Auslegung und Bibliographie zur Bibel


Römerbrief

Brief des Paulus an die Römer

Röm 4,1-8

Studieren Sie die Bibel! Hier finden Sie einen Einstieg in die wissenschaftliche Auslegung von Bibeltexten mit Literaturangaben.

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Jede Seite enthält eine Übersetzung des jeweiligen Bibeltextes, sowie Beobachtungen (Vorbereitung der Auslegung), Hinweise zu weiterführender Literatur und eine abschließende Literaturübersicht.

Röm 4,1-8



Übersetzung


Röm 4,1-8:1 Was sollen wir nun sagen, hat Abraham, unser Urvater dem Fleische nach, gefunden? 2 Denn wenn Abraham aufgrund von Werken gerechtfertigt wurde, hat er Ruhm. Aber [das stimmt] nicht bei Gott. 3 Was sagt nämlich die Schrift? „Abraham aber glaubte (dem) Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet.“ 4 Dem, der Werke tut, wird der Lohn nicht nach Gnade sondern nach Schuldigkeit angerechnet. 5 Dem aber, der keine Werke tut, sondern an denjenigen glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zu[r] Gerechtigkeit angerechnet. 6 Wie ja auch David die Seligpreisung ausspricht über den Menschen, dem (der) Gott Gerechtigkeit ohne Werke anrechnet: 7 „Selig sind, denen die Gesetzlosigkeiten vergeben und denen die Sünden bedeckt wurden. 8 Selig ist ein Mann, dem [der] Herr Sünde nicht anrechnet.“



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V. 1


Beobachtungen: 4,1-8 ist der Beginn der Erörterung „Abraham und die Glaubensgerechtigkeit“, der 4,1-25 umfasst und auf die Darlegung der Rechtfertigungslehre 3,21-31 folgt. Die Rechtfertigungslehre bezieht Paulus nun auf Abraham und die mit diesem „Urvater“ verbundenen Geschehnisse zur Zeit der Anfänge des Volkes Israel. Eine Parallele zu den Erörterungen findet sich in Gal 3,6-14.


Die Frageeinleitung „Ti oun eroumen...?“ („was sollen wir sagen“) ist typisch für den Stil einer Diatribe („diatribê“ = „Unterredung“), eine von rhetorischen Fragen, Zitaten und Sprüchen, ironischen Aussagen, fiktiven Reden, Paradoxien sowie Antithesen und Parallelismen geprägte Unterredung. Dabei ist jedoch nur der Gesprächspartner an sich fiktiv, nicht jedoch dessen Gedankengut. Dieses ist durchaus real und dürfte Paulus bei verschiedenen Begegnungen mit Menschen begegnet sein.


Man kann „Ti oun eroumen...?“ („Was sollen wir sagen“) als eigene Frage lesen, auf die als zweite Frage „Haben wir befunden, dass Abraham unser Urvater dem Fleische nach ist?“ folgt. Eine solche Aufteilung würde aber voraussetzen, dass die leibliche Abstammung von Abraham im Folgenden thematisiert wird, was nicht der Fall ist. Vielmehr geht es darum, ob Abraham die Werke oder der Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet wurden. Die Thematisierung der leiblichen Abstammung von Abraham wäre angesichts der Klarheit des Sachverhaltes auch verwunderlich: Bei Juden liegt sie vor, bei Nichtjuden nicht. Selbst wenn Paulus verdeutlichen wollte, dass es auf die Abstammung dem Glauben nach (vgl. Gal 3,7) ankommt, wäre die Antwort im Hinblick auf die leibliche Nachkommenschaft klar. Folglich ist anzunehmen, dass V. 1 als eine einzige Frage zu lesen ist.


Fraglich ist der Bezug von „dem Fleische nach“. Folgende zwei Verständnismöglichkeiten gibt es: a) „Abraham, unser Urvater dem Fleische nach“; b) „Was...hat Abraham, unser Urvater, dem Fleische nach gefunden?“

Erstere Lösung lässt Abraham als den leiblichen „Urvater“ - gemeint ist ein in der Frühgeschichte eines Volkes bedeutender Mann, auf den sich die später lebenden Volksangehörigen zurückführen - einer Wir-Gruppe erscheinen, wobei unklar ist, wer zu dieser Gruppe gehört. Der Brief ist an mehrheitlich heidenchristliche Empfänger (vgl. 1,5-6) in Rom gerichtet. Deren „Urvater dem Fleische nach“ ist Abraham sicherlich nicht, denn sie gehören nicht fleischlich dem Volk Israel an. Dem Fleische nach ist Abraham nur „Urvater“ der Juden. Diese Tatsache bedeutet aber noch nicht, dass der erstgenannte Bezug unmöglich ist. Liest man nämlich 4,1-8 als Diatribe, so ist von einem oder mehreren fiktiven Gesprächspartner(n) auszugehen. Bei diesem dürfte es sich um einen Juden handeln, wie die Thematik des Abschnitts zeigt. Da auch Paulus der Abstammung nach ein Jude ist, würden sowohl er selbst als auch der/die Angesprochene(n) zu der Wir-Gruppe dazugehören, die Abraham ihren „Urvater“ nennen können.

Die zweite Lösung wirft die Frage auf, was „dem Fleische nach finden“ bedeuten soll. Ein solches Finden wäre von demjenigen zu unterscheiden, das nicht dem Fleische nach erfolgt. Muss bei dem Finden dem Fleische nach der Körper beteiligt sein, was beispielsweise der Fall ist, wenn man etwas auf dem Weg findet? Oder ist gemeint, dass das Finden während der fleischlichen Existenz auf Erden erfolgt? Eine solche Deutung würde die Frage aufwerfen, ob man denn auch etwas außerhalb seiner fleischlich-irdischen Existenz finden kann. Diese Unklarheiten lassen daran zweifeln, dass die zweite Lösung die richtige ist.


Weiterführende Literatur: J. Jipp 2009, 217-242 ist der Ansicht, dass der diatribische Austausch in 3,27-4,1 die Argumentation des Paulus in 4,2-25 vorab ankündige. Paulus‘ Gesprächspartner bringe einen erkennbaren jüdischen Diskurs über Abraham ins Spiel, der Probleme im Hinblick auf das verkündigte Evangelium aufwerfe. In 4,16-25 beantworte Paulus die Frage seines Gesprächspartners, wie Abraham Erzvater sowohl der Juden als auch der Heiden sein könne. Paulus sehe die Erfüllung der Verheißung Gottes, dass dieser Abraham einen Sohn geben werde, als nicht durch Beschneidung vermittelt an, sondern durch Abrahams Vertrauen Gott gegenüber, der den Toten Leben schenkt.


Eine umfangreiche stilistisch-argumentative Analyse von 4,1-25 bietet D. López Sojo 2005.


A. J. Guerra 1988, 251-270 wendet sich gegen die Annahme, dass Röm 4 von jüdischer Schriftauslegung und Argumentation geprägt sei. Vielmehr handele es sich um ein Musterbeispiel apologetischer Schriftauslegung.


Eine betont lebensnahe Auslegung von Röm 1,17; 3,20 und 4,1-5, Aussagen zur Rechtfertigung aus Glauben, bietet H. Weder 1992, 28-36.


M. W. Palmer 1995, 200-218 geht davon aus, dass V. 1 mit „Was sollen wir sagen? Haben wir befunden, dass Abraham unser Urvater dem Fleische nach ist?“ zu übersetzen sei. Hier fehle - im Gegensatz zu anderen, ähnlichen schlussfolgernden Fragen - die Widerlegung der falschen Schlussfolgerung, dass Abraham „dem Fleische nach“ Vater der Christen sei. Diese Schlussfolgerung werde aufgrund der eigenen Erfahrung von einem großen Teil der Adressaten als eindeutig falsch erkannt, weshalb keine Widerlegung erforderlich sei. Folglich lasse der Apostel an dieser Stelle das vehemente „Mitnichten!“ fort.


T. H. Tobin 1995, 437-452 vergleicht die Darstellung Abrahams im Galaterbrief mit derjenigen im Römerbrief. Im Galaterbrief (3-4) erscheine Abraham nur als „Vater“ der zum Christusglauben gekommenen Heiden, nicht jedoch als „Vater“ der Juden. Im Römerbrief (4) dagegen sei Abraham sowohl „Vater“ der heidnischen Gläubigen als auch der jüdischen Gläubigen. Im Römerbrief komme Paulus bezüglich der Rechtfertigung ohne Gesetzesgehorsam zwar zu den gleichen Schlüssen wie im Galaterbrief, allerdings auf weniger kontroverse Weise.


P. B. Likeng 1980, 153-186 versucht zu erhellen, welche Verbindung Paulus zwischen Abraham und dessen „Kindern“ sowie zwischen Abrahams Glauben und dem seiner „Kinder“ zieht. Zu diesem Zweck unterzieht er 4,1-25 einer methodischen Analyse und geht auf bisher vorgebrachte Auslegungen ein.


P. Eisenbaum 2000, 494-519 befasst sich mit der Beziehung zwischen Abraham, den Heiden und der Christologie im Römerbrief, wobei der Schwerpunkt auf der Christologie liegt. Paulus verstehe sich implizit selbst als eine abrahamitische Person, die eine neue Art Familie gründet, und zwar eine, die aus Juden(christen) und Heiden(christen) gebildet ist. Einerseits ähnele Paulus‘ Selbstverständnis dem Leben Abrahams, andererseits stelle sich Paulus Abraham nicht in erster Linie als Glaubensvorbild für Heiden vor, wie gemeinhin angenommen werde, sondern eher als patrilinearer Vorfahre, der viele Völker umfasse und somit die Juden(christen) und Heiden(christen) als Familie gründe. P. Eisenbaums Ziel ist es zu zeigen, wie und warum Paulus das Kommen Christi mit der Aufhebung von Unterschieden bezüglich Juden(christen) und Heiden(christen) verbindet. Auf S. 505-506 geht sie konkret auf 4,1 ein.


R. B. Hays 1985, 76-98 hinterfragt die seiner Meinung nach gängige Auslegung, wonach es in 4,1 darum gehe, wie Abraham selbst gerechtfertigt wurde. Tatsächlich gehe es vielmehr darum, wessen „Vater“ er ist und wie seine „Kinder“ mit ihm verbunden sind. Es werde bekräftigt, dass Juden(christen) und Heiden(christen) gleichermaßen seine „Kinder“ sind und an dem Abraham von Gott zugesprochenen Segen teilhaben.


M. Cranford 1995, 71-88 hinterfragt die gängige These, dass Abraham von Paulus als ein Beispiel des christlichen Glaubens dargestellt werde. Eine solch starke Betonung des Glaubens sei für jüdische und judenchristliche Leser kaum einsichtig. Vielmehr werde anhand von Abraham gezeigt, warum Heiden(christen) als Glieder des Gottesvolkes angesehen werden können. Heiden(christen) hätten Anteil am Bund, weil auch sie Kinder Abrahams seien.


Zur „apokalyptischen“ Konstruktion einer kollektiven Identität bei Paulus siehe E. W. Stegemann 2009, 29-54, der auf Röm 1,3-4 (Sohn Davids und Sohn Gottes: Ein Gründungsmythos), 4,1-12 (Abraham als irdischer Ahnherr) und 9-11 (Same Abrahams und Abrahams Kinder) eingeht.


Während die große Mehrheit der Ausleger Jak 2,14-26 für eine mehr oder weniger polemische Reaktion auf Paulus‘ Theologie halte, versucht K. Haacker 1998, 177-188 zu zeigen, dass das in Jak 2,14 behandelte Thema nicht von der paulinischen Theologie, sondern von der synoptischen Tradition stamme. Der Jakobusbrief enthalte keine polemische Reaktion auf die paulinische Rechtfertigungslehre, sondern es gebe vielmehr ein Fortschreiten der jüdischen Tradition, die Jakobus in aller Unschuld teile und repräsentiere, hin zur neuen Deutung der Person Abrahams durch den Apostel Paulus. Wenn Jak 2,14-26 wirklich gegen eine möglicherweise bekannte Persönlichkeit des Urchristentums polemisiere, dann sei am ehesten an Petrus zu denken, der sowohl Repräsentant der synoptischen Tradition als auch Mann des Glaubens sei, allerdings nicht immer ein Mann, der auch tatsächlich dem Glauben entsprechend handelt.


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V. 2


Beobachtungen: Paulus greift möglicherweise die Behauptung von Juden auf, dass Abraham aufgrund von Werken gerechtfertigt worden sei. Doch wer sollte gemäß dieser Annahme Abraham gerechtfertigt haben? Dass die Rechtfertigung unvollkommen ist, ist nicht gesagt. Sollte Gott der Rechtfertigende sein, dann würde dies voraussetzen, dass es durchaus möglich ist, allein durch Werke vor dem richtenden Gott bestehen zu können. Da Paulus schreibt, dass Abraham im Fall der Rechtfertigung aufgrund von Werken bei Gott keinen Ruhm hätte, scheint die Rechtfertigung aufgrund von Werken bei Gott als unvollkommen zu gelten. Folglich dürfte es die Menschen sein, die den Abraham aufgrund von Werken gerechtfertigt hätten. In ihren Augen hätte Abraham aufgrund seines Verhaltens Ruhm erlangt. Auch könnte sich der „Urvater“ selbst rühmen. Gott dagegen würde eine solche Rechtfertigung seitens der Menschen nicht akzeptieren.


Weiterführende Literatur: Laut J. Lambrecht 1985, 365-369 seien in 3,27 mit „Werken“ Gesetzeswerke gemeint, also die Toraobservanz. Bei dem Rühmen im gleichen Vers handele es sich um das Rühmen von Juden. In 4,1-5 dagegen seien die „Werke“ weiter gefasst: sie beinhalteten hier sowohl die Werke als auch das Rühmen. Abraham und jeder andere Mensch könnten sich des eigenen Tuns rühmen. So weit es jedoch um die Rechtfertigung gehe, sei alles Rühmen ausgeschlossen, denn niemand könne genügend Werke vorweisen. Gott rechtfertige aus freien Stücken; hinsichtlich der Menschheit sei allein der Glaube Voraussetzung.


E. Gräßer 1998, 3-22 merkt an, dass ein Grundsatz des Apostels sei, dass niemand Gott gegenüber Ruhm geltend machen kann. Als Bedingung für das Heil scheide er wie jede andere menschlich geleistete Vorgabe aus. Auf diesem Felde zähle allein die Gnade. Insofern sei dann auch Abraham, der Stammvater aller Glaubenden, ruhmlos. Röm 4,2 lasse sich sowohl als Realis wie auch als Irrealis verstehen. Deute man im ersteren Sinn, dann mache Paulus seinen Gegnern, die der Überzeugung seien, dass Abraham vor Gott und den Menschen Ruhm habe (vgl. Jub 24,11; Sir 44,19-21) eine eingeschränkte Konzession: er habe wohl Ruhm, allerdings nur vor den Menschen, nicht vor Gott. Bei einer Deutung als Irrealis, bestritte Paulus dem Abraham jegliches Rühmen. V. 2 sage dann: „Wäre Abraham aufgrund von Werken (= aus Erfüllung des Gesetzes) gerechtfertigt worden, hätte er Grund zum Ruhm gehabt. Aber vor Gott kann man sich nicht rühmen.“ E. Gräßer neigt der Deutung als Irrealis zu.


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V. 3


Beobachtungen: In V. 3 zieht Paulus einen Schriftbeleg heran. Doch was belegt dieser? Sollte die gegebene Auslegung von V. 2 stimmen, so müsste das Zitat beweisen, dass Abraham aufgrund seiner Rechtfertigung aufgrund von Werken bei Gott keinen Ruhm hätte. Tatsächlich besagt das Zitat aber, dass Abraham nicht aufgrund seiner Werke sondern aufgrund seines Glaubens gerechtfertigt wurde. Und derjenige, der Abraham rechtfertigte, war - wie eindeutig aus dem ursprünglichen Zusammenhang des Zitats hervorgeht - Gott und nicht die Menschen. Daraus ist zu schließen, dass in V. 2 nicht ausgesagt ist, dass die menschliche Rechtfertigung Abrahams aufgrund von Werken vor Gott nichts gelten würde. Die Aussage lautet vielmehr, dass die (tatsächliche oder fiktive) Behauptung, dass Abraham aufgrund von Werken gerechtfertigt wurde und Ruhm hat, nicht bei Gott stimmt. Was „bei Gott“ stimmt, lässt sich in der „Schrift“, der hebräischen Bibel (= AT) finden, aus der Gott spricht. In diesem Fall spricht Gott aus Gen 15,6.


Das mit „anrechnen“ übersetzte griechische Verb „logizomai“ findet sich in Röm 4 gehäuft, ist also von besonderer Bedeutung. Wenn Abraham der Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet wurde, so bedeutet dies, dass die Gerechtigkeit nicht von ihm stammt, sondern von Gott. Dass die Gerechtigkeit keinesfalls ein eigener Verdienst ist, geht auch aus dem Zusammenhang des Zitats hervor. Der alte Abraham konnte nicht mehr aus eigener Kraft für Nachkommen sorgen. Angesichts dieses Sachverhaltes schien Gottes Verheißung von reicher Nachkommenschaft absurd zu sein. Dass sich die Verheißung erfüllte, war einzig und allein auf Gottes Wirken zurückzuführen. Abrahams Vertrauen in eine scheinbar absurde Verheißung wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet. Dabei ist das Verb „logizomai“ in Gen 15,6LXX (Gen 15,6: hebr. „hschb“) als Bewertung zu verstehen: Das Vertrauen wertete Gott als Zeichen, dass Abraham gerecht ist. Mit dieser Gerechtigkeit im Sinne des rechten Gottesverhältnisses ist eng die Verheißung des Bundes Gottes mit Abraham und seinen Nachkommen, dem Volk Israel, verbunden. Auch in Röm 4,3 ist das Verb „logizomai“ zunächst als Bewertung zu verstehen: Der Glaube des Menschen wird als rechte Antwort auf den Kreuzestod und die Auferstehung Jesu und damit als rechtes Verhältnis zu Gott, auf den die Heilsgeschehnisse zurückzuführen sind, gewertet Aus der Bewertung resultiert die Verheißung der Rechtfertigung (= Sündenvergebung). Die endgültige Rechtfertigung erfolgt jedoch erst beim Weltgericht Gottes bzw. Jesu Christi am Ende der Tage.


Weiterführende Literatur: W. Dumbrell 1992, 91-101 meint, dass die Frage nach dem Wesen der Rechtfertigung für Paulus zentral im Hinblick auf die Frage, was christliche Identität begründet, sei. Er widmet sich in seinem Aufsatz insbesondere Gal 2,11-21; Gal 3; Röm 3,21-31 und Röm 4,1-8.

A. T. Lincoln 1992, 163-179 liest Röm 4 unter einem seiner Meinung nach bisher vernachlässigten Gesichtspunkt: Paulus schreibe den Text nicht nur im Hinblick auf die Situation in Rom, die von Spannungen zwischen Heiden- und Judenchristen geprägt sei, sondern insbesondere auch auf seine eigene Lage, die eng mit derjenigen in Rom verzahnt sei. So stehe die Übergabe der Kollekte in Jerusalem unmittelbar bevor. Eine- noch ungewisse – Annahme der Kollekte würde zugleich die Akzeptanz der Einheit des aus Heiden- und Judenchristen bestehenden Christentums bedeuten. Angesichts dieser außergewöhnlichen Bedeutung der erhofften Annahme der Kollekte reflektiere Paulus in Röm 4 die Einheit des Christentums.


Im Weg Gottes mit Abraham, wie ihn Paulus in Röm 4,1-25 nachzeichne, bilde sich laut J. Adam 2009, 299-314 in hervorragender Weise das Grenzen überwindende Rechtfertigungsgeschehen Gottes gegenüber dem Sünder ab und werde durch Paulus als schriftgemäß erwiesen. Abraham werde durch den Glauben als Gerechter von Gott anerkannt und also gerechtfertigt; der Glaube selbst werde dabei von Gott geschenkweise empfangen und sei insofern die gottgewirkte Erfüllung der Bedingung, somit die Art und Weise, der Rechtfertigung. Im Glauben, wie er sich innerhalb der Abrahamsgeschichte heilsgeschichtlich vorabzeichne, werde die Rechtfertigung des Gottlosen nicht nur ermöglicht, sondern bleibend verwirklicht. Im Zum-Glauben-Kommen des Abraham erweise sich Gott als der Schöpfer , der das Nichtseiende ins Dasein ruft.


M. M. S. Ibita 2009, 679-690 befasst sich mit der Verwendung von Gen 15,6 in Röm 4. Zunächst gibt er einen Überblick über den historischen und literarischen Kontext von Röm 4 und beleuchtet den literarischen und historischen Kontext von Gen 15,6 im AT, dann nimmt er näher in den Blick, wie Paulus Gen 15,6 in Röm 4 verwendet, und zieht abschließend diesbezüglich Schlüsse.


P. K. Baaij 2005, 239-254 legt dar, dass Paulus in Röm 4,3 korrekt wiedergebe, was in Gen 15,5b-6 geschrieben steht. Paulus lehre, den hebräischen Text besser zu verstehen, indem er zeige, wo im hebräischen Text die Betonung liegt und wie die gebrauchten hebräischen Begriffe gedeutet werden sollten. Diese Deutung sei im Hinblick auf die Diskussion, wie die Bibel übersetzt werden sollte, von großer Wichtigkeit.


J.-N. Aletti 2003, 305-325 widmet sich folgendem Problem: Wenn Paulus zeigen wolle, dass Abrahams Situation normativ für alle Gläubigen ist, seien es Juden oder Nichtjuden, könne er sich nicht damit begnügen, Gen 15,6 heranzuziehen , denn dann könne man ihm entgegnen, dass die in 15,6 zu Grunde gelegte Situation eine einzigartige ist. Tatsächlich besage Gen 17 dass die Beschneidung die Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Nachkommenschaft Abrahams und die Teilhabe an den verheißenen Segnungen ist. Weder in Gal 3 noch in Röm 4 argumentiere Paulus direkt gegen das Beschneidungsgebot Gen 17,10-14. So werde die Frage nach der Gültigkeit der Beweisführung von Röm 4 aufgeworfen: Wieso zitiert Paulus (in Röm 4,17) Gen 17,5 und nicht Gen 17,10-14, dessen Autorität nicht in Frage gestellt werden könnte? Zweifelsohne spiele Paulus in Röm 4,11 auf Gen 17,10-11 an, allerdings ohne seine Leseweise zu rechtfertigen, womit er die Beschneidungsfrage als geklärt ansehe. Sollte letzteres nicht der Fall sein, sei seine Bekräftigung Röm 4,11 willkürlich und unbegründet. Würde das Schweigen des Apostels zur Beschneidungsfrage nicht den Juden nicht in seiner Annahme bestärken, dass Paulus dem eigentlichen Problem ausgewichen ist? J.-N. Aletti geht davon aus, dass die Bekräftigung Röm 4,11 durchaus im Vorhergehenden, nämlich 4,1-10, begründet worden sei. Röm 4 äußere sich implizit, aber deutlich zum göttlichen Gebot Gen 17,10-14. Dies versucht J.-N. Aletti im Einzelnen an den Zitaten Gen 15,6LXX und Ps 31,1-2LXX (= 32,1-2) darzulegen. Diese Zitate bildeten eine gezerah shawah, wie sie später von den Rabbinen gebraucht worden sei, und ermöglichten es dem Apostel, die Rolle der Beschneidung in Gen 17,10-14 originell und paradox zu deuten.


Einen Forschungsüberblick zur Frage, wie das Verb „logizomai“ („anrechnen“) zu verstehen ist, bietet M. F. Bird 2004, 261-267. Er vertritt selbst die Meinung, dass Röm 4 nicht behaupte, dass man aufgrund der zugeschriebenen Gerechtigkeit Christi gerechtfertigt werde oder dass Gott den Glauben als Bundesbefolgung anrechne. Vielmehr rechne Gott den Glauben als Bedingung für die Rechtfertigung an und rechtfertige Gläubige aufgrund ihrer Einheit mit Christus.


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V. 4


Beobachtungen: Von dem Zitat ausgehend machen V. 4-5 Aussagen, nach welchem Maßstab bei dem endzeitlichen Weltgericht geurteilt wird. Dabei werden das Tun von Werken und der Glaube im Sinne eines Gegensatzes gegenübergestellt. Ist daraus zu schließen, dass ein gläubiger Mensch keine guten Werke tut bzw. tun sollte? Angesichts der Bedeutung, die Paulus einer dem Glauben angemessenen Lebensführung beimisst, dürfte eine solche Schlussfolgerung verfehlt sein. Vielmehr geht es um die Frage, auf was ich im Hinblick auf meine Rechtfertigung am Ende der Tage vertraue. Vertraue ich auf das Tun von Werken, so schließt das das Vertrauen auf den Glauben aus. Das gilt auch umgekehrt. Bedenkt man, dass 4,1-8 vermutlich als eine Unterredung mit einem oder mehreren fiktiven Gesprächspartner(n) zu verstehen ist, dann erscheint das „Tun von Werken“ nicht als das Tun guter Taten im ethischen Sinn, sondern als das strenge Befolgen des jüdischen Religionsgesetzes.


Daraus folgt hinsichtlich der Auslegung von V. 4: Ausgesagt ist, dass jemandem, der auf die strenge Befolgung der einzelnen Satzungen und Gebote des jüdischen Religionsgesetzes vertraut, gemäß seinem Erfolg bei seinen Bemühungen vergolten wird. Der Lohn erfolgt streng nach dem Leistungsprinzip. Wer eine bestimmte Leistung bringt, dem steht ein entsprechender Lohn zu („Schuldigkeitsprinzip“). Die negative Seite dieser Vergeltung ist, dass jede Verfehlung den Lohn drückt, und zwar gnadenlos. Wer nicht auf die Gnade vertraut, kann nicht auf sie hoffen. Diese Gnadenlosigkeit herauszuheben, dürfte Ziel von V. 4 sein. Dabei bleibt offen, ob es möglich ist, alle Satzungen und Gebote des jüdischen Religionsgesetzes bis ins Detail zu halten. Diesbezüglich sind Zweifel angebracht, denn Paulus vermeidet in V. 4 anscheinend bewusst das Wort „Gerechtigkeit“.


Es fällt auf, dass Paulus auch im Hinblick auf die Vergeltung nach Schuldigkeit das Verb „logizomai“ benutzt. Nicht nur der Gnadenlohn kommt also von Gott, sondern auch der dem Leistungsprinzip entsprechende Lohn.


Weiterführende Literatur: A. A. Das 2009, 795-812 legt dar, dass zwar von Auslegern der „neuen Perspektive“ (insbesondere J. D. G. Dunn und N. T. Wright) erkannt worden sei, dass Paulus in seinen Briefen den Ethnozentrismus aufgebe, jedoch halte die Ansicht, dass Paulus die Gesetzeskritik auf den Ethnozentrismus beschränke, keiner Überprüfung stand. Vielmehr beziehe sich die Gesetzeskritik auch auf Werke, die abseits von Gottes Gnade in Christus erfolgen. Dafür sei insbesondere Röm 4,4-5 ein Beleg.


K. L. Yinger 1999, 182-187 legt dar, dass in 4,4-5 Abraham als gerecht ohne Werke dargestellt werde. Es gehe aber nicht darum, Gnade und Gesetzeswerke gegeneinander auszuspielen, sondern darum, die Bedingungen für die Zugehörigkeit zum Volk Gottes zu klären. Es sei bei der Deutung paulinischer Aussagen zwischen Texten, die vom Charakter der Gerechten sprechen, und Texten, die den Grund von Rechtfertigung thematisieren, zu unterscheiden.


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V. 5


Beobachtungen: Im Kontrast dazu tauchen in V. 5 sowohl das Wort „Gerechtigkeit“ als auch das Wort „Gnade“ auf. Gnade und Gerechtigkeit kommen demjenigen zu, der keine Werke tut, also nicht sein Heil in der Befolgung der Satzungen und Gebote des jüdischen Religionsgesetzes sucht. Ein solcher glaubender Mensch wird als gerecht bewertet und erhält die Verheißung der endgültigen Rechtfertigung im endzeitlichen Weltgericht.


Gott rechtfertigt den „Gottlosen“. Wer ist ein solcher „Gottloser“? Gottlos ist genau genommen jemand, der nicht an einen Gott glaubt. Aus jüdischer Sicht ist es jemand, der nicht den Gott der Juden, JHWH, verehrt. Die Juden glaubten im Altertum zwar nicht unbedingt nur an die Existenz eines einzigen Gottes, doch verehrten sie - dies war das Ergebnis einer sich über Jahrhunderte hinziehenden Entwicklung - nur einen einzigen, nämlich JHWH. Weil die anderen Götter als nichtig angesehen wurden, galten deren Verehrer als „gottlos“. Da mit dem Glauben auch ein entsprechendes Verhalten verbunden ist, ist aus jüdischer Sicht auch gottlos, wer gegen die Satzungen und Gebote verstößt, die ihm aufgrund des jüdischen Glaubens auferlegt sind. Und gottlos ist insbesondere auch der Mensch, der seinen Mitmenschen Unrecht antut und somit der Frevler schlechthin ist. Im Hinblick auf die Frage, wen Paulus in V. 5 konkret als „Gottlosen“ im Blick hat, ist zu bedenken, dass die Rechtfertigung den Glauben voraussetzt, und zwar den Glauben an Jesu Kreuzestod und Auferstehung. Diese Heilsgeschehnisse zwecks Sühne der Sünden der Menschen gehen auf den Heilsplan Gottes, des Vaters Jesu Christi, zurück. Paulus sieht Jesus Christus als den Messias an, der den Juden verheißen ist. Paulus ist gebürtiger Jude und deshalb verehrt er den gleichen Gott wie die Juden. Der Gott der Juden ist wiederum der Vater des verheißenen Messias’ der Juden, also von diesem nicht zu trennen. Ein „Gottloser“ ist aus Sicht des Paulus also ein Mensch, der an Gott und die mit dessen Sohn Jesus Christus verbundenen Heilsereignisse glaubt, denn sonst würde er nicht gerechtfertigt werden. Ob es sich um einen Angehörigen des Volkes Israel oder um einen Angehörigen eines anderen Volkes handelt, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass er sein Vertrauen auf den Glauben setzt. In diesem Sinne ist auch Abraham ein „Gottloser“, denn er ist der Vater der Gläubigen (vgl. Gal 3,7; im vorhergehenden Vers findet sich übrigens wie in Röm 4,3 ein Zitat von Gen 15,6LXX! Zum Bezug zwischen Abraham und Jesus Christus siehe Gal 3,16). Zugleich ist Abraham leiblicher „Urvater“ der Juden. Wie die anderen Juden auch sieht Paulus den „Urvater“ als einen Gesetzestreuen an. Die Geister scheiden sich bei der Antwort auf die Frage, wie sich die Gesetzeserfüllung gestaltet. Aus Sicht des Apostels erfüllt das Gesetz, wer sein Vertrauen auf den Glauben setzt und dementsprechend lebt (vgl. dazu die Beobachtungen zu Röm 3,31). Das sorgsame Befolgen der Satzungen und Gebote ist dazu nicht nötig. Dass Paulus einen solch positiv beurteilten Menschen wie Abraham mit dem negativen Begriff „Gottloser“ belegt, dürfte ein Affront gegenüber seinen fiktiven Gesprächspartnern, gesetzestreuen Juden, sein. Für sie ist Abraham natürlich kein „Gottloser“, sondern ein „Gerechter“. Nur im Lichte der Interpretation des Apostels, die Abraham als einen Menschen erscheinen lässt, der dem Befolgen der Satzungen und Gebote keine Beachtung schenkt, erscheint er aus ihrem Blickwinkel als ein solcher. Der Affront wird jedoch durch die Tatsache gemildert, dass auch die fiktiven Gesprächspartner möglicherweise Abraham als ursprünglich „Gottlosen“ ansehen, und zwar im Sinne seiner heidnischen Abstammung aus einer chaldäischen Familie aus dem Raum Ur. Durch die Beschneidung wurde aus dem „Gottlosen“ jedoch der erste Proselyt (= zum jüdischen Glauben Übergetretener) und somit „Urvater“ der Juden (vgl. Röm 4,9-12).


Weiterführende Literatur: Die Aussage, dass Gott den Gottlosen – hier: Abraham - rechtfertigt, sei so nicht im AT zu finden und müsse laut S. Kreuzer 2002, 208-219 angesichts der Bedeutung Abrahams im Judentum, gelinde gesagt, befremdlich gewirkt haben. Es sei wahrscheinlich, dass dieser scheinbar befremdlichen Aussage über Abraham eine zeitgenössische frühjüdische Vorstellung zu Grunde liegt, auf die Paulus Bezug genommen hat, auch wenn er sie bei seiner Argumentation zugespitzt und möglicherweise in seinem Sinn ausgewertet habe: Abraham könne als Gottloser bezeichnet werden, weil er – nach der vorauszusetzenden Einordnung von Gen 15 – tatsächlich als Gottloser berufen wurde; gottlos nicht in einem moralischen Sinn, sondern als Heide inmitten einer heidnischen Umwelt und auch ohne jegliche Voraussetzungen eines schon irgendwie begonnenen Weges. In dieser Hinsicht sei Abraham das Urbild und Urexempel für das voraussetzungslose Ausgreifen Gottes in die heidnische Welt und für die einzig mögliche und einzig legitime Reaktion auf das Handeln Gottes, nämlich sich vertrauensvoll auf die Verheißung Gottes einzulassen: „Abraham glaubte Gott, und er rechnete es ihm zur Gerechtigkeit“ (Gen 15,6).


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V. 6


Beobachtungen: V. 6 leitet zu einem Zitat hin, das den Maßstab des göttlichen Urteils bezeugt. Das Zitat wird als Ausspruch Davids bezeichnet und als „Seligpreisung“ charakterisiert. Selig wird derjenige gepriesen, dem Gott Gerechtigkeit ohne Werke anrechnet. Dabei ist „selig“ als „glückselig“ zu verstehen und beinhaltet hier vor allem zwei Aspekte: zum einen das Wohlergehen, zum anderen das „Glück“, unverdient mit Wohlergehen bedacht zu werden.


Weiterführende Literatur:


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V. 7/8


Beobachtungen: Die V. 7-8 sind eigentlich ein Zitat aus einem Bußpsalm (Ps 31,1-2LXX = 32,1-2), wobei dieser David zugeschrieben wird. Dass Paulus gerade dieses Zitat wählt, hängt vermutlich mit der von Paulus benutzten Auslegungsmethode „gesera schawa“ („gleiche Entscheidung“) zusammen. Bei dieser Methode werden Sätze, in denen gleiche oder gleichbedeutende Worte benutzt werden, zur gegenseitigen Auslegung herangezogen (Analogieschluss). Für den konkreten Fall Röm 4,1-8 bedeutet das: In Ps 31,1-2LXX findet sich ebenso das Verb „logizomai“ („anrechnen“) wie in Gen 15,6LXX. Ps 31,1-2LXX kann folglich zur Auslegung von Gen 15,6LXX herangezogen werden. Da die beiden Verse Röm 4,4-5 in einem engen Bezug zum Zitat Gen 15,6LXX (Röm 4,3) stehen, können auch sie mittels des Zitates Ps 31,1-2LXX ausgelegt werden.

Ps 31,1-2LXX erklärt genau genommen den Begriff „Gnade“. Gnade ist, wenn die Gesetzlosigkeiten vergeben und die Sünden bedeckt und somit unsichtbar gemacht werden. Solch vergebene Sünde wird nicht angerechnet. Die Gnade bewirkt, dass der Sünder schließlich vor Gott trotz seiner Sünden bestehen kann, also gerechtfertigt ist. Wäre Gott nicht gnädig, so würde er - wie es bei denjenigen der Fall ist, die ihr Heil auf das sorgsame Halten der jüdischen Satzungen und Gebote setzen - keinen Gesetzesverstoß vergeben, sondern jeden herausstellen und entsprechend bestrafen. Der Sünder würde nicht gerechtfertigt und könnte nicht auf das ewige Leben hoffen.


Das griechische Substantiv „anomia“ bedeutet „Gesetzlosigkeit“. Ein Jude hört sofort „nomos“ heraus, was „Gesetz“ im Sinne des jüdischen Religionsgesetzes bedeutet. Für ihn ist die „anomia“ also ein Verstoß gegen das jüdische Religionsgesetz. Auch das Substantiv „hamartia“ dürfte aus Sicht eines Juden - und die fiktiven Gesprächspartner des Paulus sind ja vermutlich Juden - als „Sünde“ im Sinne eines Gesetzesverstoßes zu interpretieren sein. Die mehrheitlich heidenchristlichen (vgl. Röm 1,5-6) christlichen Briefadressaten in Rom dagegen dürften eher noch an allgemeine ethisch-moralische Vergehen denken, obwohl auch ihnen die Problematik, wie als Heide mit dem jüdischen Religionsgesetz zu verfahren ist, bekannt sein dürfte.


Dass die Seligpreisung gerade aus dem Munde des Königs Davids kommt, ist nicht verwunderlich: Insbesondere aufgrund einer Begebenheit, die sowohl aus jüdischer als auch aus nichtjüdischer Sicht eindeutig als Vergehen zu bewerten ist, kann er nur auf die Gnade Gottes hoffen: So schwängerte David Batseba, die Frau seines hetitischen Leibgardisten Urija. Um den Ehebruch zu verdecken, ließ der König Urija vom Schlachtfeld zu sich nach Jerusalem rufen. Da sein Vorhaben misslang, sandte David Urija zum Schlachtfeld und ließ ihn bei der Schlacht so einsetzen, dass er fiel. Nach Urijas Tod wurde Batseba Davids Frau (vgl. 2 Sam 11,1-27; zu diesem Vergehen vgl. auch Ps 51, ein Bußpsalm).


Weiterführende Literatur: O. Hofius 1997, 72-90 legt dar, dass Paulus im Römerbrief (3,1-20; 4,6-8) dann Psalmen zitiere, wenn er sich mit strengen toratreuen Judenchristen, die in Paulus einen Apostaten erblickten und seine gesetzesfreie Evangeliumspredigt aufs schärfste bekämpften, auseinandersetze. Das heiße: Es sind jene Gruppen, die bereits beim Apostelkonzil und im antiochenischen Konflikt seine Gegner waren und deren Agitation er auch in Rom befürchten muss. Die Auseinandersetzung mit diesen Judenchristen habe im Römerbrief durchgehend ihren Niederschlag gefunden. Der von ihnen vertretenen theologischen Position gegenüber wolle der Apostel die Schriftgemäßheit seiner Rechtfertigungslehre aufzeigen.



Literaturübersicht


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