegt. Das Verhältnis sei nicht frei von Spannungen gewesen, wie der Konflikt mit Petrus/Kephas zeige. Die Art und Weise, wie Paulus mit Konflikten umgeht, sei für Christen der Gegenwart beispielhaft.
B. Holmberg 1995, 767-780 verweist darauf, dass Tischgemeinschaft selbst in der Bibel nicht immer vergnüglich und friedlich ablaufe. 2 Thess 3,6-15 handele von der Aussetzung der Tischgemeinschaft, in 1 Kor 10,14-22 werde Tischgemeinschaft abgelehnt und in 1 Kor 11,17-34 und Gal 2,11-14 werde sie gefordert.
C. Böttrich 2002, 224-239 versucht, die Eigenheit des Konfliktes und die ansatzweise erkennbaren Lösungsstrategien zu begreifen. Lukas habe den Streit bekanntlich mit Schweigen übergangen bzw. auf wenige Andeutungen minimiert. Die Kirchenväter hätten versucht, die Harmonie zwischen Petrus und Paulus auf eine mehr oder weniger gewaltsame Weise doch noch irgendwie zu retten. Erst in der neueren Diskussion sei es gelungen, den Konflikt als solchen zu seinem Recht kommen zu lassen und ihn in den Gesamtkontext frühchristlicher Gemeindekonflikte einzuordnen. Darauf möchte C. Böttrich den Schwerpunkt seiner Beobachtungen legen. Methodisch könnten dabei verschiedene Einsichten aus der Konfliktforschung im Bereich der Sozialwissenschaften den Blick schärfen, auch wenn hier die Instrumentarien nicht einfach zu übertragen seien.
J. S. Vos 1994, 1-16 vertritt die Ansicht, dass sich Gal 1-2 in jeder Hinsicht als Antwort auf die Forderung nach Beschneidung oder Gesetzestreue verstehen lasse. Es sei nicht erforderlich, weitere Forderungen zu rekonstruieren.
F. E. Udoh 2000, 214-237 spürt dem Ursprung der außergewöhnlich negativen Einstellung des Paulus gegenüber dem jüdischen Religionsgesetz nach. Allgemein gesagt sei der Ursprung dieser Einstellung der grundsätzliche christliche Glaube, dass – für Juden gelte dies genauso wie für Heiden – Rettung nur durch den Eintritt in die messianische Bewegung durch den Glauben an Jesus Christus erlangt werden könne. Eine Besonderheit im Rahmen dieses Glaubens sei jedoch die grundsätzlich negative Einstellung des Apostels gegenüber dem Gesetz. Diese negative Einstellung sei auf dem historischen Hintergrund der Diskussion über die Regeln für die Einbeziehung der Heiden und – genauer gesagt – dem Beharren einiger Judaisten darauf, dass Heiden jüdische Bundesidentität annehmen müssten, zu verstehen. Drei historische Zeitpunkte hätten zu Höhepunkten des Konfliktes geführt: a) Paulus‘ zweiter Besuch in Jerusalem; b) Petrus‘ Besuch in Antiochia; c) die Krise in Galatien. Der eigentliche Ursprung der negativen Einstellung zum Gesetz sei jedoch in der Krise in Galatien zu suchen.
W. Dumbrell 1992, 91-101 meint, dass die Frage nach dem Wesen der Rechtfertigung für Paulus zentral im Hinblick auf die Frage, was christliche Identität begründet, sei. Er widmet sich in seinem Aufsatz insbesondere Gal 2,11-21; Gal 3; Röm 3,21-31 und Röm 4,1-8.
P. C. Böttger 1991, 77-100 betont die Bedeutung der geschichtlichen Dimension für das Verständnis von Gal 2,11-21. Die geschichtliche Dimension der Rechtfertigungslehre des Paulus mache klar, wieso das Durch-das-Gesetz-gerecht werden wollen ein aussichtsloses Unterfangen ist. Hier hätten wir keine Chance – nicht deswegen, weil wir durch das Gesetz nicht gerecht werden können, sondern weil wir durch das Gesetz nicht gerecht geworden sind.
D- Lührmann 1980, 271-286 vertritt die Meinung, dass in der Diskussion um den Vollzug des Abendmahls nicht ausreichend geklärt sei, was das Abendmahl ist. Die Bedeutung der Frage des Abendmahls zeige sich an der auffälligen Tatsache, dass immer wieder am Abendmahl kirchliche und theologische Verständigungsbereitschaft ihre Grenze findet. An Gal 2,11ff. könne man laut D. Lührmann lernen, wie im konkreten Fall theologischer Streit geboten ist und ökumenische Harmonie der „Wahrheit des Evangeliums“ entgegensteht. Man könne an ihm lernen, was jedenfalls Paulus unter theologischer Argumentation verstand. Man könne vor allem aber wohl aus ihm lernen, dass es Kirche nicht gibt ohne Abendmahlsgemeinschaft.
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Beobachtungen: V. 12 nennt den Grund für das Einschreiten des Paulus: Bevor die „Leute des Jakobus“ eintrafen, verhielt sich Kephas so, wie es Paulus für richtig hielt: Er aß zusammen mit den „Heiden“ - gemeint sind hier sicherlich Heidenchristen (vgl. die Beobachtungen zu V. 13). Um welche Mahlzeiten es sich handelte, bleibt offen. Es kann sich um gewöhnliche Mahlzeiten, aber auch um mit dem kultischen „Herrenmahl“ verbundene Sättigungsmahle gehandelt haben. Die Art des Mahles spielt aber auch keine Rolle, weil es auf die grundsätzliche Frage ankommt, inwieweit Heiden- und Judenchristen miteinander essen können.
Für Paulus ist klar: Da die Gemeinde Christi eine Einheit darstellt und Heidenchristen nicht an jüdische Speisegebote gebunden sind, sollten auch Judenchristen auf das Befolgen der Speisegebote verzichten. Nur so kann wirkliche Gemeinschaft bei Mahlzeiten hergestellt werden. Aus judenchristlicher Sicht sieht die Lage anders aus: Der Jerusalemer Entschluss, die Heidenmission ohne weitere Auflagen zuzulassen, besagt nur, dass Heidenchristen sich nicht an die jüdischen Speisegebote halten müssen. Für Judenchristen gilt eine solche Befreiung jedoch nicht. Aus judenchristlicher Sicht kann es folglich keine wirkliche Tischgemeinschaft geben, sondern nur eine, bei der den Judenchristen die Möglichkeit der Einhaltung der Reinheits- und Speisegebote ermöglicht wird. Sofern dieser Bedingung nicht entsprochen wird, können Heiden- und Judenchristen nicht miteinander essen.
Aus jüdischer und judenchristlicher Sicht können Speisen aus verschiedenen Gründen unrein sein: Die vorgesetzten Speisen können mit dem heidnischen Götzenopferkult in Verbindung stehen (vgl. Ex 34,15). Selbst für Heidenchristen stellt sich das Problem der Zulässigkeit des Essens solcher Speisen und damit auch das Problem der Tischgemeinschaft mit Heiden (vgl. 1 Kor 8,1-13; 10,14-22). Das vorgesetzte Fleisch kann von unreinen Tieren stammen (vgl. Lev 11,1-20). Auch Früchte oder Korn dürfen unter bestimmten Umständen nicht gegessen werden (zu den einzelnen Bestimmungen siehe Lev 19,23-24; 23,10.14). Schließlich können die vorgesetzten Speisen auch falsch zubereitet sein. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn man das Fleisch nicht richtig ausbluten lässt (vgl. Lev 17,10-14; Dtn 12,23-25 u. ö.) oder das Fleisch des Ziegenböckchens in der Milch seiner Mutter gart (vgl. Ex 23,19). Aber nicht nur die Speisen können unrein sein, sondern beispielsweise auch die Gefäße, in denen man sie aufbewahrt hat (vgl. Lev 11,32). Von Unreinem sollen sich Juden und Judenchristen fernhalten, weil die Unreinheit übertragen wird. Dem Zwecke der Reinheit dienen die verschiedenen Reinheitsgebote, wozu das Waschen von Gegenständen ebenso gehört wie das Waschen des Körpers und von Körperteilen, z. B. der Hände vor dem Essen (vgl. Mk 7,2-4).
Kephas aß vor dem Eintreffen der „Leute des Jakobus“ mit den Heidenchristen mit. Dabei bleibt offen, ob er dies bereitwillig tat oder sich überreden lassen musste. Für ein gewisses Maß an Freiwilligkeit spricht V. 14. Auf jeden Fall aß Kephas nicht nur einmal mit ihnen, sondern mehrfach (Imperfekt!), vielleicht sogar immer. Sein Verhalten änderte sich jedoch, als die „Leute des Jakobus“ eintrafen.
Wer die „Leute von Jakobus“, die in Antiochia eintrafen, genau waren und was sie in Antiochia vorhatten, schreibt Paulus nicht. Sie können der dortigen Gemeinde einen gewöhnlichen Besuch abgestattet, aber auch in irgendeiner Form eine Kontrollfunktion ausgeübt haben. Deutlich wird nur, dass sie in irgendeiner Form mit Jakobus, vermutlich dem Bruder des „Herrn“, verbunden waren, ihn vielleicht in hohem Maße schätzten oder von ihm sogar nach Antiochia gesandt worden waren. Ob sie an der Unterredung in Jerusalem teilgenommen hatten, ist möglich, jedoch nicht sicher. Von daher ist eine Identifikation der „Leute des Jakobus“ mit den „Falschbrüdern“, denen sich Paulus nicht gebeugt hatte (vgl. Gal 2,4-5) reine Spekulation. Allerdings dürften sie wie die „Falschbrüder“ überzeugte Judenchristen gewesen sein, die dem Gedanken an ein Heidenchristentum mindestens kritisch gegenüberstanden. Sicher ist, dass ihr Eintreffen großen Einfluss auf das Verhalten der schon in Antiochia anwesenden Judenchristen hatte.
Die Änderung des Verhaltens des Kephas machen die Verben „hypostellô“ und „aphôrizô“ deutlich: „hypostellô“ bedeutet eigentlich „sich zurückziehen“. Da allerdings das folgende Verb „aphôrizô“ mit „sich absondern“ zu übersetzen ist, was der Bedeutung „sich zurückziehen“ gleichkommt, ist wohl eher anzunehmen, dass „hypostellô“ hier „sich verstellen“ meint. Diese Vermutung wird dadurch gestützt, dass beide Verben in der Zeitform Imperfekt stehen, also einen länger andauernden Zeitraum meinen. Es ist also nicht so, dass auf den punktuellen Vorgang des Rückzuges die über einen längeren Zeitraum andauernde Absonderung folgte.
Wie ist das Verhalten des Kephas zu erklären? Paulus merkt an, dass sich Kephas „vor denen aus der Beschneidung“, also den judenchristlichen „Leuten des Jakobus“ fürchtete. Ob er aber wirklich vor diesen - vielleicht wegen deren besonderen Stellung in der Jerusalemer Gemeinde - Angst hatte, ist fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass sich für Kephas einfach nur die Sachlage änderte und er den Weg des geringsten Widerstandes ging. Bis zum Eintreffen der „Leute des Jakobus“ orientierte sich Kephas’ Verhalten am Gedanken der christlichen Einheit. Da er als Judenchrist - allein oder mit nicht ausdrücklich erwähnten judenchristlichen (?) Begleitern - in einer mindestens teilweise heidenchristlichen Gemeinde zu Gast war, orientierte er sich an heidenchristlichen Gepflogenheiten. Ansonsten hätte er nicht mit seinen zumindest teilweise heidenchristlichen Gastgebern essen können und sich vor diesen für sein Verhalten vor diesen rechtfertigen müssen. Als aber die „Leute des Jakobus“ eintrafen, änderte sich die Lage: Die Zahl der judenchristlichen Gäste hatte zugenommen und dazu handelte es sich bei den neu eingetroffenen Gästen um solche, die an der Fortführung ihrer bisherigen, an den jüdischen Satzungen und Geboten orientierten Lebensweise festhielten. Aus judenchristlicher Sicht hatten sie durchaus gute Argumente für sich, sodass Kephas bezüglich seines Verhaltens in Erklärungszwang gekommen wäre. Vermutlich war es dieser Erklärungszwang vor den „Leuten des Jakobus“, den er fürchtete, zumal sein Verhalten sicherlich in Jerusalem bekanntgemacht und möglicherweise angeprangert worden wäre. Da er eine angesehene „Säule“ der Gemeinde war (vgl. Gal 2,9), hatte er durchaus etwas zu verlieren. Folglich ging Kephas den Weg des geringsten Widerstandes und vermied eine Auseinandersetzung mit den „Leuten des Jakobus“, indem er wie selbstverständlich mit ihnen zusammen aß. Paulus interpretiert dieses Verhalten als Heuchelei. Inwiefern unter den judenchristlichen Gästen die bisherige Tischgemeinschaft des Kephas mit den Heidenchristen angesprochen worden und diskutiert worden ist, bleibt offen.
Weiterführende Literatur: E. E. Popkes 2004, 253-264 geht davon aus, dass der älteste und prominenteste Textzeuge Papyrus 46 die ursprüngliche Textgestalt biete. Gemäß dieser Textgestalt (Singularformen „tina“ und „êlthen“ statt der Pluralformen „tinas“ und „êlthon“) wäre das von Paulus getadelte Verhalten des Petrus nicht durch eine Gruppe von Jakobusanhängern provoziert worden, sondern nur durch eine einzelne Person. Und: Die Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen wäre – dies geht aus der Pluralform „synêsthion“ statt der Singularform „synêsthien“ hervor – nicht nur von Petrus, sondern von einer Gruppe praktiziert worden. Im Gegensatz zu Gal 2,12 spreche Apg 15,1 zweifelsfrei von einer Gruppe, die den antiochenischen Konflikt ausgelöst haben soll. Ein Vergleich von Gal 2,12 und Apg 15,1.24 zeige, dass sich die Beschreibungen der nach Antiochien kommenden Gesandtschaft kategorisch unterscheiden. Dass Apg 15,1 von einer Gruppe spricht, erkläre sich nicht aus einer textgeschichtlichen Wirkung von Gal 2,12, sondern aus theologischen Intentionen des Verfassers der Apostelgeschichte („Lukas“) bzw. dessen Quellen. Diese harmonisierten das Verhältnis von Paulus, Petrus, Jakobus und Barnabas, indem sie den Konfliktauslöser und das Konfliktpotenzial modifizierten. Apg 15,1-29 projiziere zwei Konflikte ineinander, die im Galaterbrief chronologisch und thematisch unterschieden sind. Textgeschichtlich sei zu vermuten, dass Textzeugen wie A, C, D² die von Papyrus 46 gebotene Textgestalt von Gal 2,12 zugunsten der lukanischen Darstellung korrigierten.
P. E. Koptak 1990, 97-113 untersucht, wie die Sprache beschaffen ist, mit der Paulus in dem autobiographischen Bericht Beziehungen zu anderen Menschen beschreibt. Im Hinblick auf den „Antiochenischen Zwischenfall“ heißt es, dass das offenbarte beschneidungsfreie Evangelium in einen Gegensatz zur menschlichen Autorität gesetzt werde. Die Bevorzugung des menschlichen Willens gegenüber dem göttlichen bringe Teilung in die frühere Einheit der Kirche.
M. A. Botma 2000, 743-777 hält die Formulierung „in Christus“ für die Grundlage der paulinischen Ekklesiologie. „In Christus“ sein bedeute an der Sache Jesu teilzuhaben. Teilhabe bedeute auch, dass der Gläubige Teil der Kirche wird. Allerdings seien die Meinungen hinsichtlich der Frage auseinandergegangen, was denn unter der Sache Jesu zu verstehen sei. Die einen hätten die Beschneidung und das Halten der jüdischen Satzungen und Gebote als notwendig erachtet, die anderen – wie die antiochenischen Christen – auf beides verzichtet. Der Begriff „ekklêsia“ („Gemeinde/Kirche“) sei in Abgrenzung zum Begriff „synagôgê“ („Synagoge“) gewählt worden, den man mit Christen in Verbindung gebracht habe, die dem jüdischen Gesetz treu blieben.
C. Burfeind 2005, 189-191 legt dar: Während es für Lukas in Apg 15 vorrangig um die beschneidungsfreie Heidenmission gehe und er die Frage jüdischer Integrität nur am Rande und ohne weitere Folgen für den Fortgang der Erzählung erwähne, seien für Paulus die Beschneidungsforderung an die Heiden und die Frage nach der Gültigkeit von Tora und Halacha für die Juden von Anfang an untrennbar miteinander verknüpft.
Ausführlich zum antiochenischen Zwischenfall als Konflikt in der frühen Kirche im Hinblick auf die Frage, wie das Verhältnis zum Judentum beschaffen ist, siehe B. Holmberg 1998, 397-425.
Eine textsemiotische Studie zu Gal 2 und Apg 15,1-35 bietet B. Jürgens 1999. Die Studie zeigt, wie beide Texte im Rückgriff auf dasselbe normativ verstandene Ereignis recht divergente Selbstkonzepte entwickeln und legitimatorisch abstützen. Während Lukas das Jerusalemer Abkommen als gelungene interkulturelle Verständigung schildere, bei der die Jerusalemer Gemeinde in den Heidenchristen ein endzeitliches Gottesvolk nach Vorbild und Maßgabe Israels erkenne, nehme Paulus das kompromittierende Betragen führender Judenchristen in Antiochia zum Anlass, mit Nachdruck auf die eschatologische Annullierung ritueller Vorzüge Israels gegenüber den Heidenchristen hinzuweisen. So zögen Paulus und Lukas im Rückblick nicht nur unterschiedliche Folgerungen für den aktuellen Status der Heidenchristen unter gemeinschaftsbegründender, handlungsorientierender und ritueller Perspektive; sie beurteilten auch den paradigmatischen Charakter des Jerusalemer Abkommens kontrovers: Was bei Paulus Gegenstand einer kritischen Erinnerung sei, inszeniere Lukas als charismatisches Stiftungsereignis.
J. D. G. Dunn 1983, 3-57 deutet den antiochenischen Zwischenfall folgendermaßen: Die frühen Christen seien vom Judentum nicht getrennt oder unterschieden gewesen. In der Zeit des antiochenischen Zwischenfalls hätten die Christen, wie auch die anderen Juden, eine zunehmende Bedrohung ihrer religiösen und kulturellen Institutionen befürchtet. Als Antwort auf diese angenommene Bedrohung hätten einige Christen, zu denen auch Jakobus und seine Anhänger gehört hätten, eine stärkere Beachtung jüdischer Gebote eingefordert. So sei auch Petrus kritisiert worden, weil er mit Heidenchristen gegessen habe, die nur einen Teil der Speisegebote befolgt haben. Als Reaktion auf diese Kritik habe sich Petrus von den Heidenchristen abgegrenzt. Paulus wiederum habe Petrus wegen dessen Reaktion kritisiert und die Rechtfertigung aufgrund des Glaubens betont. Petrus habe die Kritik zu keiner Verhaltensänderung bewegt, was schließlich zum eigentlichen Wendepunkt geführt habe: zu einer Entfremdung der beiden Missionare und schließlich auch der antiochenischen Gemeinde vom jüdischen Christentum geführt habe, die in die selbstständige Heidenmission gemündet sei. Paulus habe jetzt die Glaubensgerechtigkeit der Gesetzesgerechtigkeit gegenübergestellt. J. L. Houlden 1983, 58-67 bringt bezüglich dieser These insbesondere folgende Kritikpunkte an: a) Glaubensgerechtigkeit und Gesetzesgerechtigkeit seien seit Ostern gegenübergestellt worden, nicht erst seit dem antiochenischen Zwischenfall von Paulus; b) sollte das gesetzeskritische Jesusbild des Markusevangeliums stimmen, müsste der Jakobusflügel abgefallen sein; c) der historische Tatsachengehalt der Apostelgeschichte, die eine lukanische, geschichtliche Ereignisse theologisch deutende Konstruktion sei, werde überschätzt;; d) die Kollekte beweise, dass Paulus keinen vollständigen Bruch mit Jerusalem vollzog. Auch D. Cohn-Sherbok 1983, 68-74 setzt sich kritisch mit J. D. G. Dunns These auseinander, die er für zu spekulativ hält. Vom NT her lasse sie sich nicht belegen.
S. A. Cummins 2001, 161-188 liest 2,11-14 auf dem Hintergrund der makkabäischen Tradition. Petrus‘ Rückzug von der Tischgemeinschaft erinnere an den Widerstand der makkabäischen Revolutionäre und Märtyrer gegen die Bedrohung der jüdischen Lebensart durch die Heiden. Auch Paulus‘ Haltung ähnele derjenigen der Märtyrer. Er stehe in der apokalyptischen Tradition (v. a. Dan 7,13-14), verstehe Jesus Christus als den endzeitlichen Erlöser. Er sehe eine Gefährdung der Tischgemeinschaft der gemischt heiden- und judenchristlichen antiochenischen Gemeinde mit dem Erlöser und verteidige die „Wahrheit des Evangeliums“ gegen eine Judaisierung des Glaubens.
J. D. G. Dunn 1997, 154-157 dagegen verweist auf zahlreiche Parallelen zwischen dem Qumran-Fragment 4QMMT und dem Galaterbrief und kommt zu dem Ergebnis, dass das Fragment diejenige theologische Haltung und halachische Praxis wiedergebe, die die Einstellung und Handlung von Petrus und den anderen Judenchristen in Antiochien prägten. Das heiße jedoch nicht, dass der Galaterbrief in Kenntnis des Qumran-Fragments verfasst wurde oder dass es sich bei den „einigen Leuten von Jakobus“ um Angehörige der Qumranbewegung oder zumindest um von dieser Bewegung beeinflusste Personen gehandelt hat.
P. F. Esler 1995, 285-314 (vgl. 1994, 52-69) kommt bei Berücksichtigung der sozialen Beziehungen im antiken Mittelmeerraum zu dem Ergebnis, dass Petrus von den antiochenischen Christen zur Lösung der durch die gemischte eucharistische Tischgemeinschaft verursachten Probleme die Beschneidung gefordert habe. Damit habe er – wie auch die gleichgesinnten Jakobus und dessen Leute - gegen die zuvor in Jerusalem getroffene Vereinbarung verstoßen, die die Anerkennung gemischter, juden- und heidenchristlicher eucharistischer Tischgemeinschaft in den paulinischen Gemeinden beinhaltet habe. Dass dieser Sachverhalt von vielen Auslegern geleugnet werde, sei mit der anachronistischen Übertragung moderner Vorstellungen von Fairness auf die in Gal 2,1-14 geschilderten Ereignisse zu erklären.
L. A. Jervis 2000, 45-62 legt dar, wie Petrus zwischen dem - von Jakobus und seinen Leuten vertretenen - pharisäischen und dem prophetischen Verständnis der Gesetzesinterpretation Jesu hin und her gerissen gewesen sei.
P. Richardson 1980, 347-362 sieht zwischen 1 Kor 9,19-23 und Gal 2,11-14 einen Widerspruch. Es stelle sich die Frage: Wenn Paulus für sich selbst Anpassung als ein legitimes Verhaltensprinzip ansieht und wenn Petrus in Antiochien schon ein gewisses Maß an Anpassungsfähigkeit gezeigt hat, warum kritisiert er dann so vehement, dass sich Petrus auch anpasst, als einige von Jakobus kommen? P. Richardson erklärt den Widerspruch damit, dass Petrus nach Paulus’ Meinung seine Missionsgrenzen (vgl. Gal 2,7-9) überschritten habe, was eine Spaltung zwischen ihm und Paulus bewirkt habe. Diese sei jedoch in der Folgezeit möglicherweise wieder überbrückt worden. D. A. Carson 1984, 296 vertritt dagegen eine andere Ansicht: Nicht ein Streit über Zuständigkeitsbereiche oder eine individualistische Auslegung des Anpassungsprinzips habe zur Haltung des Paulus in Antiochien geführt, sondern das Festhalten an der Stellung der Tora in der Heilsgeschichte, wie er sie versteht.
Kurz auf den Widerspruch zwischen 1 Kor 9,19-23 und Gal 2,11-14 geht auch D. Rode 2002, 346-347 ein.
J. McHugh 1991, 361-378 vertritt die These, dass Petrus in Antiochien Recht gehabt habe. Zwar habe Paulus sich ihm widersetzt, doch später (vgl. den Ersten Korintherbrief und den Römerbrief) habe er Petrus‘ Handlungsweise akzeptiert und empfohlen.
G. Hallbäck 1990, 310-314 versteht das Ergebnis der Zusammenkunft in Jerusalem als einen Kompromiss zwischen den wesentlichen Interessen der heidenchristlichen Missionare Antiochiens und der Judenchristen Palästinas: Die Heidenchristen seien bedingungslos akzeptiert, jedoch nicht in die judenchristliche Gemeinschaft integriert worden. Der Antiochenische Zwischenfall könne nur als Durchsetzung der Nicht-Integration auch in Antiochien verstanden werden, gegen die Paulus protestiere.
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Beobachtungen: Der Sinneswandel des Kephas’ bewegte auch andere anwesende Judenchristen zum Rückzug von der Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen. Ob es sich bei diesen um judenchristliche Glieder der antiochenischen Gemeinde, um Begleiter des Kephas oder um andere Gäste handelte, ist unklar. Wie auch immer: Diese Judenchristen scheinen nicht wie Kephas häufiger mit den Heidenchristen gegessen zu haben, sondern nur einmal oder zumindest selten (Aorist!). Von dem allgemeinen Sinnesumschwung, den Paulus als Heuchelei ansieht, wurde sogar Barnabas mitgerissen, der doch immerhin mit Paulus zusammen bei der Unterredung in Jerusalem gewesen war und ebenso wie dieser in der Heidenmission tätig war. Gerade von Barnabas hätte Paulus erwartet, dass es trotz seiner eigenen jüdischen Abstammung die heidenchristliche Sichtweise einnimmt.
Genau genommen ist von „loipoi Ioudaioi“, also nicht von den „übrigen Judenchristen“, sondern von den „übrigen Juden“ die Rede. Da jedoch Kephas eindeutig ein Judenchrist und nicht ein Jude ist, jedoch unter die „Ioudaioi“ fällt, und zudem kaum die Tischgemeinschaft von Heiden, Juden und Christen Thema sein dürfte, sondern nur die Tischgemeinschaft von Heiden- und Judenchristen, ist „Ioudaioi“ sicherlich mit „Judenchristen“ zu übersetzen. Analog dazu handelt es sich bei den in V. 12 erwähnten „ethnê“ mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um Heiden, sondern um Heidenchristen. Nur eine solche Interpretation ergibt hinsichtlich des gesamten zweiten Kapitels des Galaterbriefes einen logischen Gedankengang. Dass Paulus in 2,11-14 überhaupt die Begriffe „ethnê“ und „Ioudaioi“ benutzt, zeigt, wie schwach das christliche Einheitsgefühl in der Anfangsphase des Christentums ausgeprägt war. Judenchristen fühlten sich im Judentum verwurzelt und Heidenchristen im Heidentum.
Weiterführende Literatur: U. Schnelle 2000, 103-109 legt dar, dass die Vereinbarung in Gal 2,9 zwar die Gesetzesfreiheit für die Heidenchristen beinhalte, zugleich Paulus aber auch die grundlegende Bindung der Judenchristen an die Vorschriften der Tora akzeptiere. Diese Haltung nehme er auch beim antiochenischen Zwischenfall ein, denn er kritisiere nicht die Leute des Jakobus, sondern nur das widersprüchliche Verhalten des Petrus und seiner Nachahmer. Sowohl beim „Apostelkonzil“ als auch beim antiochenischen Zwischenfall gehe es allein um den Geltungsbereich der Tora für Nichtjuden und die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Der Status der Judenchristen sei unverändert geblieben, ausschließlich der rituelle Status der Heidenchristen habe zur Debatte gestanden. Die Rechtfertigungslehre des Galater- und Römerbriefes gehe jedoch einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie den Geltungsbereich der Tora auch für Judenchristen problematisiere. Paulus reagiere auf den Versuch der Statusveränderung für Heidenchristen, indem er seinerseits den bisherigen Status der Judenchristen relativiere.
Inwieweit Paulus und Apostel zur Zeit des antiochenischen Zwischenfalls noch zusammen arbeiteten, versucht A. J. M. Wedderburn 2003, 291-310 zu klären. Dabei erarbeitet er folgende Chronologie der Ereignisse. Zunächst habe die Zusammenkunft in Jerusalem stattgefunden, bei der Paulus noch von Barnabas als antiochenischem Gesandten begleitet wurde, dann seien die Missionsreisen im südlichen Asia Minor erfolgt (vgl. Apg 13-14). Danach sei es zum Streit zwischen Paulus und Barnabas gekommen, der zur Trennung der Wege führte (vgl. Apg 15,36-41). Es seien die in Apg 15,41-18,22 geschilderten Missionsreisen gefolgt. Schließlich sei es zu der in Gal 2,11-14 berichteten Auseinandersetzung in Antiochia gekommen und Paulus habe seine Missionsarbeit unabhängig von der antiochenischen Gemeinde durchgeführt.
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Beobachtungen: Aus Sicht des Paulus, der nun mit seiner Ansicht bezüglich der Tischgemeinschaft von Heiden- und Judenchristen zunehmend allein dastand, handelte es sich bei diesem Verhalten um ein Abweichen von der „Wahrheit des Evangeliums“.
Das Verb „orthopodeô“ setzt sich aus den Bestandteilen „orthos“ („gerade/recht“) und „pous“ („Fuß“) zusammen, bedeutet also „auf geraden Füßen stehen/gehen“. Diejenigen Judenchristen, die sich von der Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen abwenden, stehen/gehen im Hinblick auf die „Wahrheit des Evangeliums“ nicht auf geraden Füßen. Gemeint ist, dass sie nicht standhaft in der „Wahrheit des Evangeliums“ bleiben, sondern von dieser abfallen.
Paulus erläutert die Formulierung „Wahrheit des Evangeliums“ (vgl. Gal 1,5) nicht. Kern der „Wahrheit des Evangeliums“ dürfte aber das sündenvergebende Kreuzigungsgeschehen und die Auferstehung Jesu Christi sein (vgl. 1,4.16). Dieses betrifft Heiden und Juden gleichermaßen und fordert das gläubige Annehmen des Heilsgeschehens in der Taufe. Heidenchristen und Judenchristen gehören gemäß paulinischem Denken ein und derselben Gemeinde Christi an, weshalb eine Trennung der Judenchristen von den Heidenchristen beispielsweise beim Essen nicht in Frage kommt.
Aufgrund seines Widerwillens gegenüber der Trennung stellt Paulus den „heuchelnden“ Kephas zur Rede. Er macht deutlich, dass eine Trennung eigentlich auch nicht dessen Gesinnung entspricht. Kephas ist nämlich Judenchrist, hat jedoch mehrfach oder sogar ständig während seines Aufenthaltes in Antiochia zusammen mit den Heidenchristen gegessen. Dass dieses Verhalten aus Sicht des Paulus freiwillig geschehen ist und der wahren Gesinnung des Kephas entspricht, legt die präsentische Verbform „zês“ („du lebst“) nahe. Kephas lebt also nach heidnischer und nicht nach jüdischer Weise, wobei hier „heidnisch“ weniger als heidnisch im eigentlichen Sinn als vielmehr als nichtjüdisch zu verstehen ist. Wenn selbst der in der Jerusalemer Gemeinde angesehene und als „Säule“ bezeichnete Kephas nach heidnischer Weise lebt, kann er die Heidenchristen eigentlich nicht zur jüdischen Lebensweise zwingen.
Inwiefern die Absonderung Zwang ausübt, lässt sich von der besonderen Bedeutung der Einheit der Gemeinde Christi und der Tischgemeinschaft von Juden- und Heidenchristen her verstehen. Beharren nämlich die Judenchristen auf der Befolgung der jüdischen Speise- und Reinheitsgebote, so kann die Tischgemeinschaft nur dann gewahrt werden, wenn auch die Heidenchristen diese jüdischen Gebote befolgen. Dies kommt aber für Paulus insbesondere im Hinblick auf die noch nicht lange zurückliegende, wegweisende Unterredung in Jerusalem nicht in Frage. Dort ist nämlich ausdrücklich die Berechtigung der Heidenmission ohne weitere Auflagen bekräftigt worden (vgl. 2,1-10). Heidenchristen brauchen sich folglich nicht beschneiden zu lassen und auch nicht die jüdischen Satzungen und Gebote zu befolgen.
Weiterführende Literatur: Laut J. F. M. Smit 1985, 118-140 zeige eine rhetorische Analyse der formalen Entsprechungen, der Argumentation und des Stils von 2,14b-21, dass eine eindeutige Entsprechung zwischen 2,14b-17 und 2,18-21 existiert. Hinter einer Anzahl verschiedener stilistischer Techniken verborgen, wiederhole Paulus seine Argumentation in Form und Inhalt. Darüber hinaus sei 2,11-21 als stimmige Einheit anzusehen.
Eine Studie zur Bedeutung der Formulierung „Wahrheit des Evangeliums“ ist das Buch J. J. Bartolomé 1988. Der Ausdruck impliziere, dass christliche Freiheit in Übereinstimmung mit der Gemeinschaft der verschiedenen Apostel und Missionen sein müsse. Jüdische Gesetzestreue zur Bedingung für christliche Gemeinschaft machen zu wollen, führe zu deren Zerstörung. Daher betone Paulus die Bedeutung des Glaubens.
R. Jewett 1994, 240-252 meint, dass das „Evangelium“ meist nur vom theologischen Blickwinkel aus betrachtet werde und dabei die soziale Dimension zu kurz komme. Laut R. Jewett verstehe Paulus das „Evangelium“ als eine Botschaft, die eine neue Form der Tischgemeinschaft begründete. Bei dieser hätten zum Christentum bekehrte Juden und Heiden ihre kulturellen Traditionen zweier verschiedener, unversöhnlicher Gruppen überwunden, um gemeinsam an sakramentalen Liebesfeiern teilzunehmen.
T. L. Donaldson 1989, 655-682 befasst sich mit dem Gegensatz Tora – Christus. Schon als Jude habe Paulus einen Gegensatz gesehen, doch stelle sich die Frage, inwiefern er von Christus eine Gefahr ausgehen sah. Ergebnis: Die Ablehnung sei nicht nur mit Dtn 21,22-23 zu begründen, wonach jeder, der am „Holz“ hängt, verflucht ist. Entscheidender sei die grundsätzliche Rivalität von Tora und Christus im Hinblick auf die Bedeutung bei der Erlösung.
T. Holtz 1986, 345-346 hält die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit das Verb „ioudaizein“ polemisch-überhöht gebraucht ist, für schwierig. Es benenne eine am Judentum orientierte Lebensweise, die aber nicht die des Juden selbst ist oder doch nicht zu sein braucht. In jedem Fall sei aber wohl ein bemerkenswertes Maß an Übernahme jüdischen Lebensstils gemeint. Gleichwohl dürfe man nicht einfach folgern, Petrus habe von den Heidenchristen ein tiefgreifendes Judaisieren verlangt. Nach dem Urteil des Paulus bedeute jede Forderung auf Einhaltung des Gesetzes die Aufhebung des Evangeliums von der Gnade Gottes, das Außergeltungsetzen des Todes Christi und damit Rückkehr in das Judentum. So könne er denn schon eine in den Augen des Petrus und der anderen antiochenischen Judenchristen nur sehr zurückhaltende Erwartung auf Meiden von Verunreinigendem seitens der Heidenchristen im Interesse des Zusammenlebens mit den Judenchristen als Nötigung zum „ioudaizein“ beurteilen und dem mit aller Konsequenz entgegentreten.
C. R. Holladay 2003, 429-460 untersucht, wie hellenistisch-jüdische Autoren, darunter auch Paulus, ethnische Identität thematisieren. Dabei beleuchtet er auch die verwendete Terminologie.
Mit dem Übergang von V. 14 zu V. 15 befasst sich H. Neitzel 1983, 142-149.
Literaturübersicht
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