Röm 4,9-12
Übersetzung
Röm 4,9-12:9 Diese Seligpreisung nun, [ist sie] auf die Beschneidung oder auch auf die Vorhaut [gemünzt]? Wir sagen ja: „Abraham wurde der Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet.“ 10 Wie wurde er nun angerechnet? Als er in [der] Beschneidung war oder in [der] Vorhaut? Nicht in [der] Beschneidung, sondern in [der] Vorhaut! 11 Auch ein Zeichen empfing er, [nämlich das] der Beschneidung, als Siegel der Glaubensgerechtigkeit in der Vorhaut, auf dass er Vater aller derer sei, die im Zustand der Vorhaut glauben, auf dass ihnen die Gerechtigkeit angerechnet werde; 12 und Vater der Beschneidung für die, die nicht bloß aus [der] Beschneidung [leben], sondern auch (für die, die) den Fußstapfen des Glaubens unseres Vaters Abraham in [seiner] Vorhaut folgen.
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Beobachtungen: „Diese Seligpreisung“ bezieht sich auf die in 4,7-8 zitierte Seligpreisung, die David über den Menschen, dem Gott Gerechtigkeit ohne Werke anrechnet, ausspricht. Sie schließt die Kernaussage von V. 1-8 ab, dass Abraham sein Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet wurde, nicht aber seine Werke.
Die V. 9-12 sind eindeutig auf dem Hintergrund der Diskussion über die Frage zu verstehen, ob den Juden aufgrund ihrer Beschneidung und der Befolgung der atl. Satzungen und Gebote von Gott nicht eine besondere Gunst gewährt werde. Die in V. 1-8 erwähnten „Werke“ sind also in erster Linie nicht als gute Werke im allgemein ethisch-moralischen Sinn zu verstehen, sondern ganz konkret als Befolgen der jüdischen Satzungen und Gebote. Wieso formuliert Paulus, der seinen Brief doch an mehrheitlich heidenchristliche (vgl. 1,6) Adressaten richtet, so, als würde er an einen Juden schreiben? Das lässt sich damit begründen, dass V. 9-12 vermutlich Bestandteil einer Diatribe („diatribê“ = „Unterredung“) ist. Dabei handelt es sich um eine von rhetorischen Fragen, Zitaten und Sprüchen, ironischen Aussagen, fiktiven Reden, Paradoxien sowie Antithesen und Parallelismen geprägte Unterredung. Dabei ist jedoch nur der Gesprächspartner an sich fiktiv, nicht jedoch dessen Gedankengut. Dieses ist durchaus real und dürfte Paulus bei verschiedenen Begegnungen mit Menschen begegnet sein. In diesem Fall ist die Unterredung wohl an einen oder mehrere fiktive(n) Juden gerichtet, also an diejenigen Personen, von denen es am meisten Kritik an der paulinischen Rechtfertigungslehre gegeben haben dürfte. Die Kritiker gilt es zunächst einmal zu überzeugen. Die theologischen Kernaussagen wiederum, die sich der Unterredung entnehmen lassen, sind in besonderem Maße für die mehrheitlich heidenchristlichen Briefempfänger von Bedeutung. Es geht nämlich um die Frage, ob auch sie an der gnädigen Sündenvergebung Gottes Anteil haben können oder ob das Heilsgeschehen, das sich auf dem Boden des gelobten Landes abgespielt hat, nur für das Gottesvolk Israel relevant ist, also für die Beschnittenen, die die in der hebräischen Bibel verankerten Satzungen und Gebote halten.
Die Seligpreisung besagt, dass Gott dem Sünder seine Sünden nachlässt und sie nicht strafend vergilt. Dieser Sündennachlass kommt auf jeden Fall den Juden, dem Gottesvolk, zu - vorausgesetzt, sie glauben an den Messias Jesus Christus und das mit ihm verbundene Heilsgeschehen. Nun stellt sich die Frage, ob die Seligpreisung auch auf die zum Glauben gekommenen Heiden gemünzt ist.
Der Begriff „peritomê“ bedeutet „Beschneidung/Beschnittenheit“. Der Gegenbegriff „akrobystia“ meint dementsprechend die „Unbeschnittenheit“, ist aber genau genommen mit „Vorhaut“ zu übersetzen. Die Vorhaut, die die Eichel des Gliedes bedeckt, ist es, die den jüdischen Knaben bei der Beschneidung am achten Tage nach der Geburt ganz oder teilweise operativ entfernt wird (vgl. Gen 17,12; 21,4). Das Fehlen der Vorhaut ist also ein äußeres Zeichen der Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel, weshalb ein Mann, dessen Glied noch eine Vorhaut besitzt, mit Sicherheit kein Jude ist.
Weiterführende Literatur: Eine umfangreiche stilistisch-argumentative Analyse von 4,1-25 bietet D. López Sojo 2005.
A. J. Guerra 1988, 251-270 wendet sich gegen die Annahme, dass Röm 4 von jüdischer Schriftauslegung und Argumentation geprägt sei. Vielmehr handele es sich um ein Musterbeispiel apologetischer Schriftauslegung.
A. T. Lincoln 1992, 163-179 liest Röm 4 unter einem seiner Meinung nach bisher vernachlässigten Gesichtspunkt: Paulus schreibe den Text nicht nur im Hinblick auf die Situation in Rom, die von Spannungen zwischen Heiden- und Judenchristen geprägt sei, sondern insbesondere auch auf seine eigene Lage, die eng mit derjenigen in Rom verzahnt sei. So stehe die Übergabe der Kollekte in Jerusalem unmittelbar bevor. Eine- noch ungewisse – Annahme der Kollekte würde zugleich die Akzeptanz der Einheit des aus Heiden- und Judenchristen bestehenden Christentums bedeuten. Angesichts dieser außergewöhnlichen Bedeutung der erhofften Annahme der Kollekte reflektiere Paulus in Röm 4 die Einheit des Christentums.
Im Weg Gottes mit Abraham, wie ihn Paulus in Röm 4,1-25 nachzeichne, bilde sich laut J. Adam 2009, 299-314 in hervorragender Weise das Grenzen überwindende Rechtfertigungsgeschehen Gottes gegenüber dem Sünder ab und werde durch Paulus als schriftgemäß erwiesen. Abraham werde durch den Glauben als Gerechter von Gott anerkannt und also gerechtfertigt; der Glaube selbst werde dabei von Gott geschenkweise empfangen und sei insofern die gottgewirkte Erfüllung der Bedingung, somit die Art und Weise, der Rechtfertigung. Im Glauben, wie er sich innerhalb der Abrahamsgeschichte heilsgeschichtlich vorabzeichne, werde die Rechtfertigung des Gottlosen nicht nur ermöglicht, sondern bleibend verwirklicht. Im Zum-Glauben-Kommen des Abraham erweise sich Gott als der Schöpfer , der das Nichtseiende ins Dasein ruft.
M. M. S. Ibita 2009, 679-690 befasst sich mit der Verwendung von Gen 15,6 in Röm 4. Zunächst gibt er einen Überblick über den historischen und literarischen Kontext von Röm 4 und beleuchtet den literarischen und historischen Kontext von Gen 15,6 im AT, dann nimmt er näher in den Blick, wie Paulus Gen 15,6 in Röm 4 verwendet, und zieht abschließend diesbezüglich Schlüsse.
T. H. Tobin 1995, 437-452 vergleicht die Darstellung Abrahams im Galaterbrief mit derjenigen im Römerbrief. Im Galaterbrief (3-4) erscheine Abraham nur als „Vater“ der zum Christusglauben gekommenen Heiden, nicht jedoch als „Vater“ der Juden. Im Römerbrief (4) dagegen sei Abraham sowohl „Vater“ der heidnischen Gläubigen als auch der jüdischen Gläubigen. Im Römerbrief komme Paulus bezüglich der Rechtfertigung ohne Gesetzesgehorsam zwar zu den gleichen Schlüssen wie im Galaterbrief, allerdings auf weniger kontroverse Weise.
P. B. Likeng 1980, 153-186 versucht zu erhellen, welche Verbindung Paulus zwischen Abraham und dessen „Kindern“ sowie zwischen Abrahams Glauben und dem seiner „Kinder“ zieht. Zu diesem Zweck unterzieht er 4,1-25 einer methodischen Analyse und geht auf bisher vorgebrachte Auslegungen ein.
M. Cranford 1995, 71-88 hinterfragt die gängige These, dass Abraham von Paulus als ein Beispiel des christlichen Glaubens dargestellt werde. Eine solch starke Betonung des Glaubens sei für jüdische und judenchristliche Leser kaum einsichtig. Vielmehr werde anhand von Abraham gezeigt, warum Heiden(christen) als Glieder des Gottesvolkes angesehen werden können. Heiden(christen) hätten Anteil am Bund, weil auch sie Kinder Abrahams seien.
Während die große Mehrheit der Ausleger Jak 2,14-26 für eine mehr oder weniger polemische Reaktion auf Paulus‘ Theologie halte, versucht K. Haacker 1998, 177-188 zu zeigen, dass das in Jak 2,14 behandelte Thema nicht von der paulinischen Theologie, sondern von der synoptischen Tradition stamme. Der Jakobusbrief enthalte keine polemische Reaktion auf die paulinische Rechtfertigungslehre, sondern es gebe vielmehr ein Fortschreiten der jüdischen Tradition, die Jakobus in aller Unschuld teile und repräsentiere, hin zur neuen Deutung der Person Abrahams durch den Apostel Paulus. Wenn Jak 2,14-26 wirklich gegen eine möglicherweise bekannte Persönlichkeit des Urchristentums polemisiere, dann sei am ehesten an Petrus zu denken, der sowohl Repräsentant der synoptischen Tradition als auch Mann des Glaubens sei, allerdings nicht immer ein Mann, der auch tatsächlich dem Glauben entsprechend handelt.
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Beobachtungen: Abraham ist leiblicher „Urvater“ der Juden. Aus der Aussage, dass Abraham der Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet wurde, folgt somit noch nicht, dass die Seligpreisung auch auf die Heiden gemünzt ist. Nahe liegt nämlich zunächst einmal die Interpretation, dass den Juden der Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet wird. Um einen Bezug auch zu den Heidenchristen herstellen zu können, muss Abraham daher als Glaubensvorbild auch der Heiden erscheinen.
Nach jüdischer Interpretation ist Abraham gerechter Jude - genau genommen: Proselyt. Abraham war nämlich nicht von Geburt an Jude, sondern wurde es erst später. Seiner Herkunft nach war er Chaldäer aus dem Raum Ur in Mesopotamien, also Heide. Erst im Alter von 99 Jahren beschnitt Abraham auf Geheiß Gottes seine eigene Vorhaut und am gleichen Tage auch diejenige seines Sohnes Ismael und aller seiner Sklaven (vgl. Gen 17,23-27). Von nun an war Abraham nach außen hin Jude und nicht mehr Heide („Gottloser“; vgl. Röm 4,5). Allerdings war Abraham auch vor der Beschneidung schon „Gottesfürchtiger“, denn sonst hätte er nicht den Verheißungen des späteren Gottes Israels, JHWH, geglaubt und ihm wäre auch nicht der Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet worden. Paulus lässt diesen Aspekt aber außer acht und verbindet Abrahams Judesein ausschließlich mit der Beschneidung. Folglich war Abraham die 99 Jahre davor Heide. In dieser Zeit des Heideseins wurde Abraham sein Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet (vgl. Gen 15,6).
Weiterführende Literatur: Einen Forschungsüberblick zur Frage, wie das Verb „logizomai“ („anrechnen“) zu verstehen ist, bietet M. F. Bird 2004, 261-267. Er vertritt selbst die Meinung, dass Röm 4 nicht behaupte, dass man aufgrund der zugeschriebenen Gerechtigkeit Christi gerechtfertigt werde oder dass Gott den Glauben als Bundesbefolgung anrechne. Vielmehr rechne Gott den Glauben als Bedingung für die Rechtfertigung an und rechtfertige Gläubige aufgrund ihrer Einheit mit Christus.
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Beobachtungen: Zunächst empfing Abraham im Zustand der Unbeschnittenheit die Glaubensgerechtigkeit, dann empfing er aber darüber hinaus auch ein Zeichen, nämlich das der Beschneidung. Es handelt sich zwar um ein äußeres Zeichen, doch ist dieses vor allem eines für Abraham selbst, weil es seinen Ort im gewöhnlich verdeckten Intimbereich hat. Die Beschneidung ist eigentlich ein Zeichen des Bundes zwischen Abraham (und seinen leiblichen Nachkommen) und seinem Gott JHWH (vgl. Gen 17,11). Mit diesem Bund ist die Verpflichtung auf die in der Tora niedergeschriebenen Satzungen und Gebote verbunden. Paulus lässt diese Verpflichtung aber außer acht und betont stattdessen den Glauben. Die Glaubensgerechtigkeit ist nicht zwingend an die Beschneidung gebunden, sondern die Beschneidung besiegelt die Glaubensgerechtigkeit nur, hat also die Funktion einer Vergewisserung. Vergewissert wird aber nicht allgemein die Glaubensgerechtigkeit, sondern ganz konkret die Glaubensgerechtigkeit in der Vorhaut. Paulus unterstreicht also, dass die Glaubensgerechtigkeit nicht die Beschneidung voraussetzt, sondern umgekehrt die Beschneidung die Glaubensgerechtigkeit.
Abraham ist aufgrund der Beschneidung gleich in dreifacher Hinsicht „Vater“. Erstens ist er leiblicher („dem Fleische nach“) „Urvater“ der Juden (vgl. Röm 4,1). Dies thematisiert Paulus jedoch nicht weiter, weil es keine Heilsrelevanz hat. Zweitens ist er „Vater“ aller derer, die im Zustand der Vorhaut glauben. Er ist also „Vater“ der unbeschnittenen Christen. Da die Glaubensgerechtigkeit nicht von der Beschneidung abhängt, brauchen sich die Heidenchristen nicht wie ihr „Vater“ beschneiden zu lassen. Die Beschneidung ist ja „nur“ eine persönliche Vergewisserung für Abraham, dass er im Zustand der Unbeschnittenheit die Glaubensgerechtigkeit empfangen hat.
Weiterführende Literatur: Mit der paulinischen Theologie im Kontext der heiligen Schriften Israels befasst sich H. Frankemölle 2002, 332-357, der auf S. 347-348 auf Röm 4,11 eingeht. Er vertritt die These, dass Paulus keine „biblische“ Hermeneutik und auch keine reflektierte Tora-Hermeneutik – Tora verstanden als die für Paulus heiligen Schriften Israels, die weit über den Pentateuch hinausgingen – entwerfe. Paulus lege die heiligen Schriften nicht aus, sondern rezipiere sie selektiv und aktualisiere die ausgewählten Konzeptionen in seiner adressatenorientierten Theologie. Zu Röm 4,11: Wie der Hinweis auf die Universalität Gottes in Röm 3,29 so ziele auch der Rückgriff auf Abraham und seine Funktion für die Erwählungsgeschichte Israels auf die Indifferenz von Beschneidung und Unbeschnittensein, wie die Interpretation der Funktion Abrahams als „Vater aller“ in 4,11-12 belege. Darum könne Abraham nicht allein als Vater der Christen verstanden werden, folglich könne dieses Kapitel auch nicht christozentrisch verengt als Behandlung des Themas „Gerechtigkeit aus Glauben an Jesus Christus“ gelesen werden.
Zur „apokalyptischen“ Konstruktion einer kollektiven Identität bei Paulus siehe E. W. Stegemann 2009, 29-54, der auf Röm 1,3-4 (Sohn Davids und Sohn Gottes: Ein Gründungsmythos), 4,1-12 (Abraham als irdischer Ahnherr) und 9-11 (Same Abrahams und Abrahams Kinder) eingeht.
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Beobachtungen: Drittens ist Abraham „Vater der Beschneidung“, also auch „Vater“ der Juden. Mit der Beschneidung ist die Verpflichtung verbunden, die in der Tora niedergeschriebenen Satzungen und Gebote zu halten. Diesen Gesetzesgehorsam meint wahrscheinlich die Formulierung „die aus [der] Beschneidung [leben]“. Nun ist Abraham aber nicht „Vater der Beschneidung“ für diejenigen, die bloß gesetzesgehorsam sind, aber nicht an den Messias Jesus Christus und die mit ihm verbundenen Heilsgeschehnisse glauben. Vielmehr ist er nur für diejenigen Juden „Vater der Beschneidung“, die auch den Fußstapfen des Glaubens des unbeschnittenen Abraham folgen, also Abraham als Glaubensvorbild anerkennen. Dies tun nur die Judenchristen.
Problematisch bezüglich dieser Interpretation Abrahams als „Vater der Beschneidung“ ist, dass das wiederholte „tois“ („für die, die...“) zwei Gruppen von Personen annehmen lässt: Zum einen die, die nicht bloß aus der Beschneidung leben, zum anderen die, die den Fußstapfen des unbeschnittenen Abraham folgen. Die erste Gruppe wären Juden, die nicht nur gesetzestreu sind, sondern darüber hinaus noch etwas tun/sind. Am ehesten ist daran zu denken, dass sie christusgläubig sind. Die zweite Gruppe wären auf jeden Fall alle unbeschnittenen Christusgläubigen, vielleicht aber darüber hinaus auch alle beschnittenen Christusgläubigen. Aber wie kann Abraham ein „Vater der Beschneidung“ für Unbeschnittene sein? Dass Paulus hier ohne jeglichen Hinweis plötzlich eine Beschneidung im geistlichen Sinn im Blick haben sollte, ist unwahrscheinlich. Und wieso sollte Paulus auf solch unklare Weise zwei Personengruppen nebeneinander stellen, zumal die erste eine Teilgruppe der zweiten sein könnte? Zu bedenken ist, dass mit Ausnahme des wiederholten „tois“ nichts darauf hinweist, dass der Apostel zwei Personengruppen im Blick hat und nicht nur eine. Angesichts all dieser Ungereimtheiten scheint angebracht zu sein, nur von einer Gruppe Menschen auszugehen, deren „Vater der Beschneidung“ Abraham ist. Das wiederholte „tois“ wäre zwar grammatisch nicht ganz korrekt, würde jedoch zum Schreibstil des Apostels passen, der oftmals kompliziert und aufgrund von Emotionsausbrüchen, Gedankensprüngen, Abschweifungen und Wiederholungen an verschiedenen Stellen grammatisch ungereimt ist.
Die Kernaussage von V. 11-12 ist also: Abraham ist der geistliche „Vater“ aller Christusgläubigen, seien sie unbeschnitten oder beschnitten (vgl. Gal 3,7; diesem Vers geht unmittelbar ein Zitat von Gen 15,6 voraus!).
Weiterführende Literatur: J. Swetnam 1980, 110-115 befasst sich mit dem Problem der Stellung des Artikels „tois“ („denen“) vor „stoichousin“ („die folgen“), wie sie von nahezu allen Textzeugen geboten, aber von den Auslegern für unverständlich gehalten werde. Meist werde bei der Deutung der entsprechende Artikel ausgelassen und angenommen, dass Paulus aussage, dass Abraham die Beschneidung als Zeichen und Siegel gegeben worden sei, damit er „Vater“ zweier Gruppen sei: a) „Vater der Unbeschnittenen“, also „Vater“ derjenigen, die gläubig sind, ohne beschnitten zu sein (V. 11); b) „Vater der Beschnittenen“, also „Vater“ derjenigen, die beschnitten sind und glauben (V. 12). Es werde also gemäß dieser Deutung sorgfältig zwischen Heidenchristen und Judenchristen unterschieden. Übersetze man jedoch den Artikel „tois“ vor „stoichousin“ mit (Übersetzung: „…and father of the circumcised, for those not only who are circumcised but also for those who follow the example of the faith which our father Abraham had before he was circumcised“), dann sei in V. 12 von zwei verschiedenen Gruppen statt nur von einer die Rede, nämlich zum einen von denen, die beschnitten sind, und zum anderen von denen, die den Fußstapfen des Glaubens unseres Vaters Abraham in [seiner] Vorhaut folgen. Beide Gruppen seien Christen, denn der eine Titel Abrahams „Vater der Beschnittenen“ beziehe sich auf beide Gruppen. Aber die besagte Beschneidung sei die geistliche Beschneidung aufgrund des Glaubens, wie sie sowohl denen, die körperlich beschnitten sind, als auch denen, die körperlich unbeschnitten sind, widerfahre. Abrahams körperliche Beschneidung wäre demnach nur das Zeichen und Siegel dieses Glaubens. Dem Begriff „Beschneidung“ in V. 12 kämen zwei Bedeutungen zu, nämlich erstens die geistliche („Vater der Beschneidung“) und zweitens die körperliche Bedeutung („aus Beschneidung“). J. Swetnam plädiert für die Beibehaltung des Artikels „tois“ vor „stoichousin“. Paulus beanspruche somit nicht nur Abraham für die Heidenchristen, sondern auch die (geistliche) Beschneidung.
Literaturübersicht
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Adam, Jens; Paulus und die Versöhnung aller. Eine Studie zum paulinischen Heilsuniversalismus, Neukirchen-Vluyn 2009
Bird, Michael F.; Incorporated Righteousness: A Response to Recent Evangelical Discussion concerning the Imputation of Christ’s Righteousness in Justification, JETS 47/2 (2004), 253-275
Cranford, Michael; Abraham in Romans 4: The Father of All Who Believe, NTS 41/1 (1995), 71-88
Frankemölle, Hubert; Die paulinische Theologie im Kontext der heiligen Schriften Israels: „So viele Verheißungen Gottes, in ihm das Ja“ (2 Kor 1.20), NTS 48/3 (2002), 332- 357
Guerra, Anthony J.; Romans 4 as Apologetic Theology, HTR 81/3 (1988), 251-270
Haacker, Klaus; Justification, salut et foi. Étude sur les rapports entre Paul, Jacques et Pierre, ETR 73/2 (1998), 177-188
Ibita, M. Maricel S.; „Abraham believed God, and it was reckoned to him as righteousness“: Paul’s Usage of Gen 15,6 in Romans 4, in: U. Schnelle [ed.], The Letter to the Romans (BETL 226), Leuven 2009, 679-690
Likeng, P. Bitjick, La paternité d’ Abraham selon Rom 4,1-25, RAT 4/8 (1980), 153-186
Lincoln, Andrew T.; Abraham Goes to Rome: Paul’s Treatment of Abraham in Romans 4, in: M. J. Wilkins, T. Paige [eds.], Worship, Theology and Ministry in the Early Church (JSNTS 87), FS R. P. Martin, Sheffield 1992, 163-179
López Sojo, Dagoberto; “Abraham, padre de todos nosotros...”. Análisis estilístico- argumentativo de Rm 4,1-25. Abraham, paradigma de fe monoteísta (Cahiers de la Revue biblique 64), Paris 2005
Stegemann, Ekkehard W.; Zur “apokalyptischen” Konstruktion einer kollektiven Identität bei Paulus, in: M. Oeming [Hrsg.], Alttestamentliche Wissenschaft und kirchliche Praxis, FS J. Kegler, Münster 2009, 29-54
Swetnam, James; The Curious Crux at Romans 4,12, Bib. 61/1 (1980), 110-115
Tobin, Thomas H.; What Shall We Say that Abraham Found? The Controversy behind Romans 4, HTR 88/4 (1995), 437-452